DAS ALLES AUF EHR, DAS KANN ER...
Es gibt nur einen namhaften Politiker, der seinem Publikum jetzt suggeriert, ein politisches Amt begehre er nicht. Nur einen, der in diesem, auf Personen zugespitzten Wahlkampf immerzu bittet, von der Person einmal abzusehen.
Nur einer hat das nötig und versucht nun von Cuxhaven bis Rosenheim, mit-Hilfe der Lautsprecher aus dem Nötigen eine Tugend zu machen.
Schließlich spreche er sich jeden Montag mit dem Kanzler aus, hörte ich ihn vor Ungeduldigen im Elbstädtchen Wedel bei Hamburg schreien. »Diese Unterhaltung... die ich als freier Parlamentarier führen kann, ist für mich so wichtig, daß ich auf ein Ministeramt leicht verzichten kann. Als Minister wäre ich nämlich weisungsgebunden.«
Es gehe ficht um seine Person, hörte ich ihn in der fränkischen CSU-Domäne Bad Kissingen tausend Geduldigen anvertrauen. »Daß ich wieder Abgeordneter oder Minister werde, ist nicht wichtig.« Ja, wer ihm gar unterstelle, daß für ihn die Erfüllung des Lebens in einem Ministersessel bestehe, höhnte er im bayrischen Marktflecken Isen vor dreitausend in ihre Maßkrüge blickenden Landmännern, der mache eben »Politik nicht mit dem Kopfe, sondern mit dem Hintern«.
Mit einem Mal geht ihm dann doch der Gaul durch, und ganz gegen die beschworenen Vorsätze läßt er seinen Haß gegen den Widersacher Erler über die Köpfe der Niederbayern hinwegtosen, die ihm zuliebe ihre sonntäglichen Blazer und Mohairanzüge aus dem Kleiderkasten genommen haben. Wenn der ihm noch weiter die Eignung für ein Ministeramt ab-, Willy Brandt aber die Eignung für das Kanzleramt zuspreche, dann solle er nur vorsichtig sein, denn dann werde man »auspacken«.
Aber eine Minute später, obwohl die Zuhörer ihm diese erfrischende Rückkehr in den alten Jargon stürmisch danken, hat er die Beherrschung wiedergewonnen, und es zittert nur noch in ihm nach: »Nichts gegen das Leben von Willy Brandt.«
Dann sagt er ihnen ganz schnell und geübt wie ein Angeklagter vor Gericht sein eigenes Curriculum vitae auf, von der Geburt in den rührend kleinen Verhältnissen bis hin zu seinem Leiden in Stalingrad und Bonn. »Denn«, so nimmt er an, »ich kann über mein Leben reden, auch über die Dummheiten, die ich g'macht hab.« Da jubeln die Männer über dieses Mea culpa und greifen erwartungsfroh nach den Maßkrügen der eingesessenen Brauerei Schnellinger, aber von seinen Dummheiten spricht er nicht weiter.
So ist der Strauß von 1965. Zum erstenmal hat er seinen Kampf um die Wähler ganz auf die bittere Erkenntnis gebaut, daß sie ihn sehen, aber nicht haben wollen. Doch es fällt ihm schwer, dabei nicht zu klagen. Zu einem Lächeln voll düsterer Dankbarkeit entblößt er die Zähne, wenn ein kleiner CDUKreisvorsitzender wie der im niedersächsischen Mittelstands - Städtchen Stade die Zuhörer ermutigt: »Sie sehen, Hörner hat er nicht! Aber dafür was-im Kopf!«
Was Franz-Josef Strauß in diesem Kopf vor die Wähler befördert, stellt nicht so sehr ein politisches Programm dar als ein Potpourri politischer Kernsprüche, Kalauer und Kurzschlüsse, dessen reich mit Zahlen garnierte Bestandteile er nach Stichworten und in beliebiger Reihenfolge aus seinem mitunter musterhaften Gedächtnis abruft. Mit einem grünen Filzschreiber, den er ebenso konsequent bevorzugt wie das Habit in Dunkelblau mit Silbergrau, hat er die Stichworte treppenförmig auf einen Spickzettel notiert, und wenn sie nicht aus dem Publikum kommen, hakt er sie ab und ruft sie sich selber zu.
In Bayern erweist sich das häufig als der einzige Weg, sie loszuwerden. Denn sobald der Wahlkämpfer den Abstand zu den großen Städten wahrt, in denen er nicht gern gesehen ist, bleiben die belebenden Zwischenrufe aus. Allenfalls ein dünnes, einstimmiges Pfui der Zustimmung steigt durch den Bierdunst zu ihm empor, wenn er den Landbewohnern im Innviertel als Muster linker Blasphemie ein Gedicht von Günter Graß aus der Zeitschrift »Konkret« vorliest:
Der Herr Jesus Christ
war einst auch Kommunist,
doch Sozi ist er heut ...
Drei Generationen Landleute, denen unermüdliche Kellnerinnen auch während der Rede des Landesvorsitzenden ungeniert heiße Würstchen zutragen, kichern in sich hinein, und am Schanktisch spottet ein Mensch laut: »Hast'as g'hört, der Wurzer hat pfui g'schrien!«
Unfreiwillig wird so der »Dr. h. c. und hochverehrte, liebe Landesvorsitzende«, wie die Vasallen ihn dem Volke ankündigen, zu einem Kulturträger, obwohl er sich überall zielstrebig für einen ausgibt, der von Dichtung nichts versteht.
Denn auch in der Kornkammer Bayerns glaubt er sich den vom Kanzler übernommenen Seitenhieb auf Hochhuth und Graß, die literarischen bösen Buben der SPD, nicht schenken zu dürfen, von denen einer gegen den Heiligen Stuhl, der andere gegen die geheiligten Sitten verstieß. Aber mit diesem Knüller seines Standard-Programms kann er den Bayern nicht besonders imponieren, auch dann nicht, wenn er das einstudierte Kapitel für sie speziell um den Hinweis bereichert, »mit Pius XII. zweimal je eine Stunde unter vier Augen« gesprochen zu haben.
Dies ist nicht mehr der Strauß, für den sich alle Hände wie von selbst rühren. Seine auswendig gelernten und gelegentlich schiefen Zahlenvergleiche mit Schweden, in die er sich jedesmal unaufgefordert hineinsteigert ("dort wuchs das Realeinkommen in den letzten. 14 Jahren nur um 74 Prozent, bei uns um 115 Prozent"), sein Touristen-Dessin von Fernost ("habe auf meiner dreiwöchigen Asienreise mit den führenden Männern gesprochen") oder seine düsteren Gedanken über Vietnam ("ich habe darüber meine Meinung, sage sie aber nicht öffentlich") können seinem Stammvolk nicht den herzhaft-deutlichen Angriff auf naheliegende politische Gegner ersetzen, um den es sich weitgehend geprellt sieht.
Wenn es ihn die gute Jacke ausziehen sieht, wie im Bierdampf des Wahlkampfzeltes von Rosenheim, dann ist es ihm zugetan: Hemdsärmelig vor allem will es ihn erleben.
Kopfschüttelnd betrachtet es einen Strauß, der nicht mehr rotsieht, in Richtung SPD neckische Wortspiele feuert ("kein Brandt ohne Brenner"), aber ebenso Komplimente: zum Beispiel, daß sie bessere Köpfe habe als die FDP und nicht weniger Millionäre als die Union.
Ohne Widerspruch hört sich sein Volk das an; doch nach der Bayernhymne läßt es ihn auch häufig ohne guten Zuspruch ziehen. Ein Gefolgsmann bietet Porträtkarten an, die der Parteichef in Heimarbeit vorsignierte - er, der es Anfang August im Norden und Westen der Bundesrepublik eine Woche lang wie einen warmen Regen genoß, sich durch ein Gewimmel animierter Verehrer, Gegner und Schlachtenbummler kämpfen und- seinen Namen blind auf Kolleghefte, sozialdemokratische Flugblätter oder Sunlicht-Prospekte kritzeln zu müssen.
Denn nur im Norden noch, wohin ihn seine Partei im Wahlkampf nicht ungern entläßt, gibt er als Strauß sein Letztes. Dort bietet ihm das Publikum noch einen gewissen Ersatz für die Gegner halblinks, nach denen energisch zu treten er selbst sich verbietet. Dort erhebt sich Widerspruch im Publikum, das mit Kind und Kegel auszieht, als gelte es einem Naturereignis beizuwohnen: Strauß ist in der Stadt - fürchtet euch nicht!
Kaum ist er aus dem blauen Achtzylinder-BMW gestiegen, ertönen in Cuxhaven oder Oberhausen, in Bottrop oder Pinneberg. Trompeten und Pfiffe, Protest- und Ermunterungsrufe, und er fühlt sich verfolgt und wohl.
Wer sich gegen Strauß wendet, wird sogleich, auch wenn er sich offen zur SPD bekennen sollte, der äußersten Linken zugerechnet, denn nur dann kann ihn Strauß noch gebührend bekämpfen. Der berühmte Schnellredner
bedient ihn sogleich aus dem Arsenal
immer wiederkehrender Kraftsprüche, die er sich vermutlich in seinem schönen, mit barocken Heiligen reich gesegneten Heim in Rott zurechtlegt. Der Zwischenrufer wird, wie Wilfried Scharnagl, der drei Zentner schwere Chronist von Strauß, es im »Bayern-Kurier« der CSU später beschreibt, vom Redner »zerlegt« und zum Gespött gemacht, was beim Rest des Publikums den bajuwarischen Nimbus urwüchsiger Schlagfertigkeit nährt.
Nach Münchner Vorstadtsitte wird dabei in erster Linie die geistige Zurechnungsfähigkeit der Vorwitzigen in Zweifel gezogen. »Wenn Dummheit weh tut«, tobt der Dr. h. c. und berühmte Altphilologe, »warum schreien S' dann nicht daheim?«. Gern bezeichnet er, der sich selbst einen »Vollblutparlamentarier« nennt, junge Zwischenrufer als lebendiges Beispiel für den Eildungsnotstand. Gern sagt er, Politik werde mit dem Kopf gemacht, nicht mit dem Kehlkopf. Denen, die pfeifen, gratuliert er, daß der Vogel nicht im Käfig sitze, sondern in ihrem Kopf.
Junge Leute, die Fragen zum Podium mit den Bundesfarben hinaufrufen, bittet er näher heran. Sind sie nah genug, so nacht cr sie von oben herab mit der hundertfach verstärkten Aufforderung lächerlich, vor ihm die Hände aus der Tasche zu nehmen, auch wenn sie da gar nicht mehr sind. Wer ihn au seine Lügen erinnert, von dem verlangt er sofort die Adresse; nur vergißt er diesen Wunsch gleich wieder.
Sogar auf öffentlichem Marktplatz droht er mit dem »Hausrecht, das ich hier habe« und von dem er notfalls gegenüber Unverbesserlichen Gebrauch zu machen verstehe. Fast in jeder Versammlung wendet er auch einmal das Wort Pinscher an, die patentierte Beschimpfung der christlichen Allianz.
Leute, die Strauß häufiger unterbrechen, erfahren von ihm, daß sie Ulbricht Handlangerdienste leisten. Leute, die ihm nicht trauen, sind »Stinkstiefel«, ,Nihilisten«, die »der Verlumpung und Verlausung wie ... bei den Nazis« Vorschub leisten mit »Neo-Goebbels-Methoden«, mit einem »Arsenal des Satans auf Erden«.
Voll inbrünstiger Bitternis wendet sich. Franz-Josef Strauß in Wedel, wo ein Rüpel sich während seiner Rede am Lautsprecherkabel vergreift, an das Publikum, das sofort erschrocken alle
Zwischenrufe einstellt. »Ach, meine Damen und Herren, ich darf Ihnen sagen, man hat das Kabel durchgeschnitten.« Er hat sich verfärbt. Er leidet. Aber, wenn nicht alles täuscht, leidet er gern. Jetzt können sie einmal sehen, wie man ihm mitspielt, können erleben, wie er mit der blindwütigen Kraft eines angeschlagenen Faustkämpfers 40 Minuten lang ohne Lautsprecher, ohne Punkt und Komma weiterschreit, während auf der Elbe hell erleuchtet die Schiffe gen Hamburg gleiten, wo die CDU ihn zur unerwünschten Person, erklärt hat.
Von verstummten Gegnern umringt, die ihn am Ende aus sportlichen Motiven bewundern, bringt er seine Rede zu Ende. Gleich fühlt er sich auch schon fast wieder geliebt; als unter einem der Gegner von vorhin der Terrassenstuhl zusammenkracht, erkundigt er sich mitfühlend: »Hat er's Bier net vertrag'n?«
Bei den steifzüngigen Landsmannschaften des deutschen Nordens überwiegt das Staunen über die urwüchsige Geschmeidigkeit des unheimlichen Gastes leicht den heimlichen Widerwillen, auch dann noch, wenn er sie in der Art eines billigen Jakobs düpiert.
»Das müssen Sie mal in Bayern sagen, Herr Strauß«, ruft einer bei der Versammlung im Muster-Schulhaus von Stade, der nicht verstehen will, daß gerade der Repräsentant eines Landes mit dem ärmsten Schulsystem ihnen hier sagt, wie die Schulmisere zu beheben sei. »Ja, grad in Bayern ist es so«, fährt der Dr. Strauß ihn ah, »sonst tät' ich das nicht sagen, weil ich daher komme, wenn Sie das noch nicht gemerkt haben.«
Und damit, ganz billig, hat er schon seine tausend holsteinischen Lacher an der Seite.
Noch immer fällt es ihm schwer, sich
so lange zurückzuhalten, bis er Rufe aus
der Menge wenigstens verstanden hat. Deshalb gerät er auf dem Schloßplatz von Hannoversch-Münden, wo ihn seine Gastgeber von der CDU vorsichtshalber mit starken Seilen von den Wählern trennen, mit einem jungen, sehr korrekten Widerborst aneinander, der sich von ihm nicht als Mitglied der Friedens -Union anreden lassen will.
»Sagen Sie mir, wer Sie dann eigentlich sind! Ein parteiloser Beamter! So, ein Studienrat! Das ist recht... das sind die richtigen Lehrer, die die eigene Nation in den Dreck ziehen.«
Keiner von den 5000 Zuhörern hat recht verstanden, worum es geht, aber an diesem Punkt fühlt die Mehrheit sich einig mit Strauß. Später erachtet sich der Studienrat Strauß erneut für gereizt durch den kleinen Kollegen zu seinen Füßen, der ihn nur immer schweigend mustert. »Ich kann meine politische Vergangenheit herzeigen, jawohl, da helfen auch haßverzerrte Gesichter nicht!«
Trotzig verschränkt der Junge unten die Arme. »Na ja, zum Haß«, riskiert er noch einmal eine Antwort, »dazu reicht's auch wieder nicht.« Und wird prompt mißverstanden von dem starken Mann am Mikrophon, der, als leide er noch unter den Nachwirkungen alkoholischer Heimatspezialitäten, immer nur Bahnhof versteht. »Nein«, beteuert der nun auch: »Ich kenne keinen Haß!«
Es gibt kaum ein deutsches Ressentiment, an das er in einer solchen Lage nicht zu rühren, kaum einen Hoffnungsschimmer, den er nicht zu reflektieren versuchte. Sich dezent antiamerikanisch zu gerieren, auf einen geheimen Widerwillen gegen England zu setzen, dessen Pfund wie ein Schwamm die gute Mark aufsaugt, auf einen Mißmut gegen Neger, die moderne Kunst oder die verwöhnte Jugend - das alles auf Ehr, das kann er und noch mehr.
Nennt Herbert Wehner in Wedel einen »wirklichen Strategen«. Ist in Cuxhaven auf einmal der Ansicht, daß die SPD »nicht grundsätzlich von der Mitverantwortung ausgeschlossen werden kann«. Läßt seinen Riesen Scharnagl in die Welt setzen, jetzt lechzten Niedersachsens Bauern nach Strauß als Landwirtschaftsminister. Und lehrt allerwege seine deutschen Brüder, sich verfolgt zu fühlen wie er und es nicht mehr hinzunehmen, daß man sie »als Nation zweiter Klasse« behandle, daß man ihnen dies nicht und jenes nicht geben will, zum Beispiel ein Recht auf die Bombe. »Es muß endlich Schluß gemacht werden mit einem falsch verstandenen Sühnedeutschtum« - sein Slogan für den Heimweg.
»Wenn man mich als Redner gut behandelt«, sagt er in Hannoversch-Münden unvermittelt und blickt an sich herunter, als graue ihm vor sich selber, »dann halte ich ein rein sachliches Referat.«
Wohlredner Strauß im Norden (Pinneberg): Fühlt sich verfolgt und wohl
Die Zeit
Exotisches Urviech
Wohlredner Strauß im Süden (Rosenheim); Ein dünnes Pfui