SPIEGEL: Herr Professor Bareis, jahrzehntelang wagte sich kein Politiker an die Aufgabe, das komplizierte und ungerechte Steuerrecht gründlich zu reformieren. Nun plötzlich machen sich alle Parteien daran - Bluff, oder werden diesmal Taten folgen?
Bareis: Die Reform ist notwendig. Die Verantwortlichen können nicht mehr anders, sie müssen handeln.
SPIEGEL: Notwendig war sie auch schon vor 18 Monaten. Damals legte eine Kommission unter Ihrem Vorsitz ein detailliertes Konzept zur Sanierung der Einkommensteuer vor. Der Auftraggeber, Finanzminister Theo Waigel, schob die Ergebnisse ohne lange Prüfung ins Archiv ab.
Bareis: Trotz der ersten ablehnenden Reaktionen ist inzwischen ein kleiner Teil unserer Vorschläge verwirklicht worden, etwa bei der Reform des Kindergeldes und auch beim Steuersatz. Dennoch ist der Problemdruck seither weiter gewachsen. Der Staat hat sich übernommen, die Steuern sind zu hoch, keiner weiß genau, wer sich drückt und wer zahlt. Die Bürger machen nicht mehr mit.
SPIEGEL: Sie schlagen vor, Ausnahmen und Vergünstigungen im Steuerrecht abzuschaffen und die Steuersätze für alle zu senken. Vor eineinhalb Jahren wurden Sie deshalb noch als realitätsferner Steuertheoretiker verspottet. Nun will das in Bonn plötzlich jeder.
Bareis: So kommt es eben manchmal, und das ist in diesem Fall auch gut so. Es bildet sich vielleicht eine große Koalition der Vernunft. So will ich das jedenfalls sehen.
SPIEGEL: Der Bundestag berät gerade über das Jahressteuergesetz 1997. Ist da etwas vom Geist der Reform zu spüren?
Bareis: Nein, das Recht wird wieder einmal komplizierter statt einfacher. Zwar gibt es auch zaghafte Ansätze, Steuervorteile zu begrenzen. Aber gleichzeitig bringt die Regierung neue Paragraphen in das Gesetz, die den Bürgern bei Wohlverhalten Steuerersparnisse versprechen. Solche Lenkungsvorschriften sollen in der großen Steuerreform gerade getilgt werden. Wären die Lippenbekenntnisse ernst zu nehmen, müßte die Regierung das, was sie heute als großen Fortschritt durchsetzt, im übernächsten Jahr schon wieder kappen.
SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel für diese Inkonsequenz?
Bareis: Wer eine Haushaltshilfe beschäftigt, soll pro Jahr statt bisher 12 000 Mark doppelt soviel absetzen können. Wer viel verdient und sich die Hilfe am ehesten leisten könnte, profitiert wegen seines hohen Steuersatzes am meisten. Deshalb hat eine solche Subvention von Arbeitsplätzen in Privathaushalten im Steuerrecht nichts zu suchen. Wenn die Regierung Arbeitsplätze im Haushalt bezahlbar machen will, soll sie die Arbeitnehmer offen aus dem Etat subventionieren.
SPIEGEL: Jede steuerliche Forderung hat einen besonderen Effekt - wer hat, dem wird gegeben. Warum hängen die Regierenden dennoch so am Steuern durch Steuern?
Bareis: Was da getrieben wird, ist, böse ausgedrückt, Klientelpolitik. Bestimmte Wählerschichten sollen bedient werden.
SPIEGEL: Das sogenannte Dienstmädchenprivileg ist ein Beleg dafür.
Bareis: Als Rechtfertigung dient, daß zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Aber das Argument ist riskant, das
kann man auch weitertreiben. Warum darf ich nicht steuerlich geltend machen,
wenn ich meine Hemden in die Wäscherei trage oder im Gasthaus zu Abend speise?
Da schaffe ich schließlich auch Arbeitsplätze.
SPIEGEL: Kommen Ihnen da nicht Zweifel an der Koalition der Vernunft?
Bareis: Ich will die Vorschläge zu einer grundlegenden Steuerreform positiv sehen. Wenn der CDU-Abgeordnete Gunnar Uldall durch die Lande zieht und mit wachsendem Erfolg verkündet, die Steuersätze müßten radikal sinken, dann packt er die Sache zwar von der falschen Seite an. Denn eigentlich ist es notwendig, erst einmal zu definieren, was die Bemessungsgrundlage für den Billigtarif ist, also welche Steuervergünstigungen und welche wirtschaftsfördernden Paragraphen bleiben und welche wegfallen sollen. Weil aber Uldall die Senkung der Steuersätze finanzieren muß, kann er sich letztlich nicht darum drücken zu sagen, bei welchen steuerlich begünstigten Gruppen er das Geld einsammeln will.
SPIEGEL: Schlager bei den Radikalreformern ist plötzlich der Stufentarif. Sowohl FDP wie auch weite Teile der CDU wollen den vom Eingangssatz bis zum Spitzensatz von 53 Prozent linear ansteigenden Steuertarif abschaffen. Ein Stufentarif, der beispielsweise Einkommen bis zu 20 000 Mark mit 8 Prozent, zwischen 20 000 und 30 000 Mark mit 18 Prozent und alles darüber mit 28 Prozent belastet, sei viel einfacher. Jeder Bürger könne seine Steuern selbst ausrechnen.
Bareis: Versuchen Sie es einmal. Die meisten werden es nicht schaffen. Stufentarife sind sicher einfacher als ein linear progressiver Tarif. Doch entscheidend ist dieser Vorteil nicht. Bereits mit einem Taschenrechner sind beide Tarife von den Bürgern wie von den Behörden leicht zu handhaben.
SPIEGEL: Um die Senkung des Spitzensteuersatzes ist ein förmlicher Wettbewerb ausgebrochen. Der FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms bietet statt 53 Prozent nur noch 35 Prozent, der CDU-Reformer Uldall will bei nur 28 Prozent landen. Muß am Ende die Masse der Normalverdiener die Erleichterungen für die Spitzenverdiener bezahlen?
Bareis: Das ist schwer zu sagen. Es kommt ganz darauf an, welche Steuervergünstigungen gestrichen werden. Das Prinzip ist klar: Wer bislang stark von Ausnahmetatbeständen im Steuerrecht profitiert hat, müßte eigentlich zu den »Benachteiligten« gehören, weil die allgemeine Steuersenkung die früheren Privilegien nicht wettmacht. Die entscheidende Frage ist aber doch: Waren die früheren Begünstigungen berech- tigt?
SPIEGEL: Waren sie das?
Bareis: In den allermeisten Fällen natürlich nicht. Ein Beispiel: Ein hochbezahlter Bundesligatrainer wird wegen erwiesenen Mißerfolges vorzeitig aus dem Vertrag entlassen. Hätte er seine Arbeit wie verabredet gemacht, hätte er 53 Prozent Spitzensteuersatz zahlen müssen. Jetzt wird er gefeuert, bekommt bei geschickter Gestaltung einen Teil der Abfindung steuerfrei. Der Rest wird nur mit dem halben Durchschnittssteuersatz belastet. Wir haben keinen Grund dafür gefunden. Es ist mehr als recht und billig, daß man die Abfindung ganz normal besteuert, auch wenn der Trainer sich dann durch die Steuerreform kraß benachteiligt fühlt.
SPIEGEL: Die Debatte geht auch darum, welche Teile des Brutto-Einkommens überhaupt versteuert werden müssen, welche Summen aus welchen Gründen dem Fiskus vorenthalten werden dürfen.
Bareis: Darum genau geht es, darüber aber reden die Steuerreformer bislang kaum. Ein Steuertarif ist schnell gezeichnet. Doch wenn es konkret wird, beginnen die Probleme. Die Reformer sind da schweigsam, weil sie sofort niedergemacht werden, wenn sie irgendwelche Besitzstände angreifen. Das ist allerdings ein Grundproblem in unserer Gesellschaft, das darf man nicht allein den Politikern anlasten.
SPIEGEL: Die Steuerkommission hat empfohlen, alle Einkunftsarten steuerlich gleich zu behandeln.
Bareis: Ich sehe keinerlei Grund, Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Vermietung und Verpachtung, aus einem Gewerbebetrieb oder aus freiberuflicher Tätigkeit steuerlich anders zu behandeln als die Einkommen aus einem Beschäftigungsverhältnis. Eine kleine Ausnahme machen wir nur bei den Kapitalerträgen; da soll es mit 30 Prozent sein Bewenden haben. Diese leichte Begünstigung soll auch die Inflationsverluste von Geldvermögen ausgleichen. Heute gelten für Einkünfte aus unterschiedlichen Quellen unterschiedliche Freibeträge, zum Teil unterschiedliche Steuersätze. Das alles muß weg. Es führt zu Abgrenzungsproblemen, zu Prozessen, Verwaltungsaufwand und Ungerechtigkeiten.
SPIEGEL: Besondere Schelte hat Ihnen die Forderung eingetragen, künftig auch Sozialeinkünfte zu besteuern.
Bareis: Um das Problem kann sich keiner drücken, der eine Steuerreform anpackt. Bei einem geordneten Sozialsystem - es ist aber nicht geordnet - könnte man vielleicht sagen: Wir lassen die Leistungen unbesteuert, weil bei ihrer Festsetzung die Steuerfreiheit schon berücksichtigt wird. Doch wie viele Sozialleistungen aus den verschiedenen Töpfen im Einzelfall beim Bürger ankommen, ist schwer zu überschauen. Deshalb wäre es wahrscheinlich besser, generell eine Steuerpflicht zu begründen. Ganz eindeutig ist das bei den Renten so.
SPIEGEL: Warum gerade da?
Bareis: Der Staat darf das Einkommen nur einmal besteuern, er muß sich entscheiden. Wenn die Bürger Rentenversicherungsbeiträge aus versteuerten Einkommen zahlen, dann darf die daraus sich ergebende Rente nicht mehr versteuert werden. So ist es aber nicht. Der Arbeitgeberanteil ist eh steuerfrei, die andere Hälfte bleibt bei den Arbeitnehmern ganz oder teilweise als Sonderausgabe unbesteuert. Die Folge ist klar: Die Rente muß steuerpflichtig sein - natürlich nur mit dem Teil, der das Existenzminimum von heute jährlich 12 000 Mark übersteigt.
SPIEGEL: Sie haben auch vorgeschlagen, die heute seltsamerweise steuerfreien Gewinne aus dem Verkauf von Wertpapieren oder nicht selbst genutzten Immobilien zu versteuern. Das träfe hauptsächlich die Wohlhabenden. Dafür haben Sie keine Prügel bekommen.
Bareis: Das hat keiner gelesen.
SPIEGEL: Vielleicht sind die Betroffenen auch nur sicher, daß diese Idee nie ins Gesetz kommt?
Bareis: Könnte sein. Aber die Politiker stehen doch angeblich zu dem Prinzip, daß der Netto-Vermögenszugang Maßstab für die steuerliche Leistungsfähigkeit ist. Da paßt es doch nicht, daß ein Handwerksmeister, der ein ererbtes Grundstück für seinen Betrieb nutzt, den Gewinn nach Verkauf versteuern muß, während der Verkäufer eines Mietshauses nach Ablauf der Spekulationsfrist Millionengewinne steuerfrei einstecken kann.
SPIEGEL: Am weitesten hat sich bisher, sehr zum Verdruß von Theo Waigel, der CDU-Mann Uldall vorgewagt. Der will nun fast alle Abzugsmöglichkeiten kippen, um trotz seiner niedrigen Steuersätze die Einnahmeverluste des Staates zu begrenzen. Ist das realistisch?
Bareis: Uldall geht in die richtige Richtung, aber eindeutig zu weit. Er will die Werbungskosten der Arbeitnehmer radikal beschneiden. Übrig bliebe nur ein Freibetrag von 500 Mark. Uldall verkennt, daß nicht das Brutto-Einkommen, son- dern nur das Netto-Einkommen Maßstab der steuerlichen Leistungsfähigkeit sein kann. Wer Werbungskosten nicht berücksichtigt, die der Arbeitnehmer aufwendet, um sein Einkommen überhaupt zu erwirtschaften, der müßte den Unternehmen auch den Abzug von Betriebsausgaben streichen. Beides ist falsch.
SPIEGEL: Ist das so eindeutig, sind die Werbungskosten wirklich tabu?
Bareis: Es gibt eine Grauzone - auch bei Betriebsausgaben -, wo private Lebensführung und Erwerbssphäre sich berühren. Ich wohne auf dem Lande und fahre jeden Tag 25 Kilometer zu meiner Arbeitsstätte in der Universität. Ich hätte auch teurer in der Nähe eine Wohnung suchen können. Ist nun die Fahrt beruflich veranlaßt, oder ist die Wahl des Wohnorts wesentlich privat bestimmt, weil ich gerne auf dem Lande lebe? Sind die Fahrtkosten also Werbungskosten oder nicht? Da kann man sich, wie etwa die Amerikaner, auch zu der Abgrenzung entscheiden, die Arbeit beginne erst am Fabriktor. Dann aber müßte das Kilometergeld entfallen. Da gibt es einen Bereich, wo der Gesetzgeber typisieren und pauschalisieren kann, aber nicht bei den eindeutig erwerbsbezogenen Aufwendungen.
SPIEGEL: Gibt es nicht auch über das Existenzminimum hinaus private Kosten, die der Gesetzgeber, anders als Uldall meint, bei der Steuerfestsetzung mildernd anerkennen muß?
Bareis: Das ist umstritten. Ich meine schon, daß etwa unvermeidbare Kosten für die Heimpflege kranker Eltern in einem gewissen Umfang steuerlich berücksichtigt werden müssen. Anders als die Steuerrechtler Klaus Tipke und Joachim Lang suche ich aber nach einem anderen Weg. Tipke und Lang wollen einfach das zu versteuernde Einkommen um diesen Beitrag mindern. Das führt wieder zu höheren Vorteilen bei höheren Einkommen und zu höheren Steuersätzen für alle. Ich suche nach einer Lösung, die bei gleichen Kosten auch zu einer gleichen steuerlichen Ersparnis führt.
SPIEGEL: Ihr Reformkonzept sieht vor, das Einkommensteuerrecht von allen Vorschriften, die der Wirtschaftsförderung dienen, zu säubern.
Bareis: Die Politiker lehnen das ab, das weiß ich. Aber das muß aus dem Steuerrecht raus.
SPIEGEL: Warum sind Sie so rigoros? Der Staat muß doch in der Lage sein, den Aufbau im Osten oder die Forschung mit Steuermitteln zu begünstigen.
Bareis: Mit Steuermitteln ja, aber nicht mit dem Steuerrecht. Investitionsförderung durch Nachlässe bei der Einkommensteuer beispielsweise ist für Politiker eine feine Sache. Da kommt ein Abzugstatbestand ins Steuerrecht, keiner weiß anschließend, wer die Vergünstigung erhalten hat, wieviel sie insgesamt gekostet hat und ob der Verzicht auf viele Steuermillionen zu dem behaupteten Ergebnis geführt hat. Steuern sollten dazu dienen, dem Staat die unbedingt nötigen Mittel zur Erfüllung seiner Aufgaben zu verschaffen. Nebenzwecke wirken in aller Regel wettbewerbsverzerrend und wachstumshemmend.
SPIEGEL: Dann hätte der Staat ja gar keine Möglichkeit mehr, von der Mehrheit gewünschte Ziele durch finanzielle Anreize zu fördern.
Bareis: Doch. Er müßte die Subventionen, die in den Osten fließen sollen oder mit denen der Industrie Forschung billiger gemacht werden soll, nur offen in einem Subventionsgesetz ausweisen. Das wäre viel klarer. Dann könnte jeder nachlesen, wer wieviel Geld zu welchem Zweck bekommen hat. Auch der Erfolg der Staatsförderung ließe sich dann besser überprüfen.
SPIEGEL: Ein Ökonom, der Subventionen befürwortet?
Bareis: Es geht mir nicht darum, dem Politiker vollständig die Möglichkeit zu nehmen, bestimmte Dinge zu fördern. Es geht um den Weg. An Subventionsgesetze sollten aber strengste Anforderungen gestellt werden: Im Gesetz müßte stehen, bis wann das Ziel erreicht werden soll und wie der Erfolg gemessen werden kann. Die einzelnen Subventionen sollten Jahr für Jahr sinken, jedes Subventionsgesetz müßte befristet sein. Dann wäre bei jeder Verlängerung die Notwendigkeit der Subvention im Parlament neu zu begründen. So könnte der Zugriff des Staates auf das von den Bürgern Erwirtschaftete erschwert werden.
SPIEGEL: Herr Professor Bareis, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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Vorschläge zur Steuerreform
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Das Gespräch führten Winfried Didzoleit und Hans-JürgenSchlamp.