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Daheim wenn das Laub fällt

aus DER SPIEGEL 14/1964

3. Fortsetzung

Ein einziger britischer Soldat ...

Der Gedanke einer gemeinsamen militärischen

Planung zwischen England und Frankreich entstand im Jahre 1905, als Rußlands Niederlagen im Fernen Osten durch die Japaner seine militärische Schwäche enthüllten und das europäische Gleichgewicht ins Wanken brachten. Blitzartig erkannten in diesem Augenblick die Regierungen der Völker, daß Frankreich ohne einen Verbündeten würde kämpfen müssen, wenn jemand diesen Zeitpunkt wählte, um einen Krieg vom Zaun zu brechen.

Die deutsche Regierung machte sofort die Probe aufs Exempel. Drei Wochen nach der russischen Niederlage bei Mukden im Jahre 1905 provozierte sie Frankreich durch das sensationelle Erscheinen des Kaisers in Tanger am 31. März. Das bedeutete für die Franzosen, daß Deutschland sondierte, ob die Stunde gekommen sei, die Waffen wieder aufzunehmen, und daß es den Zeitpunkt dafür, wenn nicht gleich, so doch bald finden würde...

Auch England reagierte auf die Herausforderung von Tanger. Die Armee wurde damals gerade durch Lord Eshers Ausschuß, gründlich reorganisiert und mit einem Generalstab nach bewährtem Muster ausgestattet. Gerade in dem Augenblick, als der deutsche Kaiser etwas nervös auf einem allzu temperamentvollen Schimmel durch die Straßen Tangers ritt, beschäftigte sich der Stab mit einem theoretischen Kriegsspiel; es ging von der Annahme aus, die Deutschen kämen in einer weit ausholenden Umfassungsbewegung nördlich und westlich der Maas durch Belgien. Die Übung auf der Karte bewies dem Leiter der militärischen Operationen, General Grierson, und seinem Adjutanten, General Robertson, daß wenig Aussicht bestand, die Deutschen aufzuhalten, wenn nicht britische Streitkräfte »rasch und in ausreichender Zahl auf der Bildfläche erschienen«.

Damals dachten die Engländer an ein selbständiges Vorgehen in Belgien. Balfour, der konservative Premierminister, forderte sogleich einen Bericht darüber an, wie rasch vier Divisionen im Fall einer deutschen Invasion mobilisiert und in Belgien an Land gehen könnten. Mitten in der Krise, als Grierson und Robertson auf dem Kontinent weilten und das Terrain entlang der französisch-belgischen Grenze prüften, trat Balfours Regierung zurück.

Auf allen Seiten erwartete man mit nervöser Spannung, daß Deutschland die russische Katastrophe benutzen werde, um im folgenden Sommer den Krieg vom Zaun zu brechen. Noch hatte man keine Pläne für eine gemeinsame englisch-französische Militäraktion gemacht. Da man in England mit den Wahlen zum Unterhaus zu tun hatte und die Minister wegen des Wahlkampfes im ganzen Land unterwegs waren, sahen sich die Franzosen gezwungen, ihre Fühler inoffiziell auszustrecken.

Der französische Militärattaché in London, Major Huguet, nahm Kontakt auf mit einem aktiven und eifrigen Mittelsmann, Oberst Repington, dem Mitarbeiter der »Times« für militärische Fragen, der die Verhandlungen mit Billigung Lord Eshers eröffnete. In einem der französischen Regierung vorgelegten Memorandum fragte Oberst Repington: »Dürfen wir voraussetzen, daß Frankreich grundsätzlich kein belgisches Gebiet verletzen wird, außer wenn es durch eine vorausgegangene Grenzverletzung von seiten Deutschlands dazu gezwungen wird?«

»Unbedingt«, erwiderte der Franzose.

»Sind sich die Franzosen bewußt«, fragte der Oberst, der mit einer Prognose zugleich auch eine Warnung aussprechen wollte, »daß jede Verletzung der belgischen Neutralität uns automatisch zur Einhaltung unserer Bündnispflichten aufruft?« Keine britische Regierung hat sich bis zur Garantie-Erklärung an Polen im Jahre 1939 jemals in der Geschichte verpflichtet, auf ein Ereignis »automatisch« zu reagieren, aber dem Oberst gingen die Pferde durch, und so schoß er weit übers Ziel hinaus.

»Frankreich hat das immer angenommen«, war die etwas verblüffende Antwort, »hat aber niemals eine offizielle Bestätigung erhalten.«

Durch weitere Suggestivfragen stellte der Oberst fest; daß Frankreich nicht gerade für ein selbständiges Vorgehen Englands in Belgien war und ein gemeinsames Kommando - Frankreich zu Lande, England zur See - für »absolut unerläßlich« hielt.

Inzwischen waren die Liberalen ans Ruder gekommen. Traditionsgemäß waren sie gegen Krieg und außenpolitische Abenteuer und vertrauten darauf, daß guter Wille den Frieden retten könne. Ihr neuer Außenminister war Sir Edward Grey, der einen Monat nach der Amtsübernahme seine Frau verloren hatte. Der neue Kriegsminister, Richard Haldane, war ein Anwalt mit einer leidenschaftlichen Vorliebe für deutsche Philosophie; auf die Frage der Militärs im Rat, wie er sich die Armee vorstelle, gab er zur Antwort: »Im Sinne Hegels.« »Unser Gespräch versandete daraufhin«, berichtete er.

Grey, an den die Franzosen sich behutsam wandten, ließ erkennen, daß er nicht die Absicht habe, sich von irgendwelchen Zusicherungen. »zurückzuziehen«, die sein Vorgänger Frankreich gegeben hatte. Als er in seiner ersten Amtswoche vor eine bedeutsame Entscheidung gestellt wurde, fragte er Haldane, ob Abmachungen beständen, nach denen die Engländer im Ernstfall Schulter an Schulter mit den Franzosen kämpfen müßten. Haldane sah in seinen Akten nach, fand aber nichts. Seine Nachforschungen ergaben, daß es zwei Monate dauern würde, bis vier Divisionen auf dem Kontinent ständen. Grey machte sich Gedanken darüber, ob es nicht an der Zeit sei, als »militärische Vorsichtsmaßnahme« zwischen den beiden Generalstäben Kontakte herzustellen, ohne daß Großbritannien sich dadurch

irgendwie festlege. Haldane fragte den Premierminister Sir Henry Campbell-Bannerman um Rat.

Trotz seiner Parteibindungen war Campbell-Bannerman so frankophil, daß er bisweilen einen Tagesausflug mit dem Postboot nach Calais machte, nur um dort zu lunchen. So gab er seine Zustimmung zu Stabsgesprächen, wenn er auch befürchtete, daß auf »gemeinsame Vorbereitungen« zuviel Nachdruck gelegt werden könne. Seiner Meinung nach werde man zwar, wie es dann auch geschah, »einer ehrenvollen Verständigung sehr nahekommen«, damit aber die angenehme Unverbindlichkeit der Entente zerstören.

Um derartige peinliche Folgen zu vermeiden, ließ Haldane General Grierson und Major Huguet ein Schreiben unterzeichnen, in dem festgestellt wurde, daß die Gespräche Großbritannien nicht verpflichteten. Nachdem diese Klausel unter Dach und Fach war, genehmigte er den Beginn der Gespräche. Daraufhin überließen er, Grey und der Premierminister die weitere Entwicklung »aus Zuständigkeltsgründen« den Militärs, ohne das restliche Kabinett zu informieren.

Von jetzt an nahmen die Generalstäbe die Sache in die Hand. Britische Offiziere, unter ihnen Sir John French, ein Kavalleriegeneral, der sich im Burenkrieg einen Namen gemacht hatte, beteiligten sich im selben Sommer an den französischen Manövern. Grierson und Robertson besuchten zusammen mit Major Huguet nochmals die Grenze. Im Einvernehmen mit dem französischen Generalstab wählten sie Landungsbasen aus sowie Aufmarschgebiete längs einer Front von Charleroi nach Namur und bis in die Ardennen hinein, wobei sie von einem deutschen Einmarsch durch Belgien ausgingen.

Der »Esher-Ausschuß« jedoch sträubte sich entschieden dagegen, die britische Armee lediglich als Trabanten der französischen verwendet zu sehen; so schlief nach Abklingen der durch die Marokkokrise entstandenen Spannung die im Jahre 1905 begonnene gemeinsame Planung wieder ein. General Grierson wurde abgelöst.

Die herrschende Meinung, deren Repräsentant Lord Esher war, neigte zu einem selbständigen Eingreifen in Belgien, weil die Verteidigung Antwerpens und des angrenzenden Küstengebiets im unmittelbaren Interesse Englands lag. Sir John Fisher dagegen, der Erste Seelord, der die Flotte in einer Reihe von Gewaltakten reformiert hatte, vertrat leidenschaftlich die Auffassung, England müsse vorwiegend zur See vorgehen. Er zweifelte an der militärischen Leistungsfähigkeit der Franzosen und erwartete, daß diese von den Deutschen zu Lande geschlagen würden, so fand er es sinnlos, die britische Armee überzusetzen, nur damit sie in diese Niederlage einbezogen werde.

Die einzige Aktion zu Lande, der er eine Chance gab, war ein kühner Vorstoß in Deutschlands Rücken, und er hatte auch genau die Stelle ausgesucht - »einen Zehnmeilenstreifen aus purem Sand« entlang der Ostseeküste in Pommern. Hier, nur hundertvierzig Kilometer von Berlin, an der Stelle der Küste, von der aus die deutsche Hauptstadt am nächsten erreichbar war, könnten britische Truppen, von der Marine an Land gesetzt, eine Operationsbasis erobern und ausbauen und »eine Million Deutsche binden«.

Abgesehen von diesem Unternehmen sollte die Armee »sich absolut auf... plötzliche Einfälle im Küstengebiet, auf die Wiedergewinnung Helgolands und die Besetzung Antwerpens« beschränken. Nach Fishers Ansicht war der Plan, in Frankreich zu kämpfen, ein »selbstmörderischer Wahnsinn«, das Kriegsministerium von einer

bemerkenswerten Unkenntnis in Fragen des Krieges und die Armee nur als »ein Annex der Flotte« zu behandeln. Anfang des Jahres 1910 wurde Fisher im Alter von neunundsechzig Jahren in den Peers-Stand erhoben und verabschiedet; aber im Oktober 1914 kehrte er in sein altes Amt zurück.

Nach Überwindung der Schwierigkeit von 1905/1906 kam die gemeinsame militärische Planung zwischen Frankreich und England in den nächsten Jahren kaum voran. In der Zwischenzeit schlossen jedoch zwei Männer über den Kanal hinweg eine Freundschaft, die zum Grundstein für einen Brückenbau werden sollte.

Leiter der britischen Kriegsakademie war damals der Brigadegeneral Henry Wilson, ein hochgewachsener, knochiger, temperamentvoller Anglo-Ire mit einem Gesicht, das, wie er, selbst meinte, eher

zu einem Pferd gepaßt hätte. Bei seiner Lebhaftigkeit und Ungeduld sprudelte Wilson unaufhörlich über von Ideen; er besaß Humor, war impulsiv, phantasievoll und vor allem energisch. Als er in London im Kriegsministerium Dienst tat, machte er vor dem Frühstück regelmäßig zur körperlichen Übung eine Runde um den Hydepark, hatte aber die Morgenzeitung bei sich, um lesen zu können, wenn er sein Tempo verringerte. Von mehreren französischen Gouvernanten erzogen, sprach er fließend Französisch. Für Deutsch interessierte er sich weniger.

Im Januar 1909 veröffentlichte Schlieffen in der »Deutschen Revue« einen anonymen Artikel, in dem er gegen gewisse Veränderungen Einspruch erhob, die sein Nachfolger Moltke an seinem Plan vorgenommen hatte. In ihm war, wenn auch nicht im Detail, so doch in Grundzügen, das »kolossale Cannae« enthüllt, das man den eingeschlossenen französischen und britischen Armeen bereiten wollte, den Verfasser konnte man leicht erraten. Als ein Schüler der Kriegsakademie Camberley Wilson auf den Artikel aufmerksam machte, gab dieser ihn mit der beiläufigen Bemerkung zurück: »Sehr interessant.«

Im Dezember 1909 setzte sich General Wilson in den Kopf, seinen französischen Kollegen, den Leiter der Ecole Supériere de la Guerre, General Foch, zu besuchen. Er nahm an vier Vorlesungen und einer Seminarsitzung teil und wurde zum Tee eingeladen. Foch schätzte es zwar gar nicht, angesehenen Besuchern seine Zeit widmen zu müssen, glaubte aber doch, diese Höflichkeit seinem britischen Partner schuldig zu sein. General Wilson war von allein, was er gehört und gesehen hatte, begeistert und blieb zu einer dreistündigen Unterhaltung. Als Foch seinen Besucher endlich zur Tür geleiten konnte und sich, wie er glaubte, endgültig von ihm verabschiedete, kündigte Wilson vergnügt für den nächsten Tag einen neuen Besuch ah, um das Gespräch fortzusetzen und den Lehrplan noch genauer kennenzulernen.

Foch konnte nicht umhin, den »cran« (Mut) des Engländers zu bewundern und von seinem Interesse angetan zu sein. In ihrem zweiten Gespräch fanden sich die beiden. Schon einen Monat später war Wilson zu einer neuen Unterhaltung in Paris. Foch nahm seine Einladung an, im Frühjahr nach England zu kommen, und Wilson versprach, im Sommer einen Besuch beim französischen Generalstab zu machen.

Als Foch in London war, stellte Wilson ihn Haldane und anderen Mitgliedern des Kriegsministeriums vor. Er platzte in das Zimmer eines seiner Kollegen und sagte: »Draußen hab' ich einen französischen, General - General Foch. Verlassen Sie sich drauf, der Bursche wird die alliierten Armeen kommandieren, wenn der große Krieg erst da ist.« Damit hatte Wilson bereits das Prinzip des vereinigten Kommandos anerkannt und den richtigen Mann dafür gefunden, obwohl vier Kriegsjahre darüber hingehen sollten und man erst am Rande des Abgrundes stehen mußte, ehe die Ereignisse ihn bestätigten.

Während wiederholter Besuche nach 1909 wurden die beiden Kommandeure so unzertrennliche Freunde, daß Wilson sogar in Fochs Familienkreis einbezogen und zur Hochzeit der Tochter eingeladen wurde. Mit seinem Freund »Henri« verbrachte Foch lange Stunden in Gesprächen, die ein Beobachter als »fürchterliches Geschwätz« bezeichnete. Sie pflegten ihre Kappen auszutauschen und miteinander auf und ab zu gehen, der Kleine neben dem Langen, debattierend und einander neckend. Auf Wilson hatten vor allem das Tempo und die Kühnheit Eindruck gemacht, die den Unterricht auf der Kriegsschule kennzeichneten. Die Lehrer trieben die Offiziersschüler ständig mit »vite, vite!« und »allez, allez!« ah. Als diese Methode in der Kriegsakademie von Camberley im Unterricht eingeführt wurde, bekam sie sehr rasch den Spitznamen »Wilsons Allez-Operationen«.

Auf eine Frage Wilsons während seines zweiten Besuches im Januar 1910 fand Foch eine Antwort, die in einem einzigen Satz das Problem der Allianz mit England ausdrückte, wie es sich den Franzosen darstellte.

»Was ist das kleinste britische Kontingent, das Ihnen wirklich etwas helfen könnte«? fragte Wilson. Wie ein Degenstoß kam Fochs Antwort: »Ein einziger britischer Soldat - und wir werden dafür sorgen, daß er fällt.«

Auch Wilson wollte, daß England sich band. In der Überzeugung, daß ein Krieg mit Deutschland unvermeidlich sei und unmittelbar bevorstehe, bemühte er sich, seinen »Kollegen und Schülern das Gefühl der Dringlichkeit zu vermitteln, das er selbst empfand und in dem er selbst ganz und gar aufging.

Im August 1910 kam seine Stunde. Er wurde zum Leiter der Operationsabteilung im Kriegsministerium ernannt, erhielt also die Stelle, von der aus früher General Grierson die Stabsbesprechungen mit Frankreich eingeleitet hatte. Als Major Huguet, der französische Militärattaché, einmal den neuen Leiter aufsuchte und sich darüber beklagte, daß seit 1906 kein Fortschritt in der wichtigen Frage der militärischen Zusammenarbeit zwischen England und Frankreich zu verzeichnen sei, antwortete Wilson: »Wichtige Frage! Sogar lebenswichtig! Es gibt überhaupt keine andere.«

Die gemeinsame Planung bekam sofort neuen Auftrieb. Wilson sah nichts als Frankreich und Belgien und ging auch nirgendwo anders hin. Bei seinem ersten Besuch im Jahre 1909 hatte er zehn Tage lang damit zugebracht, per Bahn und Fahrrad die französische Grenze gegen Belgien und Deutschland von Valenciennes bis Belfort zu bereisen. Er hatte dabei festgestellt: Fochs »Einschätzung der deutschen Bewegung durch Belgien deckt sich genau mit meiner eigenen, und die entscheidende Linie liegt zwischen Verdun und Namur«, mit anderen Worten, östlich der Maas.

Während der nächsten vier Jahre wiederholte er seine Besuche drei- oder viermal im Jahr und machte jedesmal Radtouren oder Autofahrten zu den alten Schlachtfeldern von 1870/71 und den voraussichtlichen Kampfgebieten in Lothringen und den Ardennen. Bei jedem Besuch besprach er sich mit Foch und nach Fochs Versetzung mit anderen Angehörigen des französischen Generalstabes.

In Wilsons Zimmer im Kriegsministerium war eine ganze Wand mit einer riesigen Karte von Belgien bedeckt, auf der jede Straße, die nach seiner Meinung für den deutschen Vormarsch in Frage kam; tiefschwarz markiert war. Als Wilson ins Kriegsministerium eintrat, stellte er fest, daß die Armee auf Grund der Reform, die der »Schopenhauer unter den Generälen«, wie man Haldane nannte, durchgeführt hatte, gründlich geschult, vorbereitet und organisiert war, um im gegebenen Augenblick als Expeditionskorps eingesetzt zu werden; außerdem schienen alle Vorkehrungen getroffen zu sein, um das Heer zum Mobilisierungstag auf volle Kriegsstärke zu bringen. Aber Pläne für den Transport über den Kanal, die Unterbringung und Verpflegung, der Marsch zu den Sammelplätzen in Frankreich und die Koordinierung mit den französischen Armeen gab es nicht.

Wilson war der Meinung,' daß der Stab es doch sehr an Interesse für dieses Thema fehlen lasse und geriet darüber immer wieder in Zorn, wie aus seinem Tagebuch hervorgeht: »... bin sehr unzufrieden ... keine Anordnungen für die Bahn ... keine Vorkehrungen für den Nachschub an Pferden ... ein skandalöser Zustand! ... weder für Leitfeuer noch für Hafenpersonal oder gar für Schiffe vorgesorgt ... absolut keine Sanitätseinrichtungen ... Pferdeschwierigkeiten ungelöst ... es ist überhaupt nichts da, und das ist ein Skandal! ... sträflich unvorbereitet.... Pferdeproblem in schandbarer Verfassung!«

Dennoch hatte er bis März 1911 trotz all dieser unzulänglichen Vorkehrungen - und des Pferdemangels - einen Mobilisierungsplan zustande gebracht, nach dem »die gesamte Infanterie in Stärke von sechs Divisionen sich am vierten Tag einschiffen würde, die Kavallerie am siebenten und die Artillerie am neunten Tag«.

Es war auch an der Zeit. Am 1. Juli 1911 erfolgte der »Panthersprung« nach Agadir. In allen Kanzleien Europas flüsterte man einander das Wort »Krieg« zu. Wilson eilte im selben Monat nach Paris, in dem der französische Kriegsrat General Michel des Amtes enthob und damit dem Defensivgedanken endgültig den Rücken kehrte. Zusammen mit General Dubail, Chef des Stabes beim Kriegsministerium, setzte er ein Memorandum auf, in dem für den Fall einer britischen Intervention ein Expeditionskorps von sechs regulären Divisionen und einer Kavalleriedivision vorgesehen war. Es wurde am 20. Juli von Wilson und Dubail unterzeichnet und präzisierte die Gesamtstärke auf 150 000 Mann und 67 000 Pferde, die zwischen dem 4. und 12. Mobilisierungstag in Le Havre, Boulogne und stromaufwarts in Rouen landen sollten, um dann mit der Eisenbahn in ein Sammelgebiet in der Gegend von Maubeuge gebracht zu werden und am 13. Mobilisierungstag kampfbereit zu sein...

Bei Wilsons Rückkehr nach London war, wie er in sein Tagebuch schrieb, die brennendste Frage, ob Deutschland Krieg »gegen Frankreich und uns« führen werde. Als er beim Mittagessen von Grey und Haldane befragt wurde, legte er voller Begeisterung ein Dreipunkteprogramm vor. »Erstens müssen wir uns mit den Franzosen vereinigen. Zweitens müssen wir an demselben Tag mobilmachen wie die Franzosen. Drittens müssen wir alle sechs Divisionen hinüberschicken.«

Er war »höchst unzufrieden« über die Art und Weise, in der die beiden Zivilisten die Lage beurteilten; doch sehr bald bot sich ihm eine weitere Gelegenheit, die Regierung über die Tatsachen des Krieges aufzuklären. Am 23. August berief Premierminister Asquith (der Campbell-Bannerman 1908 im Amt gefolgt war) eine geheime Sondersitzung des Verteidigungsausschusses des Empire ein, um die Frage der britischen Strategie im Kriegsfall zu klären. Die Sitzung dauerte den ganzen Tag. General Wilson legte am Vormittag den Standpunkt der Armee dar, und Fishers Nachfolger, Admiral Sir Arthur Wilson, sprach am Nachmittag für die Flotte.

Außer Asquith, Grey und Haldane waren drei andere Kabinettsmitglieder anwesend; der Finanzminister, Lloyd George, der Erste Lord der Admiralität, McKennay und Innenminister Winston Churchill - ein junger Mann von siebenunddreißig Jahren, den man unmöglich übersehen konnte. Als Außenstehender hatte er den Premierminister während der Krise mit durchweg sehr vernünftigen strategischen Ideen für Heer und Flotte bestürmt; eine erstaunlich zutreffende Vorhersage des künftigen Kampfverlaufs geliefert und eine von Zweifeln völlig freie Ansicht über das, was jetzt not tue, entwickelt.

Wilson, der von seinem Kollegen und künftigen Vorgesetzten, Sir John French, begleitet war, faßte diese Gruppe von »Ignoranten«, wie er sie nannte, ins Auge, hängte seine große Karte von Belgien an die Wand und dozierte zwei Stunden lang. Er zerstörte viele Illusionen, als er auseinandersetzte, wie Deutschland, das mit einer langsamen Mobilmachung in Rußland rechne, die Hauptmasse seiner Streitkräfte gegen die Franzosen einsetzen und dadurch eine zahlenmäßige Überlegenheit erzielen werde. Er sagte den deutschen Plan eines Angriffs genau voraus, der sich auf eine Umfassung durch den rechten Flügel stütze, veranschlagte aber, in Anlehnung an die französischen Theorien, die Streitkräfte, die westlich der Maas vordringen würden, auf nicht mehr als vier Divisionen. Wenn alle sechs britischen Divisionen sofort bei Kriegsausbruch an die äußerste Linke der französischen Front gebracht würden, so bestehe gute Aussicht, die Deutschen aufzuhalten.

Als am Nachmittag der Admiral an die Reihe kam, stellten die verblüfften Zivilisten erstaunt fest, daß die Planung der Flotte mit der der Armee in keinem Punkt übereinstimmte. Der Admiral schlug vor, das Expeditionskorps nicht in Frankreich auszuschiffen, sondern auf jenem »Zehnmeilenstreifen dürren Sandes« an der pommerschen Küste, wo es »über ihre Stärke hinaus Truppen von der deutschen Angriffslinie abziehen werde«. Seine These wurde von den Generälen lebhaft angegriffen. Die Abwesenheit Fishers gab Asquith den Mut, sie abzulehnen, und die Armee trug den Sieg davon ...

Da man eine Auffrischung in den politisch maßgeblichen Posten der Flotte beschlossen hatte, wurde der eifrige Innenminister Churchill glücklicherweise zum Ersten Lord der Admiralität ernannt; in dieser Stellung sollte er sich 1914 als unentbehrlich erweisen.

Gerüchte über die Geheimsitzung des Verteidigungsausschusses des Empire verstimmten diejenigen Kabinettsmitglieder, die man nicht zugezogen hatte und die dem streng pazifistischen Flügel der Partei angehörten. Henry Wilson erfuhr, daß man ihn als den verantwortlichen Bösewicht ansah und »seinen Kopf forderte«. Damit begann die Spaltung im Kabinett, die in den letzten entscheidenden Tagen so kritisch werden sollte.

Die Regierung handelte insofern unaufrichtig, als Haldane die militärischen »Gespräche« lediglich als »eine natürliche und inoffizielle Folge unserer engen Freundschaft mit Frankreich« bezeichnete. Eine natürliche Folge mochten sie sein, aber inoffiziell waren sie nicht. Lord Esher sah die Lage ganz realistisch, als er zum Premierminister sagte, die von den Generalstäben gemeinsam ausgearbeiteten Pläne bedeuteten »ganz gewiß eine Verpflichtung für uns zu kämpfen, ob es dein Kabinett gefällt oder nicht«.

Es ist nicht bekannt, was Asquith darauf erwiderte oder was er im innersten Herzen - einer auch unter günstigeren

Umständen schwer überschaubaren Landschaft - über diese entscheidende Frage dachte.

Im folgenden Jahr, 1912, wurde ein Marine-Abkommen mit Frankreich erzielt, und zwar als Ergebnis einer wichtigen Mission - die nicht Frankreich, sondern Berlin betraf. Im Zuge der Bemühungen, die Deutschen von der Verabschiedung eines neuen Flottengesetzes abzubringen, das eine Verstärkung der Flotte vorsah, wurde Haldane abgesandt, um mit dem Kaiser, mit Bethmann Hollweg, Großadmiral Tirpitz und anderen führenden deutschen Persönlichkeiten zu verhandeln.

Dies war der letzte englisch-deutsche Versuch, sich auf einer gemeinsamen Basis zu verständigen; er schlug jedoch fehl. Die Deutschen forderten als Gegenleistung für den Verzicht, ihre Flotte auf die Stärke der britischen zu bringen, ein britisches Neutralitätsversprechen für den Fall eines Krieges zwischen Deutschland und Frankreich.

Die Engländer lehnten ab. Haldane kehrte mit der Überzeugung zurück, daß man sich früher oder später gegen Deutschlands Führungsansprüche in Europa werde zur Wehr setzen müssen: »Meine Beschäftigung mit dem deutschen - Generalstab nahm mir jeden Zweifel daran, daß es, wenn die deutsche Kriegspartei erst einmal fest im Sattel säße, Krieg ,gäbe, nicht nur um Frankreich oder Rußland zu vernichten; sondern um die ganze Welt zu beherrschen.«

Da dieser Schluß von Haldane stammte, übte er eine tiefe Wirkung auf das Denken und Planen der Liberalen aus. Das erste Ergebnis war ein Flottenabkommen mit Frankreich, in dem England sich verpflichtete, bei Kriegsgefahr den Kanal und die französische Küste vor feindlichen Angriffen zu schützen und damit der französischen Flotte eine Konzentration im Mittelmeer zu ermöglichen. Mit diesem Zugeständnis einer Verlegung der französischen Flotte im Kriegsfall bürdete der Pakt England eine entschiedene Verpflichtung auf.

Obwohl die einzelnen Punkte des Abkommens dem Kabinett nicht alle bekannt waren, herrschte doch das unbehagliche Gefühl, in dieser Sache zu weit gegangen zu sein. Die Pazifisten konnten sich mit der Ausflucht Greys »keine Verpflichtung« nicht abfinden und bestanden auf schriftlicher Festlegung. Der Außenminister kam dieser Forderung durch ein Schreiben an den französischen Botschafter Cambon nach.

Vom Kabinett entworfen und gebilligt, glänzte es in der Kunst des Auslassens. Die militärischen Unterredungen, so hieß es da, stellten es beiden Parteien frei, zukünftig jederzeit zu entscheiden, »ob man einander militärisch beistehen wolle oder nicht«. Der Flottenpakt »beruhe nicht auf einer Verpflichtung, im Kriege zu kooperieren«. Bei Kriegsgefahr würden beide Seiten die Pläne ihres Generalstabs »in Erwägung ziehen« und »dann entscheiden, wie weit sie verwirklicht werden sollten«.

Diesem merkwürdigen Dokument gelang es, alle Seiten zufriedenzustellen: die Franzosen, weil nun das gesamte britische Kabinett das Vorhandensein gemeinsamer Pläne anerkannt hatte; die Pazifisten, weil ausdrücklich betont war, England sei nicht »verpflichtet«; und Grey, weil er eine Formel gefunden hatte, die sowohl die Pläne rettete als auch deren Gegner beruhigte. Er erklärte, wenn man statt dessen ein definitives Bündnis mit Frankreich vorgelegt hätte, wie manche Kreise es dringend wünschten, so wäre »das Kabinett darüber in die Brüche gegangen«.

Als nach dem »Panthersprung« nach Agadir jedes Jahr seine Sommerkrise brachte und die Luft immer drückender wurde vom herannahenden Sturm, vertiefte sich die Zusammenarbeit der Generalstäbe. Sir Henry Wilsons Auslandsreisen wurden häufiger. Er bezeichnete den neuen französischen Chef, General Joffre, als »einen prächtigen, mannhaften und unerschütterlichen Soldaten mit viel Charakter und Entschlossenheit«. . . Seine Erkundungen im belgischen Grenzgebiet setzte er fort, indem er die verschiedenen Straßen nach beiden Richtungen mit dem Rad abfuhr; dabei zog es ihn immer wieder zu seinem Lieblingsschlachtfeld von 1870 bei Mars-la-Tour in der Nähe von Metz, wo er jedesmal beim Anblick der Statue der »France«, die zum Gedächtnis an die Schlacht aufgestellt war, einen Stich verspürte.

Bei einem Besuch, berichtete er, »legte ich zu ihren Füßen ein kleines Stück Landkarte nieder, das ich bei mir hatte und das die Konzentrationsgebiete der britischen Truppen auf französischem Gebiet zeigte«.

Im Jahre 1912 überprüfte Wilson die neuen deutschen Eisenbahnlinien, die alle auf Aachen und die belgische Grenze zuliefen. Im Februar dieses

Jahres hatten die englisch-französischen Pläne den Punkt erreicht, an dem Joffre dem Obersten Kriegsrat erklären konnte, er rechne damit, daß die Engländer sechs Infanteriedivisionen, eine Kavalleriedivision und zwei berittene Brigaden, insgesamt 145 000 Mann, stellen würden: »L'Armee W«, wie man sie in Frankreich mit einer Verbeugung vor Wilson nannte, werde in Boulogne, Le Havre und Rouen landen, sich im Gebiet Hirson-Maubeuge sammeln und am fünfzehnten Mobilisierungstag aktionsbereit sein.

Später im Jahre 1912 besuchte Wilson mit Joffre und dem Großfürsten Nikolai von Rußland zusammen die Herbstmanöver und ging dann nach Rußland, wo er Gespräche mit dem russischen Generalstab führte. Im Jahre 1913 war er jeden zweiten Monat in Paris, um mit den französischen Stabschefs zu konferieren und an den Manövern von

Fochs XX. Korps teilzunehmen, das die Grenze schützte.

Während Wilson seine Vereinbarungen mit den Franzosen verfestigte und vervollständigte, unternahm Sir John French, Englands neuer Generalstabschef, im Jahre 1912 einen Versuch, zu der Idee eines selbständigen Vorgehens in Belgien zurückzukehren. Diskrete Anfragen, die über den britischen Militärattache in Brüssel liefen, setzten diesen Bemühungen ein Ende. Man stellte fest, daß die Belgier eisern entschlossen waren, ihre Neutralität zu wahren.

Als der britische Attache die Möglichkeit gemeinsamer Vorkehrungen für eine britische Landung in Belgien unter der Voraussetzung des Tatbestandes einer deutschen Grenzverletzung zur Debatte stellte, erklärte man ihm, die Engländer müßten warten, bis sie um Waffenhilfe gebeten würden. Dem britischen Gesandten, der auf eigene Faust vorfühlte, wurde gesagt, daß die belgischen Truppen das Feuer eröffnen würden, wenn britische Truppen vor einer deutschen Invasion oder ohne offizielle belgische Aufforderung landen sollten.

Belgiens starre Korrektheit bestätigte, was die Engländer den Franzosen unaufhörlich predigten - daß nämlich alles davon abhänge, die Deutschen als erste die belgische Neutralität verletzen zu lassen. Im Jahre 1911 warnte Lord Esher den französischen Militärattaché Major Huguet: »Niemals und unter gar keinen Umständen dürfen Sie gestatten, daß französische Kommandeure als erste die belgische Grenze überschreiten!« Wenn das geschähe, könnte England nie auf Frankreichs Seite stehen; überschritten aber die Deutschen als erste die belgische Grenze, so hätten sie England gegen sich. Der französische Botschafter in London, Cambon, drückte die Bedingung in seinen Depeschen umgekehrt aus: Nur wenn Deutschland Belgiens Grenze verletze, könne Frankreich der britischen Unterstützung sicher sein.

Im Frühjahr 1914 war das gemeinsame Werk der Generalstäbe Frankreichs und Englands bis zur letzten Unterkunft für jedes Bataillon vollendet, selbst bis zu den Punkten, wo die Kaffeeausgabe erfolgen sollte. Die Zahl der französischen Eisenbahnwagen, die bereitzustellen waren, die Anweisungen für die Dolmetscher, die Vorbereitung von Codes und Chiffren, die Fourage für die Pferde, alles war geregelt oder sollte doch bis Juli abgeschlossen sein.

Die Tatsache, daß Wilson und sein Stab in ständigem Austausch mit Frankreich standen, mußte geheimgehalten werden. Die ganze Arbeit am Plan W, wie die Aufstellung des Expeditionskorps bei beiden Stäben hieß, blieb als geheime Kommandosache einem halben Dutzend Offizieren vorbehalten, die sogar die Schreibarbeit und die Ablage besorgten.

Während die Militärs im voraus die Schlachtlinien festlegten, zogen sich die politischen Führer Englands die Decke »Nicht verpflichtet« über den Kopf und lehnten es entschieden ab, diesen Dingen ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

Deutsche Rechte im Scherz Verlag; Bern, Stuttgart.

IM NÄCHSTEN HEFT:

Die russische Dampfwalze - Am 16. Mobilisierungs-Tag über die ostpreußische Grenze

Kaiser Wilhelm II. in Tanger 1905

»Krieg im nächsten Sommer?«

Englands Premier Campbell-Bannerman

»Zum Lunch nach Calais«

Generäle Foch, Wilson: »Mit dem Fahrrad aufs Schlachtfeld«

Erster Seelord Fisher, Erster Lord der Admiralität Churchill (1914): »Landung in Pommern«

Englands Kriegsminister Haldane »Armee im Sinne Hegels«

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»Durch Bündnis zum Bruch«

Landung britischer Truppen in Ostende 1914: »Nur sechs Offiziere wußten Bescheid«

Barbara W. Tuchman
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