Daheim wenn das Laub fällt
7. Fortsetzung
Das Ultimatum an Brüssel
Tm Safe des Herrn von Below-Saleske,
des deutschen Botschafters in Brüssel, lag ein versiegelter Umschlag, der ihm am 29. Juli von einem Sonderkurier aus Berlin gebracht und mit dem Befehl übergeben worden war, ihn »erst zu eröffnen, wenn Sie telegraphisch von hier aus dazu angewiesen werden«.
Am Sonntag, dem 2. August, erhielt Below ein Telegramm mit der Weisung, den Umschlag sofort zu öffnen und die darin enthaltene Note bis 20 Uhr abends zu übergeben, wobei er sich zu bemühen habe, der belgischen Regierung die Überzeugung zu vermitteln, als seien sämtliche Weisungen in dieser Angelegenheit erst an diesem Tag zugegangen.
Der Botschafter sollte von Belgien eine Antwort innerhalb von zwölf Stunden verlangen, sie »schleunigst« nach Berlin drahten und die Note außerdem »unmittelbar nach Empfang mit Automobil nach Aachen an General von Emmich, Union-Hotel, übermitteln«. Aachen war die Lüttich, dem östlichen Einfallstor nach Belgien, nächstgelegene deutsche Stadt.
Herr von Below, ein hochgewachsener Junggeselle mit militärischer Haltung und schwarzem, gezwirbeltem Schnurrbart, den man nie ohne eine Zigarettenspitze aus Jade sah, hatte seinen Posten in Belgien Anfang 1914 angetreten. Wenn Besucher der deutschen Botschaft ihn fragten, was der silberne Aschenbecher mit einem Einschußloch auf seinem Schreibtisch zu bedeuten habe, pflegte er lachend zu antworten:
»Ich bin ein Unglücksrabe. Als ich in der Türkei war, brach dort eine Revolution aus. Als ich in China war, kam die Geschichte mit den Boxern. Damals verirrte sich eine Kugel durchs Fenster und hat diesen Aschenbecher getroffen.« Mit weitausholender, eleganter Geste führte er dann seine Zigarettenspitze genießerisch zum Mund und fügte hinzu: »Aber jetzt habe ich Ruhe. In Brüssel passiert nie etwas.«
Seit der versiegelte Umschlag angekommen war, hatte er jedoch keine Ruhe mehr. Am 1. August mittags besuchte ihn Baron Bassompierre, Unterstaatssekretär im belgischen Auswärtigen Amt, und berichtete ihm, die Abendblätter hätten vor, Frankreichs Antwort an den britischen Außenminister Grey zu veröffentlichen, in der die Franzosen die belgische Neutralität zu respektieren versprachen. Bassompierre
legte Below nahe, er möge doch in Ermangelung einer entsprechenden deutschen Antwort eine Erklärung abgeben.
Below war hierzu von Berlin nicht ermächtigt. Er nahm seine Zuflucht zu diplomatischen Manövern, lehnte sich in seinem Stuhl zurück, starrte zur Zimmerdecke hinauf und wiederholte durch die Schwaden des Zigarettenrauchs Wort für Wort alles, was Bassompierre eben zu ihm gesagt hatte. Dann erhob er sich, versicherte seinem Besucher, daß »Belgien von Deutschland nichts zu befürchten habe« und beendete die Unterhaltung.
Am nächsten Morgen wiederholte er diese Versicherung Davignon gegenüber, dem Außenminister, der um 6 Uhr früh mit der Nachricht von der deutschen Invasion in Luxemburg geweckt worden war und eine Erklärung verlangt hatte. Wieder in der Botschaft angekommen, beruhigte von Below die aufgeregte Presse mit einer gutgewählten Phrase, die überall zitiert wurde: »Das Dach Ihres Nachbarn wird vielleicht Feuer fangen, aber Ihrem eigenen Hause wird nichts passieren.«
Viele Belgier, mochten sie nun mit der Politik zu tun haben oder nicht, neigten dazu, ihm Glauben zu schenken
- einige, weil sie deutschfreundlich
waren, bei anderen war der Wunsch der Vater des Gedankens, wieder andere vertrauten dem guten Willen der internationalen Garanten der belgischen Neutralität.
In den 75 Jahren einer garantierten Unabhängigkeit hatten sie die längste ununterbrochene Friedensperiode ihrer Geschichte kennengelernt. Schon seit Cäsar die Belgier bekämpft hatte, war ihr Land Durchgangsstraße für Armeen gewesen.
In Belgien hatten Karl der Kühne von Burgund und Ludwig XI. von Frankreich ihre lange und unversöhnliche Feindschaft ausgefochten; hier hatten die Spanier im Krieg gegen die Niederlande gehaust, hatte Marlborough die überaus »mörderische« Schlacht von Malplaquet gegen die Franzosen geschlagen, war Napoleon bei Waterloo mit Wellington zusammengeraten; hier hatte sich das Volk gegen jeden Gewalthaber erhoben, ob es Burgunder, Franzosen, Spanier, Habsburger oder Holländer waren, bis hin zum letzten Aufstand gegen das Haus von Oranien im Jahre 1830.
Dann war es unter seinem König Leopold aus dem Hause Sachsen-Coburg, einem Onkel mütterlicherseits der Königin Victoria, zu einer Nation geworden und zu Wohlstand gekommen; seine überschüssige Kraft hatte es in Bruderkämpfen zwischen Flamen und Wallonen, Katholiken und Protestanten und in Auseinandersetzungen über den Sozialismus und die Zweisprachigkeit verausgabt, immer in der Hoffnung, die Nachbarn würden diesen glücklichen Zustand auch in Zukunft nicht stören.
Der König, der Ministerpräsident und der Generalstabschef konnten die allgemeine Zuversicht schon nicht mehr teilen; aber sowohl ihre Pflicht zur Neutralität als auch ihr Glaube daran hielten sie davon ab, Pläne für die Abwehr eines Angriffs auszuarbeiten. Bis zum letzten Augenblick wehrten sie sich gegen den Gedanken, eine Invasion eines ihrer Garanten könne Wirklichkeit werden.
Als sie die Nachricht von der deutschen »Kriegsgefahr« am 31. Juli erhielten, setzten sie den Beginn der Mobilmachung der belgischen Armee auf Mitternacht an. In der Nacht und am nächsten Tag gingen Polizisten von Haus zu Haus, läuteten an den Türen und händigten Gestellungsbefehle aus, während Männer aus dem Bett sprangen oder ihre Arbeit im Stich ließen, ihre Bündel schnürten, den Ihren Lebewohl sagten und sich zu den Sammelstellen ihrer Regimenter begaben.
Weil Belgien sich in strikter Wahrung seiner Neutralität bisher auf keinen Feldzugsplan festgelegt hatte, richtete sich die Mobilmachung weder gegen einen bestimmten Feind noch geographisch auf ein bestimmtes Ziel. Es war ein Aufruf ohne Aufmarsch. Belgien war genau wie seine Garanten verpflichtet, Neutralität zu wahren, und konnte nur dann offen aktiv werden, wenn andere den ersten Schritt taten.
Als am Abend des 1. August Deutschlands Schweigen auf Greys Frage 24 Stunden gedauert hatte, entschloß sich König Albert zu einem letzten persönlichen Appell an den deutschen Kaiser. Er verfaßte ihn mit Hilfe seiner Frau, der Königin Elisabeth, einer geborenen Deutschen, der Tochter eines bayrischen Herzogs, die ihn Satz für Satz ins Deutsche übertrug und dabei zusammen mit dem König Wortwahl und Bedeutungsnuancen sorgfältig abwog.
Der Appell anerkannte, daß »politische Überlegungen« eine offizielle deutsche Erklärung vielleicht verhindern könnten, sprach aber die Hoffnung aus, daß »die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Bande« den Kaiser bestimmen würden, König Albert persönlich und privat die Zusicherung zu geben, daß die belgische Neutralität geachtet werde.
Die Verwandtschaft, auf die angespielt wurde, kam von König Alberts Mutter her, der Prinzessin Maria von Hohenzollern-Sigmaringen, der katholischen Linie der Hohenzollern; doch auch sie konnte den Kaiser nicht zu einer Antwort bewegen.
Statt dessen kam das Ultimatum, das schon vier Tage lang in Herrn von Belows Safe gelegen hatte. Am 2. August um 19 Uhr wurde es übergeben.
Ein Diener im belgischen Außenministerium steckte den Kopf ins Zimmer des Unterstaatssekretärs und berichtete in aufgeregtem Flüsterton: »Eben ist der deutsche Botschafter zu M. Davignon gegangen!« 15 Minuten später sah man Below auf dem Heimweg über die Rue de la Loi fahren. Er hielt den Hut in der Hand, hatte Schweißtropfen auf der Stirn und rauchte mit den raschen, ruckartigen Bewegungen eines mechanischen Spielzeugs.
Im gleichen Augenblick, in dem man seine »hochmütige Silhouette« das Ministerium verlassen sah, eilten die beiden Unterstaatssekretäre in das Zimmer des Außenministers, wo ihnen Davignon, ein Mann, der bis dahin unverändert ruhig und optimistisch gewesen war, totenbleich entgegentrat. »Schlechte Nachrichten, schlechte Nachrichten«, sagte er und übergab ihnen die deutsche Note, die er eben erhalten hatte.
Baron de Gaiffier, der Unterstaatssekretär für politische Fragen, las sie laut vor und übersetzte sie dabei langsam, während Bassompierre, am Schreibtisch des Ministers sitzend, den Inhalt aufnahm und jeden mehrdeutigen Satz einzeln durchsprach, um sich der richtigen Bedeutung zu versichern. Während sie arbeiteten, hörten Davignon und sein Mitarbeiter Baron van der Elst, in zwei Sesseln rechts und links des Kamins sitzend, zu.
Davignons letztes Wort bei allen Problemen war immer gewesen: »Ich bin überzeugt, daß' es in Ordnung kommen wird«, während van der Elst die Deutschen so schätzte, daß er seiner Regierung bisher immer versichert hatte, die zunehmende deutsche Rüstung hänge nur mit dem »Drang nach Osten« zusammen und werde Belgien keinerlei Schwierigkeiten bringen.
Als man die Übersetzung abschloß, trat Baron de Broqueville, Ministerpräsident und gleichzeitig Kriegsminister, ins Zimmer, er war ein hochgewachsener, sehr gepflegter, dunkelhaariger Herr, dessen entschlossenes Auftreten durch einen kräftigen schwarzen Schnurrbart und ausdrucksvolle dunkle Augen unterstrichen wurde. Man las ihm das Ultimatum vor, und alle Anwesenden lauschten auf jedes einzelne Wort mit derselben Aufmerksamkeit, mit der die Verfasser des Entwurfs es ausgewählt hatten. Es war mit großer Sorgfalt abgefaßt worden,vielleicht hatte im Unterbewußtsein der Gedanke mitgespielt, daß es sich hier um eines der entscheidenden Dokumente des Jahrhunderts handele.
General von Moltke hatte die Originalfassung am 26. Juli eigenhändig niedergeschrieben, zwei Tage vor der Kriegserklärung Österreichs an Serbien, vier Tage vor der Mobilmachung in Österreich und Rußland und am selben Tag, an dem Deutschland und Österreich den britischen Vorschlag, eine Fünfmächtekonferenz einzuberufen, zurückgewiesen hatten.
Moltke hatte seinen Entwurf an das Auswärtige Amt geschickt, wo er von den Unterstaatssekretären Zimmermann und Stumm revidiert und darüber hinaus von Staatssekretär Jagow und Kanzler Bethmann Hollweg noch verbessert und modifiziert worden war, bis schließlich die endgültige Fassung in versiegeltem Umschlag am 29. Juli nach Brüssel gesandt wurde.
Deutschland habe »zuverlässige Nachrichten« erhalten, begann die Note, daß die Franzosen einen Aufmarsch entlang der Linie Givet-Namur beabsichtigten. »Sie lassen keinen Zweifel an der Absicht Frankreichs, durch belgisches Gebiet gegen Deutschland vorzugehen.« Da die Belgier eine französische Bewegung auf Namur zu nicht feststellen konnten, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es keine gab, machte diese Anschuldigung keinen Eindruck auf sie.
Es sei, so fuhr die Note fort, »ein Gebot der Selbsterhaltung für Deutschland, dem feindlichen Angriff zuvorzukommen«, da es nicht damit rechnen könne, daß die belgische Armee den französischen Vormarsch zum Stehen bringen werde. »Mit dem größten Bedauern« würde es Deutschland erfüllen,
wenn Belgien das Betreten belgischen Bodens »als einen Akt der Feindseligkeit gegen sich« betrachten sollte. Würde Belgien andererseits »eine wohlwollende Neutralität« einnehmen, so wolle Deutschland sich verpflichten, »das Gebiet des Königreichs wieder zu räumen, sobald der Friede geschlossen« sei, alle Schäden, die deutsche Truppen verursacht hätten, zu ersetzen und »beim Friedensschluß Besitzstand und Unabhängigkeit des Königreichs im vollen Umfang zu garantieren«.
Im Original war der Satz noch weitergegangen: » ... etwaigen territorialen Kompensationsansprüchen des Königreichs auf Kosten Frankreichs in wohlwollendster Weise entgegenzukommen.« Im letzten Augenblick wurde von Below angewiesen, diesen Bestechungsversuch zu streichen.
Wenn Belgien sich dem Durchmarsch der deutschen Truppen widersetze, schloß die Note, werde man es als Feind
betrachten, und die weiteren Beziehungen zu ihm würden »der Entscheidung der Waffen« überlassen bleiben. Eine »unzweideutige« Antwort wurde innerhalb von zwölf Stunden verlangt.
»Ein langes, trübes Schweigen von mehreren Minuten« folgte der Verlesung. Bassompierre faßte in Worte, was jeder Anwesende über die Entscheidung dachte, vor der sein Land jetzt stand. Gerade weil es ein kleines Land und seine Unabhängigkeit noch nicht alt war, hing es um so heftiger an ihr.
Aber keinem von den Männern, die hier beisammensaßen, brauchte man zu sagen, welche Folgen der Entschluß zur Verteidigung haben würde. Ihr Land würde vom Feind angegriffen, ihre Wohnungen würden zerstört werden, ihr Volk wäre Vergeltungsmaßnahmen einer Armee ausgesetzt, die zehnmal so stark war wie die ihre. Da bestand kein Zweifel, wie es für Belgien enden würde, das ja unmittelbar auf dem Durchmarschweg der Deutschen lag, gleichviel, wie der Krieg letztlich ausgehen mochte.
Wenn sie andererseits der deutschen Forderung nachgäben, würden sie sich gewissermaßen dem Angriff auf Frankreich anschließen und damit selbst ihre Neutralität verletzen; ganz abgesehen davon, bestünde nur geringe Wahrscheinlichkeit, daß die Deutschen je daran dächten, sich aus einem Land wieder zurückzuziehen, das sich mit einer deutschen Besetzung abgefunden hatte. Ein besetztes Land wären sie so und so; und Nachgeben würde bedeuten, daß sie auch noch ihre Ehre verlören.
»Wenn wir zugrunde gehen sollen«, gab Bassompierre den Gefühlen aller Ausdruck, »dann wollen wir ruhmvoll untergehen.« Im Jahre 1914 war »Ruhm« noch ein Wort, das man aussprechen konnte, ohne daß es peinlich wirkte, und Ehre war eine vertraute Vorstellung, an die das Volk glaubte.
Van der Elst brach das Schweigen. »Nun - sind wir bereit?« fragte er den Ministerpräsidenten. »Ja, wir sind bereit«, antwortete de Broqueville. »Ja«, wiederholte er, wie um sich selbst zu überzeugen, »nur eines fehlt - wir haben unsere schwere Artillerie noch nicht.«
Erst im vergangenen Jahr hatte die Regierung von einem widerstrebenden Parlament, das sich auf die Neutralität berief, mehr Gelder für militärische Zwecke erhalten. Der Auftrag für schwere Geschütze war an die deutsche Firma Krupp vergeben worden, die begreiflicherweise die Lieferung verzögert hatte.
Eine Stunde von den zwölfen war bereits vergangen. Während ihre Kollegen anfingen, alle Minister für einen Staatsrat zusammenzurufen, der um 21 Uhr abgehalten werden sollte, begannen Bassompierre und Gaiffier einen Entwurf für die Antwort auszuarbeiten. Sie brauchten einander nicht zu fragen, was darin stehen sollte. Ministerpräsident Broqueville überließ ihnen diese Aufgabe und begab sich ins Schloß, um den König zu unterrichten.
König Albert trug schwer an seiner Verantwortung als Herrscher und empfand daher jede Schwierigkeit besonders stark. Man hatte ihm nicht an der Wiege gesungen, daß er König werden würde. Als jüngerer Sohn eines jüngeren Bruders von König Leopold war er in einem Seitenflügel des Schlosses in der Obhut eines Schweizer Erziehers aufgewachsen, der alles andere als hervorragend war.
Das Farnilienleben der Coburger war nicht sehr heiter. Leopolds eigener Sohn starb; im Jahre 1891 starb auch Baudouin, Alberts älterer Bruder, und Albert rückte dadurch im Alter von 16 Jahren zum Thronerben auf. Der alte König, der verbittert war durch den Verlust seines Sohnes und Baudouins, auf den er seine väterlichen Gefühle überträgen hatte, hielt zunächst nicht allzuviel von Albert, den er einen »versiegelten Umschlag« nannte..
In diesem »Umschlag« aber befanden sich enorme körperliche und geistige Kräfte. Insofern war Albert vom gleichen Schlag wie seine beiden Zeitgenossen Theodore Roosevelt und Winston Churchill, denen er im übrigen gar nicht glich. Er blieb in sich gekehrt, während sie Extrovertierte waren; dennoch hatte er, wenn auch nicht dasselbe Temperament, so doch in vielem denselben Geschmack wie Roosevelt: Er liebte das Leben im Freien, den Sport, das Reiten und Bergsteigen, hatte Interesse für Naturwissenschaften und war ein leidenschaftlicher Leser.
Wie Roosevelt verschlang Albert bis zu zwei Bücher am Tag über alle möglichen Gegenstände - Literatur, Kriegskunde, Kolonialfragen, Medizin, Judentum und Luftfahrt. Er war Motorradfahrer und Flieger. Seine größte Leidenschaft war das Bergsteigen, dem er inkognito in ganz Europa frönte.
Als Kronprinz bereiste er Afrika, um koloniale Probleme aus erster Hand studieren zu können, als König befaßte er sich in der gleichen Weise mit der Armee, den Kohlengruben in der Borinage oder dem »roten Land« der Wallonen. »Wenn er spricht, sieht der König immer aus, als wolle er etwas aufbauen«, sagte einer seiner Minister.
Im Jahre 1900 heiratete er Elisabeth von Wittelsbach, deren Vater, der Herzog, als Augenarzt in den Münchner Krankenhäusern arbeitete. Ihre offensichtliche Liebe zueinander, ihre drei Kinder, ihr vorbildliches Familienleben, das in starkem Gegensatz zu den wenig erfreulichen Zuständen des alten Regimes stand, sicherten Albert die Sympathien des Volkes, als er 1909 zur allgemeinen Freude und Erleichterung König Leopolds Nachfolger wurde. Das neue Königspaar setzte sein schlichtes Leben fort, verkehrte mit den Leuten, die ihm paßten, und blieb gleichgültig gegenüber Gefahren, Etikette und Kritik. Es war ein Königspaar nicht so sehr mit bürgerlichem Lebensstil als vielmehr mit einem Einschlag von Boheme.
Auf der Militärschule war Albert gleichzeitig mit dem späteren Generalstabschef Emilie Galet Kadett gewesen. Als Schusterssohn hatte Galet die Schule mit Hilfe einer von seinem Heimatdorf aufgebrachten Spende besucht. Später wurde er Lehrer an der Kriegsakademie. Als er sich nicht länger mit der dort herrschenden unnachgiebigen Offensivtheorie einverstanden erklären konnte, die der belgische Generalstab von den Franzosen übernommen hatte, ohne die anders gelagerte Situation zu berücksichtigen, nahm er seinen Abschied.
Außerdem war Galet aus der katholischen Kirche ausgetreten und streng evangelisch geworden. Bei seiner pessimistischen, überkritischen und frommen Wesensart nahm er seinen Glauben genauso ernst wie alles andere - man erzählte sich, er lese täglich in der Bibel und lache nie.
Der König hörte seine Vorlesungen, begegnete ihm in Manövern und war von seiner Lehre beeindruckt: daß nämlich 'eine Offensive um ihrer selbst willen und um jeden Preis gefährlich sei', daß eine Armee nur dann die Schlacht suchen solle, »wenn Aussicht auf einen wichtigen Erfolg besteht, und daß ein Angriff überlegene Mittel erfordert«
Obwohl er noch immer nur Hauptmann war, aus einer Arbeiterfamilie stammte und in einem katholischen Land' zum Protestantismus übergetreten war, machte ihn König Albert zu seinem persönlichen 'militärischen Berater, eine -Stellung, die eigens für diesen Zweck geschaffen wurde.
Da der König nach der belgischen Verfassung erst bei Kriegsausbruch Oberbefehlshaber wurde, konnten er und Galet in der Zwischenzeit ihre Zweifel oder ihre strategische Konzeption dem Generalstab nicht aufzwingen. Dieser klammerte sich an das Beispiel von 1870, wo weder die preußischen noch die französischen Armeen auch nur um Fußbreite die belgische Grenze überschritten hatten, obwohl die Franzosen, wenn sie auf belgisches Gebiet ausgewichen wären, genügend Raum zum Rückzug gehabt hätten.
König Albert und Galet dagegen sahen in dem enormen Anwachsen der Armeen seit jener Zeit ein immer deutlicheres Zeichen dafür, daß die Völker, wenn sie erst wieder marschierten, sich über die alten Durchgangsstraßen ergießen müßten und einander wieder in der gewohnten Arena gegenüberstehen würden.
Der Kaiser war in dem Gespräch, das Leopold im Jahre 1904 so verblüfft hatte, in dieser Hinsicht mehr als deutlich geworden.
Nach seiner Rückkehr hatte sich bei Leopold der Schrecken allmählich wieder gelegt; denn Kaiser Wilhelm war ja - das bestätigte auch van der Elst, dem der König von der Unterredung berichtete - eine Wetterfahne; man wußte ja nie etwas Genaues. Bei einem Gegenbesuch in Brüssel im Jahre. 1910 äußerte sich der Kaiser dann auch tatsächlich sehr beruhigend. Belgien habe von Deutschland nichts zu befürchten, erklärte er van der Elst. »Sie werden keinen Grund haben, sich über die Deutschen zu beklagen... ich verstehe die Lage Ihres Landes sehr gut... ich werde es nie in eine peinliche Situation bringen.«
Im großen und ganzen glaubten ihm die Belgier. Sie nahmen ihre Neutralitätsgarantie ernst. Belgien hatte seine Armee vernachlässigt, ebenso wie die Verteidigung seiner Grenzen, seine Festungen und überhaupt alles, was das Vertrauen in den Schutzvertrag unnötig erscheinen ließ.
Der Sozialismus war das aktuelle Thema. Mangelndes öffentliches Interesse gegenüber den Ereignissen im 'Ausland und ein Parlament, dem die Wirtschaft alles war, hatten die Armee in einen Zustand versetzt, der an die Türkei erinnerte. Die Truppen waren undiszipliniert, träge und unordentlich, sie
vermieden es zu grüßen, marschierten nicht Im Glied und weigerten sich, Schritt zu halten...
Die belgische Armee bestand aus sechs Divisionen Infanterie und einer Kavalleriedivision. Das war alles, was man den 34 Divisionen würde entgegenstellen können, die von den Deutschen für den Durchmarsch durch Belgien vorgesehen waren ...
Bis 1910 gab es keinen Generalstab, und erst der neue König setzte ihn durch. Die Leistungsfähigkeit dieses Gremiums war durch hochgradige Uneinigkeit seiner Mitglieder stark eingeschränkt.
Eine Richtung unterstützte einen Offensivplan, der bei drohendem Krieg die Armee an den Grenzen zusammenzog. Eine andere war für eine Defensive bei einer Konzentration der Truppen im Innern des Landes. Eine dritte Gruppe, die hauptsächlich aus König Albert und Hauptmann Galet bestand, gab einer Defensive in größtmöglicher Nähe der bedrohten Grenze den Vorzug, wobei jedoch die Verbindungslinien mit dem befestigten Stützpunkt Antwerpen nicht gefährdet werden durften.
Während der europäische Himmel sich verdunkelte, stritten die belgischen Generalstabsoffiziere miteinander herum - und unterließen es dabei, einen Plan für die Konzentrierung der Truppen fertigzustellen. Dadurch, daß sie geflissentlich näher zu bestimmen vermieden, wer der Feind sein würde, wurde die Sache für sie nur noch schwieriger. Man einigte sich schließlich auf einen Kompromißplan, der allerdings nur in Umrissen bestand und weder Eisenbahnfahrpläne enthielt noch Nachschubdepots oder Quartiere vorsah.
Im November 1913 wurde König Albert, genau wie sein Onkel neun Jahre vor ihm, nach Berlin eingeladen. Der Kaiser gab ihm zu Ehren ein fürstliches Essen an einer mit Veilchen geschmückten Tafel, die für 55 Gäste gedeckt war. Unter ihnen befanden sich der Kriegsminister, Generalleutnant Falkenhayn, der Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Großadmiral Tirpitz, der Generalstabschef, General Moltke, und Reichskanzler Bethmann Hollweg.
Der belgische Gesandte, Baron Beyens, der gleichfalls daran teilnahm, stellte fest, daß der König während des Essens außergewöhnlich ernst dasaß. Nach dem Diner beobachtete Beyens, wie Albert sich mit Moltke unterhielt und wie sich sein Gesicht beim Zuhören immer stärker umwölkte: Als er aufbrach, sagte er zu Beyens: »Kommen Sie morgen um neun. Ich muß mit Ihnen sprechen.«
Am Vormittag ging der König mit Beyens durch das Brandenburger. Tor, an all den Hohenzollern aus weißem Marmor in ihren heroischen Attitüden vorbei, die der Morgennebel gnädig verhüllte.
Sie spazierten im Tiergarten, wo sie »ungestört« sprechen konnten. Bei einem Hofball zu Beginn des Besuches habe er, sagte Albert, seinen ersten Schrekken- bekommen, als der Kaiser ihm einen General gezeigt habe - es war von Kluck -, der dazu bestimmt sei, »den Marsch auf Paris zu kommandieren«. Dann habe ihn der Kaiser vor dem Diner am vergangenen Abend zu einem persönlichen Gespräch beiseite genommen, bei dem er sich in hysterischen Ausfällen gegen Frankreich ergangen habe.
Nie höre Frankreich auf, ihn zu provozieren, sagte Wilhelm. Infolge der französischen Haltung sei ein Krieg nicht nur unvermeidlich -er stehe nahe bevor. Die französische' Presse äußere sich boshaft über Deutschland, die Einführung der dreijährigen Dienstpflicht sei ein bewußt feindlicher Akt, und ganz Frankreich sei von einem unstillbaren Durst nach Revanche erfüllt.
Albert versuchte, den Erguß einzudämmen, und erklärte, er kenne die Franzosen besser; er fahre jedes Jahr nach Frankreich und könne dem Kaiser versichern, daß die Franzosen keine Angriffsgelüste hätten, sondern sich aufrichtig nach Frieden sehnten. Doch vergebens: Der Kaiser blieb bei seiner Behauptung, Krieg sei unvermeidlich.
Nach dem Essen griff Moltke dasselbe Thema auf. Ein Krieg mit Frankreich stehe bevor. »Dieses Mal müssen wir die Sache zu Ende bringen. Euer Majestät können sich nicht vorstellen, welche Begeisterung Deutschland ,an dem Tag' durchströmen wird.« Die deutsche Armee sei unbesiegbar - so fuhr Moltke fort -, nichts könne dem Furor teutonicus standhalten; furchtbare Zerstörung werde seinen Weg bezeichnen; an seinem Sieg könne niemand zweifeln. Beunruhigt wegen der Motive dieser aufregenden Geständnisse wie auch ihres Inhalts wegen, konnte Albert nur einen Schluß daraus ziehen: Die Absicht war, Belgien einzuschüchtern, um es verständigungsbereit zu machen. Offensichtlich waren die Deutschen fest entschlossen; deshalb glaubte er, die Franzosen warnen zu müssen. Er trug Beyens auf, Jules Cambon, dem französischen Botschafter in Berlin, alles zu erzählen und ihm nahezulegen, die Angelegenheit ungeschminkt an Präsident Poincaré weiterzuberichten ... Trotz seiner Entmutigung blieb der König bei seiner Politik, die er unmittelbar nach seinem Berliner Besuch niedergelegt hatte: »Wir sind entschlossen, jeder Macht sofort den Krieg zu erklären, die willentlich unser Gebiet verletzt, mit aller Kraft und mit allen unseren militärischen Hilfsmitteln Krieg zu führen, wo immer es erforderlich sein wird, auch jenseits unserer Grenzen, und unsere Anstrengungen fortzusetzen, selbst wenn der Eindringling sich zurückzieht, bis ein allgemeiner Frieden geschlossen ist.«
Am 2. August eröffnete König Albert als Vorsitzender des Staatsrates, der um' 21 Uhr im Schloß zusammentrat, die Sitzung mit den Worten: »Unsere Antwort muß 'Nein' sein, was auch immer daraus folgt. Es ist unsere Pflicht, die Integrität unseres Gebietes zu verteidigen. Hierin dürfen wir nicht versagen.«
Ministerpräsident de Broqueville warnte alle Unschlüssigen davor, Deutschlands Zusicherung, die belgische Integrität nach dem Krieg wiederherzustellen, Glauben zu schenken. »Wenn Deutschland siegreich ist«, sagte er, »dann wird Belgien dem deutschen Reich angegliedert werden, wie auch immer es sich verhalten hat« ...
Um Mitternacht wurde die Sitzung vertagt, während ein Ausschuß, bestehend aus dem Ministerpräsidenten, dem Außenminister und dem Justizminister, ins Außenministerium zurückkehrte, um einen Entwurf auszuarbeiten.-Während sie an der Arbeit waren, fuhr draußen im' dunklen Hof unter der Fensterflucht, die als einzige erleuchtet war, ein Wagen vor. Den erstaunten Ministern wurde der Besuch des deutschen Botschafters angekündigt. Es war 1.30 Uhr morgens. Was konnte er um diese Stunde wollen?
Herr von Belows nächtliche Unrast spiegelte die zunehmende Unsicherheit seiner Regierung hinsichtlich der Wirkung ihres Ultimatums wider, das nun unwiderruflich zu Papier gebracht war und mit dem sich ebenso unwiderruflich der belgische Nationalstolz auseinandersetzen mußte.
Die Deutschen hatten einander jahrelang gesagt, daß Belgien nicht kämpfen werde; aber jetzt, wo es ernst wurde, bekamen sie es plötzlich, wenn auch verspätet, mit der Angst zu tun. Ein lautes, kräftiges »Nein!« von Belgien würde durch die ganze Welt hallen und auf die anderen neutralen Länder bestimmt keinen für Deutschland günstigen Einfluß ausüben.
Aber Deutschland sorgte sich nicht so sehr um die Haltung der Neutralen wie um die Verzögerung, die ein bewaffneter belgischer Widerstand seinem Zeitplan zufügen würde. Eine belgische Armee, die zu kämpfen vorzog, statt »sich längs der Straße aufzustellen«, würde das Abzweigen von Divisionen erfordern, die man für den Marsch auf Paris brauchte. Durch Zerstörung von Bahnlinien und Brücken konnten sie die deutschen Marschwege und die Versorgung unterbrechen und Anlaß zu unendlichen Scherereien werden.
Geplagt von solchen unangenehmen Überlegungen hatte die deutsche Regierung Herrn von Below mitten in der Nacht ausgeschickt, um die belgische Antwort durch weitere Anklagen gegen Frankreich zu beeinflussen. Dieser teilte van der Elst, der ihn empfing, mit, daß französische Luftschiffe Bomben abgeworfen und französische Patrouillen die Grenze überschritten hätten.
»Wo hat sich das abgespielt?« fragte van der Elst.
»In Deutschland«, war die Antwort. »In dem Fall sehe ich nicht, wieso diese Mitteilung uns betrifft.«
Der deutsche Botschafter versuchte zu erklären, daß die Franzosen das Völkerrecht nicht achteten und man deshalb von ihnen auch eine Verletzung der belgischen Neutralität erwarten könne. Doch dieser geniale Versuch einer logischen Beweisführung kam irgendwie nicht recht zum Ziel.
Frühmorgens um 2.30 Uhr trat der Rat wieder im Schloß zusammen, um die von den Ministern vorgelegte Antwort an Deutschland zu genehmigen. In der Erklärung hieß es, daß die belgische Regierung »die Ehre der Nation opfern und »ihre Pflichten Europa gegenüber verletzen würde«, wenn sie die deutschen Vorschläge annähme. Belgien erklärte sich »fest entschlossen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln jeden Angriff auf seine Rechte zurückzuweisen«.
Nachdem das Dokument unverändert gebilligt worden war, trat der Rat in die Diskussion über die Forderung König Alberts ein, kein Beistandsgesuch an die Garantiemächte zu richten, ehe nicht die Deutschen tatsächlich belgischen Boden beträten. Trotz starker Widerstände setzte der König seinen Willen durch. Um 4 Uhr morgens ging der Rat auseinander ...
Auch in Berlin wurde in jener Nacht des 2. August eine späte Sitzung abgehalten. Im Hause des Reichskanzlers berieten Bethmann Hollweg, Generalstabschef von Moltke und Großadmiral Tirpitz über eine Kriegserklärung an Frankreich, wie sie in der Nacht zuvor über die an Rußland beratschlagt hatten.
Tirpitz beklagte sich »wiederholt«, er könne nicht verstehen, wieso diese Kriegserklärungen nötig seien. Sie hätten doch immer einen »aggressiven Beigeschmack«, und die Armee könne »auch ohne solche bis zur französischen Grenze marschieren«. Bethmann wies darauf hin, daß eine Kriegserklärüng an Frankreich nötig sei, weil Deutschland durch Belgien marschieren wolle.
Tirpitz griff erneut die Warnung Lichnowskys auf, des deutschen Botschafters in London, daß eine Invasion in Belgien London in den Krieg ziehen werde; er schlug vor, den Einmarsch nach Belgien aufzuschieben. Moltke erschrak über diesen neuen Angriff auf seinen Zeitplan und erklärte sofort, das sei »ausgeschlossen«; der »Mechanismus der Transporte« dürfe durch nichts gestört werdern
Er selbst, so betonte Moltke, messe Kriegserklärungen keinen großen Wert bei. Feindliche Akte Frankreichs während dieser Tage hätten den Krieg ohnehin zur Tatsache gemacht. Dabei bezog er sich auf die angeblichen Berichte von französischen Bombenabwürfen im Gebiet von Nürnberg, die die deutsche Presse einen ganzen Tag lang in Extrablättern ausgestreut hatte, mit dem Erfolg, daß die Leute in Berlin herumliefen und ängstlich zum Himmel hinaufschauten. In Wirklichkeit hatten keine Bombardierungen stattgefunden ... Tirpitz bedauerte die deutschen Kriegserklärungen immer noch. Niemand in der Welt könne daran zweifeln, meinte er, daß die Franzosen »mindestens intellektuell die Angreifer« seien; aber da die deutschen Politiker sorglos genug seien, die Welt darüber nicht aufzuklären, müsse die Invasion in Belgien, diese »reine Notwehrmaßregel«, ungerechterweise »in das verhängnisvolle Licht eines brutalen Gewaltschrittes« kommen.
Nachdem der Staatsrat in Brüssel am 3. August um 4 Uhr morgens beendet war, kehrte Davignon ins Außenministerium zurück und beauftragte seinen Unterstaatssekretär für politische Fragen, Baron de Gaiffier, dem deutschen Botschafter die belgische Antwort zu überbringen. Punkt 7 Uhr, genau in der letzten Minute der Zwölf-Stunden-Frist, läutete Gaiffier an der Tür der Deutschen Botschaft und übergab Herrn von Below die Antwortnote.
Auf seinem Heimweg hörte er die Zeitungsjungen die Montagmorgenblätter mit dem Text des Ultimatums und der belgischen Antwortnote ausrufen.
Er vernahm die hitzigen Äußerungen der Leute, als sie die Nachricht lasen und sich in aufgeregten Gruppen sammelten.
Belgiens entschiedenes »Nein« belebte die Öffentlichkeit. Viele gaben ihrer Überzeugung Ausdruck, Deutschland werde sich dadurch doch noch zur Rücksicht auf die belgische Neutralität veranlaßt sehen, um nicht die Kritik der Welt herauszufordern. »Die Deutschen sind gefährlich, aber wahnsinnig sind sie nicht«, war der allgemeine Tenor.
Selbst im Schloß und in den Ministerien hatte man noch einige Hoffnung; es war schwer zu glauben, die Deutschen würden es ganz bewußt auf sich nehmen, den Krieg damit zu beginnen, daß sie'sich selbst ins Unrecht setzten.
Die letzte Hoffnung jedoch schwand, als am Abend des 3. August die verspätete Antwort des Kaisers auf den persönlichen Appell König Alberts von vor zwei Tagen eintraf. Sie stellte einen weiteren Versuch dar, die Belgier zum kampflosen Nachgeben zu bewegen.
»Nur mit den freundlichsten Absichten Belgien gegenüber«, telegraphierte der Kaiser, habe er diese schwere Forderung gestellt. »Wie die dargelegten Bedingungen deutlich zeigen, liegt die Möglichkeit, unsere früheren 'und gegenwärtigen Beziehungen aufrechtzuerhalten, noch immer in den Händen Eurer Majestät.«
»Wofür hält er mich eigentlich?« rief König Albert aus, indem er zum ersten Male seit Beginn der Krise seinem Ärger freien Lauf ließ. Er übernahm das Oberkommando und gab-sofort den Befehl, die Brücken über die Maas bei Lüttich und die Eisenbahntunnel und -brücken an der luxemburgischen Grenze zu sprengen. Noch immer schob er es auf, England und Frankreich um militärische Hilfe und Aufnahme in ihr Bündnis zu bitten.
Die belgische Neutralität war ein Kollektivakt der europäischen Mächte gewesen, dem beinahe Erfolg beschieden gewesen wäre. König Albert konnte es nicht über sich bringen, ihren Totenschein zu unterschreiben, solange die Invasion noch nicht Tatsache geworden war.
IM NÄCHSTEN HEFT:
»In Europa gehen die Lichter aus
- Deutscher Einmarsch in Belgien
- Englisches Ultimatum an Berlin
Deutsche Rechte im Scherz Verlag; Bern,
Stuttgart.
Kaiser Wilhelm II., König Albert I. in Brüssel (1910): »Dieses Mal müssen wir die Sache zu Ende bringen«
Botschafter von Below
»Ich bin ein Unglücksrabe«
Belgien-Durchquerer Cäsar
»Für Armeen aller Nationen...
Belgien-Durchquerer Napoleon
... ein Land als Durchgangsstraße«
König Albert, Königin Elisabeth: »Mit einem Einschlag von Bohème«
Deutsche Soldaten beim Einmarsch in Belgien: »An ihrem Sieg kann niemand zweifeln«
Belgische Soldaten vor dem deutschen Einmarsch: »Marschierten nicht in Reih und Glied«
Alliierte Belgien-Propaganda*
»Die Deutschen sind nicht wahnsinnig«
Premier de Broqueville
»Trübes Schweigen ...
Außenminister Davignon ... von mehreren Minuten«
Gesprengte Maas-Brücke 1914: »Unsere Antwort muß 'Nein' sein«
Extrablatt vom 2. August 1914
»Ängstliche Blicke zum Himmel«
* Werbeplakat der englischen Whisky-Firma Johnnie Walker mit einer Zeichnung der belgischen Stadt Löwen nach deutschem Artilleriebeschuß.