»Dann geh doch!«
Irgend etwas kommt immer dazwischen. Erst war es Oskar Lafontaine, der die Reformer um Kanzler Gerhard Schröder untätig erstarren ließ. Dann kam der Krieg im Kosovo, der die ganze Kraft des Regierungschefs forderte.
Was wird den Kanzler als nächstes davon abhalten, das zu tun, wofür er gewählt wurde: das Land und seine Wirtschaft, die überbordenden Sozialsysteme und sein leistungsfeindliches Steuersystem grundlegend zu reformieren - kurz: Deutschland zukunftsfähig zu machen?
Mit der wohlklingenden Formel von der »neuen Mitte«, die nach Aufbruch, Modernisierung und Innovation klingen soll, hatte Gerhard Schröder im Wahlkampf für die SPD eine neue Klientel gewonnen. Die Formel war ein Versprechen: Die Probleme des Landes sollten ohne ideologische Scheuklappen angegangen werden. Es blieb beim Versprechen - was sich hinter der flotten Formel verbirgt, ist heute unklarer denn je. Auch 31 Wochen nach dem Wahlsieg und 8 Wochen nach dem Abtritt seines Widersachers Oskar Lafontaine ist Schröder ein Kanzler ohne klares Kursziel.
Im Grabenkrieg der beiden SPD-Granden faszinierte vor allem die Frage: Wer gewinnt? Nun, ohne den Rivalen, konzentriert sich alles auf den Regierungs- und Parteichef Schröder. Doch die Fragen sind eher lauter geworden: Wieviel Kraft hat er, der SPD einen Reformkurs aufzuzwingen? Und will er das wirklich?
Was getan werden muß, ist unter nahezu allen Ökonomen unumstritten: Der Sozialstaat muß umgebaut werden - weil er immer weniger zu finanzieren ist und dabei sein eigentliches Ziel auch noch verfehlt: den wirklich Bedürftigen zu helfen. Das Steuersystem muß entrümpelt, die Steuersätze müssen gesenkt werden - sie hemmen das Wachstum, ersticken die Eigeninitiative und fördern die Schwarzarbeit.
Wie will Schröder diese versprochene Modernisierung angehen? Ein paar Vorgaben ("Wir müssen ein Reformkabinett sein"), ein Wirtschaftsminister aus der Wirtschaft (erst Stollmann, dann Müller) - mehr zu leisten, war er bisher kaum bereit. Schröder setzte auf den Zeitgeist, hoffte auf die Konjunktur, den richtigen Ruck soll die Diskussion am Runden Tisch der Bündnisgespräche bringen.
Doch nichts ruckt, im Gegenteil: Die alte SPD muckt auf - und zeigt immer deutlicher, daß sie von ihrem Kanzler und seinen Vorstellungen nichts hält.
Mit Hingabe debattierten die Genossen über neue Steuererhöhungen, nach der Ökosteuer ist nun die Mehrwertsteuer dran - statt zunächst zu fragen, wo gespart werden kann.
Im Schatten des Kosovo-Krieges erringen vor allem die Sozialpolitiker erstaunliche Siege: Sie vernichten viele 630-Mark-Jobs, weil sie diese abgabenpflichtig - und damit unattraktiv - machen. Sie gängeln Selbständige durch höhere Abgaben und mehr Bürokratie, weil sie die angebliche Gefahr der Scheinselbständigkeit bekämpfen wollen. Und sie demütigen den Kanzler.
Auf der letzten Fraktionssitzung, in der Schröder für eine Änderung der aktuellen Sozialgesetze warb, protestierten sie. Und als Schröder noch immer für Korrekturen votierte, fiel jener schmerzhafte Satz, den der Kanzler zunächst kaum fassen konnte: »Dann geh doch.«
Der Kanzler mag im Wahlkampf erfolgreich Wähler der neuen Mitte geworben haben, eine Partei der neuen Mitte führt er nicht: In der Fraktion hat die alte SPD das Sagen, die Partei der Lehrer, der Gewerkschaften und der Sozialpolitiker - eine Koalition der Besitzstandswahrer, die jede Änderung des Status quo bekämpft.
Noch verdeckt der Krieg die Misere. Wochenlang konnte der Kanzler, der mittlerweile zum Kriegsherrn mutierte, den trüben Start in Bonn verdrängen. Im Kosovo-Konflikt zeigte er plötzlich ungeahnte Führungsstärke, vergessen waren die Bilder vom Kaschmir-Kanzler, von Cohiba, Chablis und »Wetten, daß...?«
Auch die Mitglieder des rot-grünen Kriegskabinetts demonstrierten erstaunliche Geschlossenheit. Alles andere ging derweil im medialen Grundrauschen unter. Die Abendnachrichten wurden bestimmt von Marschflugkörpern und Flüchtlingsströmen - nicht von Atomausstieg oder Steuerwirrwarr.
Wenn der Krieg abklingt, wird spürbar werden, daß die Regierung in der Innenpolitik lediglich Luftlöcher produzierte - große Turbulenzen um nichts. Wirbelkanzler Schröder kann bei seinem wichtigsten Vorhaben, dem Abbau der Arbeitslosigkeit, kaum etwas vorweisen.
Der Umbau des Sozialstaats - kommt später. Der Niedriglohnsektor - wird noch diskutiert. Die große Rentenreform - derzeit kein Thema. Das Bündnis für Arbeit - ein Debattenzirkel mit ungewissem Ausgang.
An keiner Stelle ist seiner Regierungsmannschaft bisher der Durchbruch gelungen. Schlimmer noch: Nicht mal eine Druckstelle ist erkennbar, an der sich ein künftiger Durchbruch abzeichnet.
Erstmals ist sogar eine gewisse Verzagtheit im Reformerlager spürbar. Die große Erneuerung des Rentensystems, von allen Experten aufgrund der Altersstruktur der Gesellschaft als zwingend angesehen, wird es mit Schröder womöglich gar nicht geben.
»Laß mir die Rentner in Ruhe«, befahl er seinem Arbeitsminister. Die Begründung für die neue Vorsicht liefern die Schröder-Getreuen nach: »Wenn der Riester das Thema anpackt, treibt es uns schon heute den Angstschweiß auf die Stirn.«
* Auf dem SPD-Bundesparteitag am 2. Dezember 1997 in Hannover.
Die Zustimmung zur Regierungskoalition ist bereits gesunken - minus sieben Prozentpunkte seit Jahresende, sagt Infratest. Fänden morgen Neuwahlen statt, wäre die Mehrheit womöglich dahin.
Die neue Mitte ist offenbar enttäuscht: Dienstleister Schröder hat ihr derzeit keine überzeugende Performance zu bieten.
Die Wähler wollten Entscheidungen - und bekamen neue Gremien. Ihnen wurde ökonomische Modernisierung versprochen, und sie erleben die Renaissance einer sozialen Verteilungsdebatte, die schon in der Ära Helmut Schmidt die Partei (nicht den Kanzler) dominierte. Sie gaben der Regierung in den Umfragen eine zweite Chance und müssen nun mit ansehen, wie die Bonner Truppe mit geradezu grimmiger Entschlossenheit dabei ist, sie zu verspielen.
Allmählich erkennt der Aufsteiger Schröder, bisher gesegnet mit Glück und einem unausrottbaren Situationscharme, daß der Aufstieg zum Reformkanzler so nicht glücken kann. Selbst der Abgang von Lafontaine, im Kanzleramt als Geschenk des Himmels empfunden, brachte nicht den erhofften Klimawechsel.
Wie auch? Lafontaine ist überall: In der Partei, die sich auf Willy Brandt und August Bebel beruft, haben die Traditionalisten das Sagen. Auch in der Bundestagsfraktion, repräsentiert, aber nicht geführt von Peter Struck, stellen sie die Mehrheit.
Die meisten sind keine Überzeugungstäter, nur eben Apparatschiks, die den Parteitagsbeschluß mehr lieben als die Macht, die ihre Arbeitsgruppe in der Fraktion als zweite Heimat empfinden, die sich ernsthafte Sorgen vor allem dann machen, wenn daheim im Wahlkreis sich was zusammenbraut.
Der echte Traditionssozi ist an zwei schlichten Glaubenssätzen zu erkennen: 1. Wir haben kein Ausgaben-, sondern ein Einnahmenproblem in der Sozialversicherung; 2. Wir müssen wieder Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herstellen.
Die SPD-Bundestagsfraktion ist gleichsam der verlängerte Arm der Sozialstaatsmafia. Unternehmer gibt es hier nicht, dafür aber Gewerkschafter, die jeden Firmengründer gern reflexartig zum Feind erklären.
Wer die Eigenverantwortung stärken, den Leistungswillen fördern, die Steuerschraube zurückdrehen will, hat in der SPD seinen Stallgeruch schnell verloren.
Das Netzwerk der Status-quo-Freunde ist engmaschig gestrickt. Die Wohlfahrtsverbände, die Landesanstalten der Rentenversicherung, die Sozialbehörden in Ländern und Kommunen, die kirchliche Sozialarbeit, Krankenkassen und Gewerkschaften bilden ein Geflecht, das zusammen Hunderttausende Menschen beschäftigt, die vom wuchernden Sozialstaat prächtig leben.
Vom örtlichen Arbeitsamt bis zur Landesversicherungsanstalt sind die Posten unter den großen Parteien verteilt. Und paßt der Proporz nicht, wird eben noch ein Posten geschaffen.
Zur teuer bezahlten Wählerschaft der SPD gehören 350 000 Mitarbeiter der Sozialversicherungen. Viele von ihnen leben im wesentlichen davon, daß die Rehabilitation chronisch Kranker von der Rentenkasse verwaltet wird.
Die Sozialstaatsmafia konnte bisher noch jede größere Reform verhindern, sie ist in beiden großen Parteien und in den Gewerkschaften zu Hause. Unter Bundeskanzler Helmut Kohl hatte sie mit Arbeitsminister Norbert Blüm einen besonders streitbaren Vertreter.
Besonders inzestuös aber ist die Beziehung zwischen Genossen und Gewerkschaften. Von 298 SPD-Abgeordneten im Bundestag haben 244 einen Gewerkschaftspaß. Verkehrsminister Franz Müntefering ist bei der IG Metall, Bildungsministerin Edelgard Bulmahn in der GEW, Justizministerin Herta Däubler-Gmelin in der ÖTV. Dort hat auch der Kanzler seine Lektionen gelernt.
Acht Millionen Mark an Mitgliedsbeiträgen pumpten die Arbeitnehmervertreter in den Wahlkampf Schröders. Dafür verlangen sie jetzt ein Vielfaches an Gegenleistung. Artig holte Schröder, kaum gewählt, Reformen bei Rente und Lohnfortzahlung zurück.
Der Trugschluß des Kanzlers: Im Gegenzug würden die Funktionäre Zugeständnisse beim Bündnis für Arbeit machen, etwa Zurückhaltung bei den Tarifverhandlungen üben. Von wegen. IG-Metall-Vize Jürgen Peters kündigte weiteren Krawall an.
Und für seine Ideen zur Schaffung von Tariffonds erntete Minister Riester die heftigste Kritik von der Heiligen Johanna der Sozialkassen, DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer.
Das Sagen haben, in der Fraktion und in den Gewerkschaftszentralen, die Traditionalisten, die die Welt in Gut und Böse, in Arbeitnehmer und Unternehmer einteilen. Ihr Weltbild ist fest gefügt, wer es anzweifelt, ein Neoliberaler.
Doch gerade die Arbeitswelt hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch gewandelt. Die Betriebe müssen weit flexibler auf Veränderungen reagieren, sie gliedern immer mehr Arbeiten und ganze Abteilungen aus. Großkonzerne prägten das Industriezeitalter, das Informationszeitalter orientiert sich am Leitbild des - mehr oder weniger - selbständigen Menschen.
Die Sozialsysteme sind auf diesen Wandel nicht vorbereitet und die Gewerkschaften schon gar nicht - sie fürchten um Macht und Einfluß, um ihre Existenz. Und so verteidigen sie, unterstützt von ihren Bundesgenossen in den Parteien, den Status quo, wo sie nur können.
Zunächst galt es, all das zu beseitigen, was die alte Koalition an zaghaften Reformen auf den Weg gebracht hatte: die Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Lockerung des Kündigungsschutzes, die demographische Komponente im Rentensystem. Und die SPD-Fraktion machte willig mit.
Dann sollte die schöne alte Arbeitswelt wieder restauriert werden. Da störten die wachsende Zahl von 630-Mark-Jobs und die vielen Mehr-oder-weniger-Selbständigen, die sich den Sozialabgaben entziehen.
Daß mit solchen Gesetzen der Spielraum des einzelnen eingeschränkt wird, nehmen die Traditionalisten in Kauf. Sie dominieren die SPD-Fraktion, und die wiederum ist der größte Machtfaktor im Regierungslager, durch schlichte Behäbigkeit bestimmt sie das Tempo: vorwärts im Kriechgang.
Das Gedankengut des Weltökonomen Lafontaine wirkt hier noch nach. Schließlich klangen die Worte, mit denen der begnadete Redner die Genossen in seinen Bann zog, allzu verlockend: Von schmerzhaften Strukturreformen war da nichts zu hören, viel dagegen von den Fehlern der Geldpolitik.
Bei den Sozialexperten regiert noch immer die alte Garde - so war Ottmar Schreiner, 53, lange Jahre der Jüngste im Arbeitskreis Soziales der Fraktion. Die Hüter der Programmbeschlüsse sind auch deswegen so mächtig, weil die Materie kompliziert ist, das Vokabular abschreckend, die Experten-Szenerie grau und ernst. Wer weiß schon, was »Eckrentner«, »Auffüllbeträge« oder »Festbeträge« wirklich sind?
So gibt das einflußreiche Experten-Kartell aus Oppositionszeiten noch heute den Ton an. SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler erntet im Präsidium auch deshalb sowenig Widerspruch, so ein Mitglied des Gremiums, weil kaum jemand fachlich gegenhalten könne.
Wie weit sich die rot-grünen Machthaber mit solchem Denken von der Wirklichkeit entfernt haben, erleben sie jetzt: Überall im Land erhebt sich der Protest gegen die bürokratischen Gesetze. Tenor: Rot-Grün, beseelt vom Willen zu mehr sozialer Gerechtigkeit, hat es zwar gut gemeint, aber schlecht gemacht. Die Bevölkerung scheint zu spüren, was viele in Bonn nicht spüren wollen: Der Sozialstaat alter Prägung hat sich selbst übersteuert, er muß reformiert werden - weniger Geld, weniger Regeln, mehr Effizienz.
Das Debakel der neuen Sozialgesetze regt die Deutschen derzeit auf wie kaum ein zweites Thema: Die Regeln für die 630-Mark-Jobs haben eine Kündigungswelle bei Kellnern, Zeitungsausträgern und Taxifahrern ausgelöst. Über fünf Millionen Menschen üben einen solchen Job aus, wer daneben noch ein weiteres Einkommen hat, muß die 630 Mark künftig besteuern. Da bleibt am Ende manchmal nur noch ein Stundenlohn von acht Mark.
»Eine noch nie dagewesene Kündigungswelle« erwartet deshalb Peter Imberg, Hauptvertriebsleiter der WAZ-Gruppe. Künftig bekommen viele seiner 6700 Austräger nur noch knapp 400 Mark ausbezahlt. »Für viele lohnt sich die Arbeit nicht mehr«, sagt er. »Wir wissen nicht, wie wir unsere Zeitungen zugestellt bekommen.« Ein Drittel der Austräger hat bereits mit Kündigung gedroht.
Das Ziel der Bundesregierung, die Zerschlagung fester Arbeitsverhältnisse in 630- Mark-Jobs zu stoppen, geht nach Imbergs Meinung bei den Zeitungsverlagen ins Leere: »Zusteller kann ich nicht im Vollzeitjob beschäftigen. Niemand will nachmittags um vier die Zeitung im Kasten haben.« Die WAZ müßte 1000 Mark ausgeben, um den Betroffenen nach der neuen gesetzlichen Regelung die 630 Mark zu bezahlen, die sie vorher bekommen haben.
So ist es in vielen Branchen, die auf Aushilfen angewiesen sind - etwa in der Gastronomie oder im Taxigewerbe. »Dutzendweise« haben bei Hansa-Taxi in Hamburg die Aushilfen gekündigt, sagt Vorstand Manfred Gieselmann. Einige seiner Kollegen hätten bereits Taxen stillgelegt, »weil ihnen die Leute fehlen«. Der Hamburger Taxenchef fürchtet jetzt, daß an Wochenenden einfach weniger Taxen unterwegs sein werden, »weil wir keine Fahrer kriegen«.
Vielen Einzelhandelsbetrieben geht es genauso, auch die Reinigungsbranche arbeitet in großem Maße mit 630-Mark-Kräften. Diese Dienstleistungen werden nun teurer - oder sie werden schwarz angeboten. Dann hat der Staat weniger als zuvor.
Ebenso gut gemeint und ebensowenig durchdacht ist das Gesetz gegen die Scheinselbständigkeit. Es will verhindern, daß Unternehmen Arbeiten auf unechte, also Scheinselbständige verlagern, um Sozialabgaben zu sparen. Die Regierung übersieht dabei, daß nicht mehr die Festanstellung, sondern die Selbständigkeit für viele das Ziel ist. Die müssen künftig umständlich und bürokratisch beweisen, daß sie zum Beispiel nicht nur von einem Auftraggeber abhängig und somit wirklich selbständig sind.
Eine Korrektur der Chaos-Gesetze ist dem Kanzler bisher nicht gelungen. Riester stellte sich stur, eine aufgebrachte SPD-Fraktion versagte in der vorvergangenen Woche ihrem Kanzler die Gefolgschaft. Schröder registrierte bei den Sozialpolitikern sogar ein Gefühl des Triumphs. Ein Riester-Mitarbeiter nach der Sitzung: »Jetzt haben wir''s euch mal gezeigt.«
Seine engsten Berater nahmen diese Niederlage verärgert zur Kenntnis: »Das Gesetz«, so Kanzleramtsminister Bodo Hombach, »wirkt ähnlich wie ein viel zu starkes Pestizid. Das vernichtet nicht nur Schädliches, sondern Nützliches. Wir wollten die Scheinselbständigkeit bekämpfen und nicht die Selbständigkeit.« Mit dem Scheinselbständigen-Entschluß habe sich die Koalition einen »richtigen Tort« angetan.
Auf Umwegen soll wenigstens eine Korrektur des 630-Mark-Gesetzes erreicht werden: Eine neue Expertenkommission, mit dem Präsidenten des Arbeitsgerichtshofs an der Spitze, wurde von Schröder zur Beobachtung des Gesetzes eingesetzt.
Die SPD-Landeschefs hat Schröder auf seiner Seite. Am vergangenen Donnerstag abend beschlossen die SPD-Ministerpräsidenten, ebenfalls Gegner des Gesetzes, bei einem Treffen im Kanzleramt ein trickreiches Vorgehen.
Die Länder Bayern und Baden-Württemberg hatten einen Antrag eingebracht, der das Gesetz außer Kraft setzen wollte. Mit Rücksicht auf Riester konnten die SPD-Politiker dem Antrag zwar nicht zustimmen, aber sie lehnten ihn auch nicht ab - sie verwiesen das strittige Werk in die Ausschüsse des Bundesrats, und dort soll es in einigen Wochen gekippt werden. Politik paradox.
Die Genese des Gesetzes zur Scheinselbständigkeit zeigt, wie raffiniert die Sozialpolitiker alten Schlages agieren - und wie sie dabei den Kanzler vorführen.
In dem Papier aus dem Hause Riester stehe nichts Brisantes drin, hieß es von dort. Die Lektüre könne man sich sparen. Es sei ein alter Blüm-Entwurf, es ginge lediglich um die Umsetzung von Richterrecht in Gesetzesform, nicht der Rede wert.
In einer Umlaufmappe wurde der Gesetzestext von Ministerium zu Ministerium gereicht, überall zeichneten nur die Staatssekretäre gegen. Außer Riester hatte kein hochrangiges Kabinettsmitglied das Gesetz gelesen.
Es rangierte folgerichtig auf der Tagesordnung des Kabinetts unter der Überschrift »Gesetze ohne Aussprache«. »Das ganze Thema«, erinnert sich ein Minister, »hat keine Sau interessiert.«
Auch bei der 630-Mark-Debatte haben sich die Regierenden schlicht verkalkuliert. Viele in der SPD hätten die ehemals abgabenfreien Mini-Jobs am liebsten abgeschafft. Noch in den Koalitionsverhandlungen wurde eine rigide Lösung verabredet: Sozialabgabenpflicht plus Steuerlast für alle.
Den Grünen war diese Lösung schon damals nicht geheuer. Deren Sozialpolitiker verstehen sich als Anwälte der Jobhopper, der Teilzeitkräfte oder der neuen Selbständigen, die mal fest, mal freiberuflich ihr Geld verdienen. Der Wandel der Erwerbsbiographien war stets ihr Thema, das alte SPD-Leitbild vom Facharbeiter mit Vollzeit-Job auf Lebenszeit gilt ihnen als antiquiert.
Doch die vom Wahlsieg überraschten Grünen hielten still - die Einnahmen sollten teilweise ihrer Gesundheitsministerin Andrea Fischer zukommen. Sie waren zur Absenkung der Zuzahlungen für Medikamente gedacht und damit fest verplant. Das Geld für uns, den Ärger für die anderen, so dachten die Grünen.
Schon damals hätte Schröder bremsen müssen - schließlich hatte er sich im Wahlkampf persönlich festgelegt. Im Gegensatz zu seiner Partei versprach er, die Mini-Jobber würden künftig nicht schlechtergestellt.
Schröder schaute weg. So konnte Arbeitsminister Riester mit der Fraktion eine Lösung aushandeln, die anderes im Sinne hatte: mehr Geld sollte in die Sozialkassen fließen - dauerhaft. Das Schicksal der Betroffenen spielte offenbar keine entscheidende Rolle, es ging schließlich um Großes - die Rettung der Sozialsysteme.
Erst jetzt horchte Schröder auf. Ein wochenlanges Gezerre um die 630-Mark-Beschäftigten begann. Mal sollten die Betroffenen zwar Beiträge zahlen, dafür aber keine Leistungen erhalten - ein absurder Gedanke. Mal sollte der Betriebsrat über die Einstellung von neuen 630-Mark-Kräften mitreden können - nicht minder bizarr.
Schließlich blieb für einen Teil der Betroffenen alles beim alten. Wer nur einen 630-Mark-Job bestreitet, steht nicht schlechter da als früher. Steuern muß er nicht zahlen, die fälligen Sozialabgaben trägt der Arbeitgeber.
Doch wer es wagt, mehrere dieser Mini-Jobs zu besitzen oder gar einem Hauptberuf nachzugehen, der wird rasiert. Er muß die Zusatzverdienste voll versteuern - mit seinem persönlichen Spitzensteuersatz.
Auch früher, verteidigt sich Riester (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 42), seien mehrere dieser kleinen Beschäftigungsverhältnisse abgabepflichtig gewesen. Nur konnte (und wollte) das zuvor niemand kontrollieren. Der Arbeitgeber zahlte die Steuer, der Arbeitnehmer war nirgendwo registriert. Die 630-Mark-Jobs wurden zur Steueroase der kleinen Leute - die Politik schaute absichtsvoll weg.
Weil alle Nachbesserungen bisher kaum Linderung brachten, geht das politische Gefeilsche nun von vorne los. Ein riesiges Mediengetöse begleitet die Fingerübungen der Regierung.
Gleich zweimal bestritt die rheinische Boulevardgazette »Express« vergangene Woche ihre Titelseite mit dem Thema. »Ich arbeite schwarz«, ließ das Blatt bislang geringfügig Beschäftigte, das Gesicht schamhaft mit den Händen verdeckt, bekennen. »Bild« sieht eine »Wutwelle« durch Deutschland rollen.
Die Lage für Schröder ist mehr als nur kompliziert: Denn ohne grundlegende Reform des gesamten Sozial- und Steuersystems wird jede Einzelkorrektur fast automatisch zum Fiasko. Einerseits: Systemwidrige Ausnahmen verbieten die Gerichte, der hehre Gleichheitsgrundsatz ist dann in Gefahr. Andererseits fehlt für eine Ausweitung von Sozialleistungen schlicht das Geld. Anders als in den siebziger Jahren hat der Staat nichts mehr zu verteilen.
Im Staatshaushalt klafft ein Milliardenloch, der Spielraum, den der Maastricht-Vertrag für neue Schulden läßt, ist ausgeschöpft. Die höchsten Gerichte bombardieren die Regierung regelrecht mit Entscheidungen, die zur Umkehr zwingen. Das Signal von Verfassungsgericht und Bundesfinanzhof ist eindeutig: Das bisherige Steuerrecht, das mit seinem System des Gebens und Nehmens zur zentralen Umverteilungsmaschine des Sozialstaats wurde, ist renovierungsreif.
Vor drei Monaten hatte Karlsruhe die Regierung erst dazu verdonnert, Familien mit Kindern wesentlich besser zu stellen. Die Umsetzung dieses Urteils wird die Regierung mindestens 8 Milliarden Mark kosten, möglicherweise sogar 20 Milliarden Mark.
Jetzt präsentierte der Bundesfinanzhof aus München, das höchste deutsche Steuergericht, ein Urteil, das die rotgrünen Steuerreformer erneut mächtig in die Bredouille bringt. Anders als ursprünglich geplant, müssen sie nun wohl auch den privaten Spitzensteuersatz senken, nicht nur die Unternehmensteuern. Oder sie lassen, entgegen ihren Versprechen, alles beim alten.
Der Bundesfinanzhof hält es jedenfalls für ungerecht, wie der Fiskus gewerbliche Einkünfte gegenüber anderen Einkunftsarten, etwa von Beschäftigten, bevorzugt. Die alte Regierung hatte die Ungleichheit mit der besonderen Verpflichtung der Firmen für die Schaffung von Arbeitsplätzen begründet. Derzeit liegt der Spitzensteuersatz für diese Firmengewinne bei 47 Prozent, der für Privatleute bei 53 Prozent.
Schröder & Co. wollen in ihrem Konzept für die Unternehmensteuerreform die »Spreizung«, wie die Steuerexperten das nennen, sogar noch vergrößern.
Ein deutlich reduzierter Spitzensatz für alle Steuerzahler war bislang in der SPD weitestgehend tabu. Lafontaine stellte sich stets quer, wenn Ministerpräsidenten wie Wolfgang Clement oder Heide Simonis an diesem Thema rührten. Im gerade verabschiedeten Steuerreformgesetz wagten die Sozialdemokraten es gerade einmal, den Höchstsatz binnen drei Jahren von 53 Prozent auf 48,5 Prozent zu senken.
Zu einer radikalen Steuerreform - mit einfachen Regeln und niedrigen Sätzen - kann sich die Regierung auch jetzt nicht durchringen. Reformer wie Hombach plädieren für eine Nettoentlastung von Bürgern und Firmen: »Intelligente Steuersenkungen führen zu mehr Einnahmen für den Staat«, sagte er am vergangenen Mittwoch in der London School of Economics. Und verwies auf das Beispiel USA: Dort debattiert der Kongreß seit Monaten, wie der Haushaltsüberschuß von 70 Milliarden Dollar auszugeben sei.
Die Sozialpolitiker können sich über Hombachs Forderung leidenschaftlich empören, sie sehen sich und ihre Fördertöpfe in Gefahr. Ihr wichtigstes Wort heißt daher »Gegenfinanzierung«. Was der Staat auf der einen Seite gibt, etwa durch Senkung der Einkommensteuer, soll er auf der anderen sofort wieder kassieren, zum Beispiel durch Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Schröder schweigt, sein Finanzminister rechnet noch. Ein schlüssiges Konzept besitzt in Bonn derzeit niemand. Der Reformdruck, so scheint es, hat die Handelnden kalt erwischt.
Das Ausmaß an Ratlosigkeit überrascht: Keine deutsche Regierung konnte auf soviel Expertise zurückgreifen wie die Schröder-Truppe. Alle Probleme, die es heute zu lösen gilt, von der Steuerreform über den Subventionsabbau bis zur Schlankheitskur für den Staatsapparat, wurden tausendfach diskutiert und durchgerechnet. Im Ausland sind alle nur denkbaren Varianten einer Reformpolitik im Praxistest zu besichtigen.
Die Vereinigten Staaten machten vor, wie eine radikale Steuersenkung das Wirtschaftsleben aktiviert und zu einem Jobwunder ohne Beispiel führen kann. Die Niederländer zeigten, daß auch eine Konsensrunde von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Staat zum gleichen Ergebnis führen kann.
Soviel Vorbild war nie. Konrad Adenauer, der erste Nachkriegskanzler, mußte allein sehen, wie er das zerstörte Nachkriegsdeutschland aufforstete. Ludwig Erhard, sein Nachfolger, besaß vor allem den festen Glauben an die Kräfte der Marktwirtschaft.
Auch für die Ostpolitik von Willy Brandt lag kein Blue Print vor, tastend mußte der SPD-Kanzler seine Politik der Annäherung gegenüber den Kommunisten entwickeln. Helmut Kohl hatte die deutsche Einheit nicht mal als Plangröße im Visier, das Großereignis kam einfach über ihn.
Schröder kennt die Probleme, die er zu lösen hat, seit einem Jahrzehnt. Und dennoch - oder deshalb? - zögert er. Er hat eine sozialdemokratische Partei im Rücken (wie Tony Blair), nur ohne die staatlichen Vorarbeiten einer Maggie Thatcher.
Im Ausland wird das deutsche Zaudern mit Erstaunen registriert. So geißelte der Internationale Währungsfonds (IWF) jüngst das »bemerkenswerte Versagen« der Deutschen und anderer europäischer Volkswirtschaften beim Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit.
Als am vergangenen Dienstag darüber in Washington debattiert wurde, mußte sich Hans Eichel gar von Chinas Zentralbank-Gouverneur Dai Xianglong belehren lassen, »vom letzten Kommunisten«, wie Eichel süffisant anmerkte: Dai forderte Eichel ebenso wie seine europäischen Kollegen auf, endlich ihre Arbeitsmärkte zu deregulieren. Der Neuling aus Hessen war baff: »Das muß ich unbedingt der SPD-Fraktion erzählen.«
Kritisch beäugen auch die Ökonomen im eigenen Land das Treiben der Regierung. Die Bewältigung der Jobkrise, schrieben Deutschlands Wirtschaftsforschungsinstitute vergangene Woche in ihrem traditionellen Frühjahrsgutachten, erfordere einfach »große Anstrengungen«. »Verteilungspolitische Maßnahmen« allein, so wie bisher, brächten nun mal »keine nennenswerten Impulse für Wachstum und Beschäftigung«.
Wie es anders geht, hat Kanzleramtsminister Hombach, ein Ex-Preussag-Manager, in einem Buch über »Linke Angebotspolitik« aufgeschrieben, das direkt nach der Wahl für Aufsehen sorgte. Bislang ist es ihm nicht gelungen, seinen schriftstellerischen Forderungen auch Taten folgen zu lassen.
Arbeitsminister Riester, von Schröder gegen die Alt-SPD durchgesetzt, hat den Regierungschef bisher bitter enttäuscht. Im Wahlkampf noch als Mann mit unkonventionellen Ideen gefeiert, haftet dem ehemaligen Vize-Chef der IG Metall plötzlich das Image des Bremsers an.
Seine Bonner Mitstreiter taten Riesters Betulichkeit zunächst als Anfängersünden ab. Doch seit der Minister sich vor der riesigen SPD-Bundestagsfraktion gegen seinen Kanzler stellte, schütteln selbst Wohlmeinende nur den Kopf.
Noch erträgt Riester die Kritik an seiner Person mit erstaunlicher Ruhe. Während in Bonn schon Kandidaten wie Verkehrsminister Franz Müntefering oder SPD-Bundesgeschäftsführer Ottmar Schreiner als Nachfolger gehandelt werden, verteidigt er eisern die umstrittenen Gesetze, als sei nichts geschehen. »Eigentlich denkt der Riester gar nicht so«, wundert sich selbst Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, ein langjähriger Vertrauter des Ministers.
* Am 20. 10. 1998 nach den erfolgreich beendeten Koalitionsgesprächen.
Reformer berichten immer wieder, Riester habe beim persönlichen Gespräch neuen Ideen freudig zugestimmt und sei später zurückgerudert - mit der Begründung, seine Fachleute im Ministerium hätten ihm abgeraten.
So entstand das Image des allzu sanften Ressortchefs, der sein Haus nicht steuert, sondern selbst gesteuert wird - von einem Beamtenapparat, der den Status quo verteidigt. »Die haben den eingenordet«, sagt ein Kabinettskollege.
Am kraftvollsten geht bisher noch Wirtschaftsminister Werner Müller ans Werk. So drängt der Quereinsteiger aus der Energiebranche auf einen radikalen Subventionsabbau oder fordert mehr Mut bei der Steuerreform. Einer Mehrwertsteuererhöhung, erklärt er wacker, werde er nicht zustimmen. Müllers Manko: Er ist parteilos, verfügt also in der stärksten Regierungspartei über keine Hausmacht. Seine Ideen taugen oft nur für die Schlagzeilen der Tageszeitung - und danach ab ins Altpapier.
Für Schröder avancierte der neue Chef im Finanzministerium zum Hoffnungsträger. Eichel, der Wahlverlierer aus Hessen, gilt zwar nicht als radikaler Reformer, als Systemveränderer, der das Steuersystem völlig umstürzen will; selbst der Kanzler urteilt öffentlich: »Der tanzt nicht wie Fred Astaire und singt nicht wie Caruso.«
Doch der Bundeskanzler traut dem korrekten Verwaltungsfachmann wenigstens zu, den maroden Haushalt zu sanieren und - anders als Lafontaine - die Ausgabengelüste der Fraktion stärker zurückzudrängen. Eichel, kaum drei Wochen im Amt, läßt keinen Zweifel daran, daß er dies als seine wichtigste Aufgabe ansieht.
Eine »rigide Haushaltspolitik«, erzählt der Neuling, sei schließlich inzwischen »ein typischer Wesenszug der modernen Sozialdemokratie in ganz Europa«. Wolle die deutsche SPD etwas anderes, stünde sie künftig allein; selbst Frankreich fahre einen strikten Sparkurs. Eichel: »Am eisernen Sparen führt kein Weg vorbei.« Aber reicht das? Und ist womöglich schon dieser Kraftakt nicht zu schaffen?
Schröders Machtprobe mit den Sozialpolitikern steht noch aus. Auf offener Bühne wird er sich mit ihnen anlegen müssen, streiten um die Grundlinie seiner Kanzlerschaft und auch um Details. Im risikofreien Selbstlauf, soviel ist mittlerweile klar, wird ein neues »Modell Deutschland« nicht entstehen. ELISABETH NIEJAHR,
ULRICH SCHÄFER, BARBARA SCHMID, HAJO SCHUMACHER, GABOR STEINGART
[Grafiktext]
Problem Staatsschulden ZUSÄTZLICHE HAUSHALTSRISIKEN FAMILIENURTEIL Umsetzung des Kindergeld- spruchs in zwei Stufen - 2000 und 2002. Kosten: etwa 8 Milliarden Mark. REFORM DER UNTERNEHMENSTEUER Vergangene Woche gab eine Expertenkommission Empfehlungen ab. Die Hö- he der Nettoentlastung ist aber noch umstritten. KONJUNKTURDELLE Die Regierung reduzierte ihre Wachs- tumsprognose von 2,0 auf 1,6 Pro- zent. Ein halbes Prozent weniger Wachstum ergibt zwischen 5 und 10 Milliarden Mark Steuerausfall. ARBEITSLOSIGKEIT Immer noch bei rund vier Millionen. Hunderttausend Arbeitslose mehr - das kostet die Bundesanstalt für Arbeit 1,6 Milliarden Mark zusätzlich im Jahr. KOSOVO-KRIEG Bisher wurden im Haushalt zusätzlich 441 Millionen Mark veranschlagt. Dauert der Krieg länger, sind womög- lich Milliardenbeträge fällig.
[GrafiktextEnde]
* Auf dem SPD-Bundesparteitag am 2. Dezember 1997 in Hannover.* Am 20. 10. 1998 nach den erfolgreich beendetenKoalitionsgesprächen.