DAS BEFLECKTE RECHT
Dr. Dr Gustav Heinemann, 66, ist als Verteidiger In politischen Prozessen vielerfahren. Der Essener Rechtsanwalt, einst CDU - Innenminister im ersten Kabinett Adenauer, das er 1950 wegen seiner Gegnerschaft zu Adenauers Remilitarisierungspolit verließ, ist seit 1957 SPD-MdB und gilt als Justizministerkandidat im Schattenkabinett Willy Brandts. - Professor Otto Kirchheimer, 59, lehrt Politische Wissenschaft an der Columbia-Universität in New York. Der aus Heilbronn stammende Gelehrte und ehemalige Rechtsanwalt, der unter anderem bei Max Scheler und Carl Schmitt studiert hat und 1934 aus Deutschland emigrierte, war von 1943 bis 1955 auch wissenschaftlicher Berater des US-Außenministeriums.
Ein sehr lobenswertes Buch! Es analysiert in breiter Fülle der historischen Belege den zu aller Zeit geübten gerichtsförmigen Kampf um politische' Macht. Guter angelsächsischer Gepflogenheit entsprechend geht es dabei weniger um die Juristerei als vielmehr um Sozialpsychologie und Soziologie des politischen Lebens.
Jünger des unbefleckten Rechts sagen gern, daß es so etwas wie politische Justiz nicht gebe. Sie fragen: Wo das allgemeine Gesetz regiert und wo das Recht nur nach Regeln gesprochen wird, die für jedermann gleich sind - wie können da politische Motive oder Hinterabsichten zum Zuge kommen? Kirchheimer gibt ihnen dafür gründliche Antwort. Sein Buch ist geradezu ein Kompendium der politischen Justiz in freien wie in totalitären Systemen.
Der gerichtsförmige Kampf um die Stigmatisierung politischer Gegner, um 'die Widerlegung öffentlicher Bezichtigungen oder um den Bestand politischer Organisationen - die Strategie der politischen Justiz, das Asylrecht oder die Amnestie -, die nebenläufigen Kampfmethoden wie die der Schikane, der Einwirkung auf Arbeitsplätze oder der Beeinflussung der öffentlichen Meinung wurden ebenso desillusionierend wie plastisch und farbig dargestellt.
Die Rechtsfälle, aus denen Kirchheimer seine Illustrationen schöpft, umfassen neben dem Deutschen Reich, der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und den Internationalen Militär-Tribunalen die Vereinigten Staaten, England, Frankreich, Italien, die Schweiz und Südafrika. Einige Schilderungen großer Prozesse, die einmal die Welt bewegt haben, sind geradezu Kabinettstücke an Durchleuchtung ihrer zeitgeschichtlichen Zusammenhänge.
Politische Prozesse haben ihre Akteure wie andere Prozesse. Aber ihre Akteure verfärben sich vielfältig. Ihnen allen widmet Kirchheimer besondere Aufmerksamkeit. Da sind die Richter, bei denen es verstärkt um Unabhängigkeit oder um Anpassung an die bestehende Gewalt bis hin zur Erniedrigung zum Funktionär geht. Da wird in das Gedankenwerk der Anklagebehörden und der weisunggebenden Machthaber oder
in Trickverfahren hineingeleuchtet, bei denen politische Gegner in gemeinsame Verfahren mit Kriminellen verwickelt werden, um sie von vornherein in das Zwielicht gemeiner Vergehen zu setzen.
Die politische Polizei, formell nur ein Hilfsorgan der Anklagebehörde, kann zu einer Bürokratie mit eigenen Methoden und Zwecken werden. Die Infiltration gegnerischer Organisationen, die Einschüchterung oder die Bestechung sind oft wirksamer als Prozesse.
Bunt ist die Galerie der Angeklagten; ihr Spannungsbogen reicht von den sendungsbewußten Bekennern bis hin zu den Verrätern der eigenen Sache und der eigenen Freunde. Von den Zeugen in politischen Prozessen stellt Kirchheimer mit Recht fest, daß sie auch dann selten unbeteiligt sind, wenn sie nicht als Spitzel, Provokateure, Überläufer selber eine aktive Rolle spielen.
Was letztlich die Anwälte anbelangt, so können sich auch in ihrer Person juristische und politische Intentionen verquicken, je nachdem, ob sie einen Mandanten nur berufsmäßig wie jeden anderen verteidigen oder ob sie selber mit dessen politischen Zielen sympathisieren, ja diese vielleicht sogar in eigener Regie oder eher noch nach Weisungen einer Organisation über das Schicksal des Angeklagten stellen. Zusätzliche Probleme werfen internationalisierte Prozesse auf, in denen es darum geht, Angeklagten den Schutz einer Weltmeinung zuzuwenden oder durch Scheinprozesse ein Regime anzuprangern.
Welche Fülle von Gesichtspunkten im einzelnen sich in den hier nur skizzierten Kapiteln des Kirchheimer-Buches verbergen, sei an seiner Erörterung der »Gnade« aufgezeigt. So verschieden ihre Ausübung geregelt sein mag, so sehr gehört die Begnadigung zu den allseitig geübten Korrekturen gerichtlicher Entscheidungen. Notwendigerweise haftet ihr ein Element des subjektiven Ermessens an.
Auch außerhalb des Bereichs politischer Straftaten sind die Wege der Gnade schwer zu entwirren; sie können
ebenso von Milde wie von Willkür bestimmt sein. Innerhalb des Bereichs der politischen Straftaten aber können ebenso simple wie diffizile Kalkulationen das Bild verstellen. Hier kann sich der Inhaber der Gnadengewalt von dem verurteilten politischen Delinquenten selber betroffen fühlen und sich darum schwer darin tun, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Er kann aber auch mit der Gnade nicht nur merkantilen, sondern auch politischen Handel treiben und sie etwa von Tauschgeschäften abhängig machen. Die Welt der Spionage lebt bekanntlich weithin davon.
Es ist naheliegend, daß die politischen Freunde eines Verurteilten einen Druck auf Begnadigung ihres Mitstreiters auszuüben versuchen. Das kann zweischneidig sein. Geht der Druck von einer organisierten Propagandamaschine aus, so ist es verständlich, daß die systematisch berannte Regierung Widerstand leistet. Das aber kann wiederum unter Umständen den Organisatoren der Propaganda gleichgültig sein. Wird der Verurteilte begnadigt, so kann man sagen, der Gnadenakt sei von einer mächtigen Volksbewegung erzwungen worden; wird die Begnadigung abgelehnt, so wird der Wirbel der Propaganda erst recht verstärkt.
Druck kann aber auch die Staatsgewalt ausüben, indem sie die Begnadigung als Belohnung für bestimmte Dienste, besonders für Denunziationen, in Aussicht stellt. Zumindest wird sie erwarten wollen, daß der Gefangene bei vorzeitiger Freilassung seinen Kampf gegen das bestehende politische System nicht erneuert. Der Überzeugungstäter wird solcher Erwartung in der Regel nicht entsprechen und darum oft nicht einmal gewillt sein, überhaupt ein Gnadengesuch zu stellen. Alle diese Variationen spiegeln sich bei Kirchheimer anschaulich in historischen Begebenheiten.
In einer »vorläufigen Nachtragsbilanz«, die über die amerikanische Erstausgabe (1961) hinausgeht, behandelt Kirchheimer unter anderem den politischen Strafverfolgungs-Perfektionismus der Bundesrepublik mit seinen verschiedenen Mißgriffen bis in die SPIEGEL-Affäre hinein sowie das beschämende Versagen der Bundesregierung gegenüber Frankreich im Falle der Entführung des Obersten Argoud aus München durch französische Dienste (1963). Was Kirchheimer hier zu sagen hat, ist eindeutig.
Kirchheimers »Politische Justiz«, ist von der Leidenschaft für den freiheitlichen Rechtsstaat erfüllt. Alles, was er anschneidet, hat unsere Zeit erlebt. Weil dieses Erleben nicht zu Ende ist, sich vielmehr fortgesetzt erneuert, ist sein Werk interessant und nützlich zugleich.
Heinemann
Otto
Kirchheimer:
»Politische Justiz«
Luchterhand Verlag
Neuwied
688 Seiten
45 Mark