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STRAFJUSTIZ »Dafür sind wir Richter«

In Erfurt stand eine junge Frau vor Gericht, die drei Neugeborene getötet hat. Warum tat sie es? Das Gericht hat um eine Antwort gerungen. Von Gisela Friedrichsen
aus DER SPIEGEL 39/2001

Ihr Verteidiger hatte auf acht Jahre gehofft. Doch Antje L., 26, wird die elfeinhalb Jahre Freiheitsstrafe, zu der das Landgericht Erfurt sie in der vergangenen Woche verurteilte, nicht anfechten. Sie war bereit, jedes Urteil hinzunehmen. Nach der Verkündung sagte sie zu ihrem Anwalt: »Ich hätte eine noch viel härtere Strafe verdient.« Die Anklage, deren Strafantrag die Richter nur um ein halbes Jahr unterschritten, hat keinen Anlass zur Revision.

Zwei Kinder von Antje L. sind am Leben: Nicole, 1993 geboren, und die im Jahr 2000 zur Welt gekommene Miriam (beide Namen geändert). Dazwischen, 1994, 1998 und 1999, hat sie aber weitere Kinder geboren, ein Mädchen und zwei Jungen. Diese drei hat sie, anders als das erste und das letzte Kind, zu Hause heimlich selbst entbunden - und sofort getötet.

Die Anklageschrift fasst das Entsetzliche in Worte. Etwa Fall eins: »Das Kind wurde nachts geboren, es handelte sich um eine normale und spontane Geburt im Bett. Sofort nach der Geburt nahm die Angeschuldigte eine Schere und durchtrennte die Nabelschnur. Nachdem das Mädchen zu schreien anfing, geriet die Angeschuldigte in Panik, nahm ein Kopfkissen ihres Bettes und drückte dies auf das Gesicht des Kindes, um dies zu ersticken. Als der Angeschuldigten das Ersticken mit dem Kopfkissen nicht gelang, stülpte sie eine Plastiktüte über den Kopf des Kindes, welche sie noch am Hals festband. Da das Kind nunmehr zwar aufhörte zu schreien, sich jedoch noch immer bewegte, legte die Angeschuldigte beide Hände um den Hals des Kindes und würgte dieses so lange, bis der Tod eintrat.«

Den in Handtücher gewickelten Leichnam packte sie in eine Reisetasche und stellte diese in die Garage ihres Elternhauses. Wochen später legte sie die Tasche an einen Feldrand, wo sie 1995 von Passanten gefunden wurde.

Das nächste Kind erstickte sie und versteckte es im Kofferraum ihres Autos. Mehrere Tage fuhr sie herum, ehe sie das Paket ablegte. Dieses Kind wurde nie gefunden.

Das dritte Kind ertränkte sie in der Badewanne, verbarg es, luftdicht in Plastik verpackt, in einer Reisetasche unter blutiger Wäsche. Diese Tasche stellte sie in den Keller. Erst 14 Monate später öffnete ihr ahnungsloser Freund, der Kindsvater, das Behältnis. Den bräunlichen, teils schon flüssigen Inhalt hielt er für ein totes Kaninchen und warf den gesamten Tascheninhalt in den Müll.

Antje L. aber holte das Bündel wieder heraus. Und wieder fuhr sie damit durch die Gegend, ehe sie es in der Nähe von Erfurt auf dem Lande ablegte. Im Dezember 2000 wurde es gefunden und konnte, da die Mutter durch eine DNS-Analyse identifiziert wurde, beerdigt werden.

Antje L. ist gebürtige Erfurterin. Sie kommt, wie man leichtfertig sagt, aus geordneten Verhältnissen. Sie hat Vater und Mutter und einen älteren Stiefbruder, sie besuchte in der DDR zehn Jahre lang die Oberschule und begann 1991 eine Lehre als Hotelfachfrau. Eigentlich hatte sie Lehrerin werden wollen. Doch in der Zeit nach der Wende wurden Lehrer im Osten reihenweise entlassen. Bei der Berufsberatung empfahl man ihr Buchhaltung oder Hotelfach. Also Hotelfach, weil sie, wie ihre Mutter sagt, nicht »Bleistiftschwinger oder Sesselfurzer« werden wollte.

Im Osten aber gab es kaum Lehrstellen. Also ging die 16-Jährige nach St. Goar in einen Familienbetrieb. »Es tat mir sehr weh«, sagt die Mutter, »aber für meine Tochter war es eine Chance.«

Antje machte ihre Sache gut. Man war zufrieden mit ihr, sie galt als fleißig, aufgeschlossen, hilfsbereit. Als der Mann ihrer Chefin stirbt, hilft sie der, so weit es ihre Möglichkeiten überhaupt zulassen. »Das werde ich ihr nie vergessen«, sagte die ältere Dame als Zeugin, »sie motivierte mich wieder. Ich frage mich ständig, wie kommt ein Mensch so weit. Man fühlt sich doch verantwortlich!«

Antje L., angeklagt wegen Kindestötung (1994 galt noch der Paragraf 217) und zweifachen Totschlags, weint nicht oft im Gerichtssaal. Und wenn, dann lautlos und fast unmerklich. Tränen sucht sie zu verbergen, dreht sich weg. Bei der Aussage ihrer früheren Lehrherrin aber schluchzt sie und verbirgt den Kopf auf dem Tisch. Die Zeugin geht auf sie zu und nimmt sie in den Arm. Dann erst verlässt sie den Saal.

Die Befragung der Angeklagten, warum sie drei ihrer Kinder getötet hat, ist mühsam und beantwortet nicht die Fragen, die Menschen umtreibt, die sich mit dem Fall befassen. Das erste Kind, Nicole, bekam sie noch während der Lehre in St. Goar. Ihre Eltern waren zwar nicht gerade begeistert, doch ihre Mutter erklärte sich sofort bereit, das Baby zumindest so lange zu sich zu nehmen, bis Antje mit ihrer Ausbildung fertig ist.

Überhaupt die Mutter: Sie packt an, wo es Not tut. Sie hilft, sie regelt, sie treibt voran. Sie ist tüchtig, lebenserfahren und entschlossen. »Sie ist ein General«, sagt Antje L. vor Gericht. »Sie bestimmt alles.«

Aus Angst vor der Mutter habe sie die Schwangerschaften vertuscht. In Panik sei sie gewesen bei den Geburten.

Als die Mutter das erste Mal nach Antje L.s Festnahme mit ihr sprechen darf, sagt die Tochter, sie habe damals keinen anderen Ausweg gesehen. Aber eigentlich seien die Gründe nebensächlich, sie wisse es selbst nicht. Auch vor Gericht sagt Antje L. immer wieder: Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. »Wenn ich Ihnen meine Angst und Panik klar machen könnte«, sagt sie einmal zum Vorsitzenden, »dann wären nicht nur Nicole und Miriam, sondern auch alle anderen auf der Welt!«

Holger Pröbstel, der Vorsitzende Richter der 3. großen Jugendstrafkammer am Landgericht Erfurt, ist 41 Jahre alt. Schon mit 33 wurde er Vorsitzender. Gewiss werden ihn manche seiner Kollegen, die älteren, mit Unbehagen betrachten. Er lässt nichts außer Acht, was Pflicht eines Vorsitzenden ist, und er hat die Gabe, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Denn er ringt um die richterliche Überzeugung. Er ringt mit sich und seiner Kammer, mit Staatsanwalt und Verteidiger, mit der Angeklagten und den Zeugen. Er verabscheut Mauscheleien: »Meine Angeklagten müssen wissen, wie es steht.« In ihm wird ein neues Bild vom Richter deutlich - weniger unnahbar, dafür, bei aller Bestimmtheit, immer auch mitfühlend - das bisweilen auch anderswo schon in den Gerichtssälen aufscheint.

Im März 2000, als in Chemnitz die »Eismutter« zu dreizehneinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde - auch sie eine Frau, die drei Neugeborene getötet hatte - handelten die Beteiligten das Urteil hinter den Kulissen aus. Es war ein Schachern, ein Pressen bis an den Rand von gegenseitiger Erpressung. »So etwas wollten wir nicht«, sagt Pröbstel, »obwohl die Versuchung groß war. Aber man stiehlt sich nicht aus der Verantwortung. Das Urteil muss unserer Überzeugung entsprechen. Dafür sind wir Richter.«

Die »unermesslich schwere Aufgabe« des Richtens im Fall von Antje L.: »Wir haben versucht, fair und gerecht zu sein. Doch vielleicht ist auch unser Urteil unvollkommen. Wir haben nicht herausgefunden, warum Antje L. getötet hat«, so Pröbstel. »Vielleicht hätte eine andere Kammer anders entschieden.«

Fragen des Gerichts, die Anklagen sind: Was sind das für Zeiten, in denen eine junge Frau drei Schwangerschaften verheimlichen zu müssen glaubt? In welch einer Umwelt muss sie gelebt haben? Wie kommt es, dass eine Tochter es nicht wagt, ihrer Mutter zu sagen, wenn sie schwanger ist? Was sind das für junge Männer, die es nicht kümmert, ob ihre Freundin schwanger ist? Was ist das für ein Arbeitsumfeld, in dem nur getuschelt wird? »Wenn jemand mit Antje L. ernsthaft gesprochen hätte - vielleicht hätte sie dann nicht getötet«, so der Vorsitzende.

Zum Höhepunkt der Hauptverhandlung wird die Aussage der Mutter der Angeklagten. Regina L., 52, hatte bis dahin von ihrem Recht, nicht auszusagen, Gebrauch gemacht. Der Vorsitzende konnte sich also nicht auf sie vorbereiten. Doch nun spricht sie. Und dem Vorsitzenden gelingt es, aus der Befragung einer Zeugin ein Gespräch werden zu lassen, wie ich es in einem Gerichtssaal noch nicht erlebt habe.

Man möchte dieses Gespräch in vollem Umfang wiedergeben. Da legt eine Mutter öffentlich Rechenschaft ab um ihres Kindes willen. Sie hat herauszufinden versucht, wie die Sprachlosigkeit zwischen ihr und der Tochter entstand, wie das Dunkel hereinbrach, aus dem heraus es zu den Tötungen kam.

Sie gibt sich eine Mitschuld. »Natürlich habe ich ihr nach der ersten Schwangerschaft vorgehalten, dass sie eines Tages unter der Brücke landen wird, dass sie sich ihr Leben versaut, dass alles den Bach runtergeht, wenn es noch einmal passiert. Sie wusste schon, wie ich reagiert hätte! Ich weiß, dass ich sehr dominant bin, dass ich so einen Ton an mir habe. Ich hab halt geglaubt, ich muss unbedingt meinen Kindern den Weg zeigen, den sie gehen sollen.«

Wir wissen nicht, welches Bild unsere Kinder von uns haben. Wir wissen nicht, wie Lob und Kritik bei ihnen ankommen, wie unser Verhalten auf sie wirkt. Wir wissen nicht, ob wir den Kindern tatsächlich helfen, wenn wir helfen wollen. »Als Eltern meint man ja immer, alles von den Kindern zu wissen. Dabei weiß man überhaupt nichts«, sagt der Vorsitzende. Und: »Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie hier ausgesagt haben. Wir haben großen Respekt. Ich weiß nicht, ob ich es fertig gebracht hätte, mich hier hinzustellen und so auszusagen.«

Er wendet sich an Antje L. »Hat Sie die Aussage Ihrer Mutter überrascht?« Sie zögert einen Augenblick. »Ich habe bis heute nicht gewusst, dass sie so zu mir steht. Ich hatte eine ganz andere Vorstellung von meiner Mutter.« Die beiden haben zueinander erst jetzt gefunden - durch die Taten.

Der Psychiater Hans-Peter Volz ist dem Gericht keine Hilfe. Er begradigt die Persönlichkeitsstörung der Angeklagten - Antje L. ist eine zutiefst unsichere Frau, die sich hässlich, ungeliebt und unfähig fühlt. Er hält diese Störung für »nicht delikttypisch« und eine Frau auch unter der Geburt (selbst wenn sie das heimlich tut und niemand etwas merken darf) noch für steuerungsfähig. »Wenn jemand steuerungsunfähig ist, dann kann er auch anderes nicht. Aber sie hat ja noch anderes gekonnt - töten, die Spuren beseitigen, auftreten danach, als sei nichts gewesen.«

In den siebziger Jahren begutachtete der inzwischen verstorbene Psychologe Herbert Maisch eine junge Frau, die allein entbunden und das Kind dann getötet hatte: »Wissenschaftlich ist es unmöglich, eine solche affektive Erregung isoliert zu betrachten beziehungsweise zu analysieren. Sie muss hier in engem Zusammenhang mit den speziellen sozialen, psychischen und zeitlichen Bedingungen einer Grenzsituation des Lebens gesehen werden ...« Gegen eine Affekttat sprächen weder die »situationsgerechten« Tathandlungen (Volz sprach von »effizienten« Tötungen) noch die Nachhandlungen.

Zweieinhalb Stunden lang befragt der Vorsitzende den Sachverständigen, der sein Gutachten in gerade 15 Minuten vorgetragen hat. »Es hatte auf jede Frage eine Antwort«, sagte Pröbstel im Urteil.

Natürlich hat Antje L. gewusst, dass sie eines Tages gebären würde. Sie hat die Schwangerschaften nicht verdrängt. Sie hat nur immer wieder die Entscheidung hinausgeschoben, hat ihren Leibesumfang mit hormonellen Störungen oder einer Zyste im Bauch erklärt. Sie wollte immer Kinder, sie wollte auch diese Kinder. Verteidiger Udo Lüttge: »Sie hatte nicht die Kraft, sich zu offenbaren.« Lüttge schwächte nichts ab. Er stand zu ihr. Er hat sie verteidigt.

Sie habe auf ein Wunder gehofft, sagt sie einmal. Offenbar wäre es für sie ein Wunder gewesen, wenn ihr einer der beiden Kindsväter mal das Gefühl vermittelt hätte, zu ihr zu stehen.

Das Urteil der Erfurter Kammer ist nicht milde. »Manche Strafkammern tun Menschenleben mit ein paar Jährchen ab«, sagte der Vorsitzende. »Doch unsere Entscheidung ist: Wenn ein Mensch lebt, hat er Anspruch auf unbedingten Schutz.«

Die Zukunft Antje L.s ist nicht ohne Hoffnung. Es sei bei ihr nicht ausgeschlossen, sagt der Vorsitzende, dass sie nach Verbüßung der Halbstrafe auf freien Fuß kommt. »Ich wünsche Ihnen ganz persönlich alles Gute«, sagt er zu ihr, »und dass Sie einmal die intakte Familie haben werden, die Sie sich immer wünschten.«

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