Zur Ausgabe
Artikel 24 / 88

ZUKUNFT Das Absehbare

Bodenerosion, Umweltkranke, Computeropfer - ein diese Woche erscheinender Roman beschreibt die Bundesrepublik des Jahres 2009. *
aus DER SPIEGEL 3/1986

Er habe sich, sagt der pfälzelnde Ex-Kanzler in einem Fernsehinterview, »nie eingebildet, den Weltenlauf ändern zu können«. Seine »Mißgönner« hätten ihm das »als fehlende Entschlußfreudigkeit verübelt«, aber »ich kann sagen, daß zu meiner Zeit - und ich stehe nicht an hinzuzufügen: mit meinem Zutun - die Welt weniger zerrissen war«.

So redet einer, der vom »unerschütterlichen Glauben an den positiven Gang der Geschichte« beseelt ist und die »unerschütterliche Überzeugung« vertritt, die Wissenschaft könne »auch die Wunden schließen, die sie geschaffen hat«.

Doch nun muß sich der Aussitzer gegen den Vorwurf wehren, er habe durch Nichtstun seinen Amtseid verletzt, »Schaden vom deutschen Volk abzuwenden«. Denn in Karlsruhe prozessiert, im Namen von Millionen Betroffenen, die »Vereinigung der Allergiker und Umweltgeschädigten« (VAU) gegen die Bundesrepublik Deutschland. Ziel: eine angemessene Wiedergutmachung für erlittene Gesundheitsschäden.

Vordergründig handelt es sich um ein Zivilverfahren: Die VAU-Leute, die an der Umwelt krank geworden sind, wollen finanziell den Kriegsrentnern gleichgestellt werden. Tatsächlich steht jedoch eine Epoche vor Gericht - die Kläger sehen sich als »Opfer einer Gesellschaft, die alle Warnsignale kaltschnäuzig überfahren hat«.

Die Vergangenheit, die da mit Rechtsmitteln bewältigt werden soll, ist das Heute, die Gegenwart, wie sie beschrieben wird, ist Utopie: Deutschland im Jahr 2009, exakt ein Vierteljahrhundert nach George Orwells »1984«.

Zwei Redakteure der Münchner Monatszeitschrift »Natur«, Claus-Peter Lieckfeld, 37, und Frank Wittchow, 43, haben das Zukunftsszenario entworfen, das diese Woche als Buch erscheint. _(Claus-Peter Lieckfeld/Frank Wittchow: ) _("427 - Im Land der grünen Inseln«. ) _(Schönbergers Verlag München; 320 Seiten; ) _(29,80 Mark. )

Der studierte Deutsch- und Sozialkundelehrer Lieckfeld und der promovierte Physiker Wittchow unternehmen darin den - gar nicht mal sonderlich gewagten - Versuch, eine Vielzahl derzeit absehbarer Negativ-Trends in den Bereichen Ökologie, Genmanipulation, Sozialpolitik und Neue Medien um 25 Jahre fortzuschreiben.

In der Vision der Autoren ist die Lüneburger Heide, von Grundwasser trockengepumpt, teilweise wieder das, »was sie schon einmal gewesen war: eine Wüste«, über die Sandstürme fegen. Die süddeutschen Mittelgebirge sind von Wald entblößt, versteppt, verkarstet, entsiedelt. Und Wein ist, nach einem großen »Rebensterben« aufgrund von Flurbereinigung und einem »totalen agrochemischen Krieg gegen den Boden«, das »exklusive Erkennungsgesöff« einer Datenverarbeitungselite ("Informs"), die durch ihr Computerwissen die Macht im Staate hat.

Nicht nur die Naturzerstörung, auch der technische Fortschritt fordert Opfer: menschenscheue »Computer-Autisten«, die nur noch mit Datengeräten kommunizieren können, und unheilbar Kranke, die nach mißglücktem »Gen-Engineering« an einer tödlichen »Hyperreaktivität« des Immunsystems leiden.

Die literarische Fortschreibung des Ist-Zustandes geht von der Fakten-Lage aus - die Science-fiction ist, so der Untertitel, ein »Roman über die absehbare Zukunft«.

Bezüge zur Wirklichkeit bietet nicht nur die Person des ehemaligen Regierungschefs, dann 79, der im Roman »Hermann Kalb« heißt. Damit deutlich wird, daß das Szenario kein bloßes Phantasie-Produkt ist, enthält das Buch im letzten Drittel eine umfassende Dokumentation.

Darin wird mit Zitaten aus allgemein zugänglichen Quellen belegt, daß - aus heutiger Sicht - die Folgen der Landschaftszerstörung, der Gen-Technik und der Neuen Medien durchaus abzuschätzen sind. Nur in der erzählerischen Rückblende erscheint es rätselhaft, warum »der Mythos von Wissenschaft und _(Abgestorbener Fichtenwald im Harz. )

Technik, der Mythos des zwangsläufigen Fortschritts, eine Kultur zerschlagen, ein Land in weiten Teilen unbewohnbar machen« konnte.

»Dieses Buch«, erläutern die Verfasser, »ist der Versuch, das grundsätzlich Bekannte, das Absehbare, das Sehrwohl-Mögliche noch einmal anders zu sagen.«

Denn in der Rückschau aus dem Jahr 2009 zeigt sich die Folgenlosigkeit frühzeitiger Warnungen: »Die Medien«, erinnert sich einer im Roman, »waren vor fünfundzwanzig, dreißig Jahren voll von Umweltnachrichten gewesen.« Aber »die Menge der Nachrichten schaffte nicht den qualitativen Bewußtseinssprung«.

Wie der, in einem anderen Fall, dennoch gelungen ist, zeigen Lieckfeld und Wittchow anhand »einer Seifenoper made in USA mit Namen ''Holocaust''«. Eine Spielhandlung in einer Fernsehserie bewirkte mehr als »kilometerweise Zelluloid und turmhohe Blätterberge Papier«, die über den Völkermord der Nazis angehäuft worden sind - »das Vielgesagte wurde erst dann vielsagend, als es anders gesagt wurde: nicht so sehr den analytischen Teil des Hirns ansprechend, sondern den sensitiven«.

Nach diesem Rezept verfahren die Autoren denn auch mit ihrem Roman, der gleichwohl kein öko- und technologisches Horrorgemälde entwirft. »Das Buch«, sagt Lieckfeld, »strotzt vor Optimismus.« Dazu gehört etwa die Prämisse, daß in 25 Jahren überhaupt noch menschliches Leben in Mitteleuropa existiert - ein Atomkrieg ist in dem Szenario nicht vorgesehen.

Und Hoffnung sprießt aus der »Freien Republik Kraichgau«, dem »Zufluchtsort der Verweigerer, der Soft-Way-People, der neu inspirierten Christen«. Die Bonner Regierung hat die Enklave zwischen Oden- und Schwarzwald den Softies als Experimentierfeld und Lebensraum überlassen, nachdem landwirtschaftlicher Raubbau am Boden und fortschreitende Erosion das einst fruchtbare Land »bis auf eine dünne Lößrestkrume ruiniert« haben.

Auch die Wahl dieses Roman-Schauplatzes wird durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse gedeckt. Nach Untersuchungen des einheimischen Geologen Dietmar Quist ist der Kraichgau eine der Regionen, die bei gleichbleibendem Trend bald nicht mehr zur landwirtschaftlichen Nutzung taugen.

So wird das Brachland zur Urzelle der Erneuerung. In dieser grünen Insel wirkt die »Gruppe 427«, ein Wissenschaftler-Bund, benannt nach dem »Wärmeäquivalent«, das der Arzt Julius Robert Mayer aus dem nahegelegenen Heilbronn 1842 entdeckte: Mechanische und thermische Energie, stellte der Forscher fest, können mit Hilfe dieses Faktors (1 Kalorie = 0,427 Kilopondmeter) ineinander umgerechnet werden.

Ähnlich dem Mediziner Mayer, der, interdisziplinär, einen physikalischen Lehrsatz aufstellte, versuchen die 427er einen Brückenschlag, eine »neue Verbindung zwischen Wissenschaft und Moral«.

Wie derweil die im benachbarten Karlsruhe stattfindende »Konkursverhandlung gegen das 20. Jahrhundert« ausgeht, lassen die Autoren offen. Das Dokumentationsmaterial, mit dem die VAU vor Gericht aufwartet, spricht eher für »kriminelle Fahrlässigkeit« der in den achtziger Jahren Regierenden als für eine objektiv unvermeidbare Fehleinschätzung der Öko-Lage.

Mit Hunderten von Belegen aus den Jahren 1980 bis 1985 zeigen die Autoren im Buch-Anhang, daß Zusammenhänge zwischen Umweltgiften und Gesundheitsschäden in den frühen achtziger Jahren auch Bonner Politikern schwerlich verborgen geblieben sein konnten.

»Die sprunghafte Zunahme von Allergien in den letzten Jahren«, resümieren die Autoren den einschlägigen Informationsstand des Jahres 1985, »scheint unerklärlich, sofern man nicht die Überfrachtung der Welt mit immer neuen Stoffen in Rechnung stellt.« Und sie nennen Beispiele für umweltbedingte Gesundheitsschäden: _____« Bindehauterkrankungen haben in letzter Zeit stark » _____« zugenommen. Umweltursachen können dabei nicht » _____« ausgeschlossen wer den. » _____« Etliche Erkrankungen der Atemwege, dar unter » _____« Pseudo-Krupp und Bronchitis, hän gen mit Sicherheit mit » _____« der zunehmenden Luftverschmutzung zusammen. » _____« Blei behindert die geistige Entwicklung bei Kindern » _____« und erhöht den Blutdruck. » _____« Die hohen Nitratwerte, die das Trinkwas ser in vielen » _____« Regionen der Bundesrepublik » _____« aufweist, bedeuten Gefahr für Säuglinge (Blausucht, » _____« Erstickungsanfälle). » _____« Spätestens seit Frühsommer 1984 steht Formaldehyd im » _____« Verdacht, krebserregend zu sein. Eine Expertenkommission » _____« der EG bestätigte im Herbst 1985 diese Ver mutung. » _____« Zwischen Lungenkrebs und Luftver schmutzung ist für » _____« viele Regionen ein enger Zusammenhang nachgewiesen. »

Obwohl solche Belege für die gesundheitspolitische Fahrlässigkeit der Bonner Regierenden sprechen, scheint - in der Roman-Republik des Jahres 2009 - ein Prozeßsieg der Umweltopfer undenkbar: Er würde die »finanzielle Liquidation des Staates« bedeuten, »den Millionen Antragsteller, eine Armee verzweifelt militanter Gläubiger, so gründlich ruinieren würden, wie die Arbeitslosen die Kassen nie ruinieren konnten«.

Claus-Peter Lieckfeld/Frank Wittchow: »427 - Im Land der grünenInseln«. Schönbergers Verlag München; 320 Seiten; 29,80 Mark.Abgestorbener Fichtenwald im Harz.

Zur Ausgabe
Artikel 24 / 88
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten