Daß Berlin nun erstmals seit 42 Jahren wieder eine einheitliche Stadtregierung hat, ist für Georg Karolewski, 57, Baustadtrat im Bezirk Pankow, nur ein formeller Nachklapp. »Für mich ist Berlin schon längst wieder zusammengewachsen«, hat er bereits Wochen vor dem Amtsantritt Eberhard Diepgens erklärt - mit einer Entschiedenheit, die jeden Widerspruch ausschließen sollte.
Ist nicht seine Tochter Ulrike bereits Anfang vergangenen Jahres regelmäßig von ihrem Praktikum als Architekturstudentin in Potsdam über Zehlendorf und die Stadtautobahn heimgefahren ins früher östliche Pankow? Quer durch die nun mauerlose Stadt und nicht mehr weiträumig um das einstige Glitzerding West-Berlin herum?
Und kann Ulrike noch den alten Grenzübergang in der Wollankstraße erkennen, der einst nicht nur die Bezirke Wedding und Pankow, sondern zwei Welten voneinander schied? Sieht sie etwa noch aufgeputzte Fassaden im Westen und bröckelnden Putz im Osten?
Sieht sie nicht, triumphiert der Vater. Als Baustadtrat hat er schließlich schon im vergangenen Jahr dafür gesorgt, daß unmittelbar hinter der ehemaligen Mauer im Pankower Teil der Straße gleich sechs Häuser renoviert wurden.
Georg Karolewski will die DDR mausetot haben. Spätestens seit der Nacht zum 3. Oktober 1990, als vor dem Reichstag die schwarzrotgoldene Bundesfahne aufgezogen wurde, steht für ihn fest, »daß für die DDR das Licht ausgegangen ist«. Da hat er nämlich, als er sich mit seiner Frau Helga, Tochter Ulrike, 19, und Sohn Thomas, 30, in der Menge vom Brandenburger Tor in Richtung Alexanderplatz treiben ließ, plötzlich den Palast der Republik, »dieses Jubelbauwerk« Erich Honeckers, unbeleuchtet vor sich liegen sehen. »Und es _(* Jürgen Richter, Helga Karolewski, ) _(Monika Richter, Ulrike Karolewski, Kai ) _(Richter, Georg Karolewski. ) war wie eine tote Ruine, dieses Statussymbol des Staates, das mal so unheimlich viel Geld gekostet hat. Damit war im Prinzip symbolisch die DDR ausgelöscht.«
Für Georg Karolewski war das ein großer Augenblick. So hatte er es gewünscht und vorausgesehen, als er im Januar 1990 bei Freunden erstmals mit dem Reinickendorfer Bezirksstadtrat für Jugend und Sport, Jürgen Richter, 50, zum Erfahrungsaustausch zusammensaß. Der sanfte, aber eindringliche West-Sozialdemokrat hatte damals leichtes Spiel, die lange brachliegenden Kräfte des Bauingenieurs aus dem Osten für die SPD und dann für die Kommunalpolitik zu mobilisieren: »Jetzt kann ich endlich was bewegen«, jubelte Karolewski.
Ein Jahr später sitzen die beiden Männer mit ihren Familien wieder beieinander, um eine Art Bilanz zu ziehen über ihr Berliner Leben mit und ohne Mauer. Sie fällt ernüchternd aus. Abgerissen mag das Betonbollwerk sein, abgewickelt noch lange nicht. Im Gegenteil: In den Köpfen der Bürger aus Ost und West scheint die Mauer - auferstanden aus Ruinen - eher gewachsen.
Lange hält der geradezu verzweifelt optimistische Pankower SPD-Mann, der sich aufreibt bei der mühsamen Kleinarbeit im Gefolge der großen Worte, seine sonnige Einschätzung vom Verschwinden der Spaltung jedenfalls nicht durch. Es ist sein Sohn Thomas, Leiter einer Baufachhandlung und bereits sichtbar geprägt vom harten Wettbewerb auf dem nun freien Markt der vereinigten Stadt, der als erster vehement widerspricht: »Das bleibt DDR, das bleibt Ost-Berlin. Viele Jahre noch.«
Tochter Ulrike, die mit einer Gruppe gleichaltriger West-Berliner einen Spanien-Urlaub hinter sich hat, stimmt dem Bruder zu: »Die sind ganz anders als wir«, hat sie erfahren, vor allem »viel härter im Umgang«.
Als wollten sie Ulrike bestätigen und die Eltern herausfordern, die unentwegt vor »Pauschalisierungen«, »Klischees« und »Vorurteilen« warnen, halten die Söhne des Reinickendorfer Stadtrats, Jens, 22, und Kai Richter, 24, mit ungeschminkten Urteilen über die Landsleute aus dem Osten nicht zurück. »So materialistisch«, sagt Jens, habe er sich die Nachbarn im Osten vorher nicht vorgestellt, so »naiv« und »konservativ« auch nicht. Und dann dieser Mangel an Eigeninitiative - »ein bißchen träge im Arbeitsprozeß«, sekundiert Bruder Kai.
Ist sie das, die Mauer im Kopf? Trennt sie vor allem die Kinder, die eine ungeteilte Stadt nie gekannt haben? An Beispielen dafür, daß der Wall in den Herzen und Hirnen der Berliner nach wie vor Realität ist, mangelt es den beiden Elternpaaren gewiß nicht, auch nicht Georg Karolewski, der einräumt, er sehe vielleicht manches so, wie er es gern hätte. Aber in den eigenen Familien sollte eigentlich kein Platz sein für »bösartige Verallgemeinerungen«.
Jürgen Richter widert das Gemecker und Gemotze seiner West-Berliner Mitbürger an, die über die Ossis quengeln, ob sie nun in der Schlange bei Aldi stehen oder von Besuchen aus der ehemaligen DDR zurückkehren. »Die reden, als wenn man von einem Negerstamm spricht, irgendwo dahinten«, schimpft er.
Nicht daß er die konkreten Unterschiede, die in Berlin »quasi von einer Ecke zur anderen« sichtbar werden, zu leugnen versuchte. Jedem am Tisch ist bewußt, daß ein erhebliches Verdienstgefälle schließlich auch durch diese Runde geht. Dennoch hadert jede Seite zunächst nur heftig mit den eigenen Leuten, hält sich nobel zurück mit Kritik am jeweils anderen.
Karolewski kennt natürlich die üblichen »Parade-Beispiele«, daß arbeitslose Ostarbeiter nicht um sechs Uhr morgens bei der Westfirma anfangen wollen. Seine Frau ist empört, weil sie gesehen hat, wie ein Westbautrupp bei Schneeregen und Kälte »ackerte«, während die Kollegen von der Ostkonkurrenz im Bauwagen Karten zockten - ganz so, »wie wir die Bilder kannten«.
Es ist zu schön, um wahr zu sein. Die Eltern reden, als habe der Berliner Senat sie für eine Musterveranstaltung engagiert, nach dem Motto: Wie gehe ich vorbildlich mit meinen neuen Mitbürgern um. Und dabei sind sie ganz aus eigenem Antrieb nett zueinander.
»Daß wir hier alle vielleicht nicht ganz typisch sind für einen Großteil der Menschen«, hat Monika Richter gleich zu Beginn der Gespräche festgestellt, zu denen sich die beiden Familien an zwei Wochenenden im Eigenheim der Karolewskis in Pankow und in der Bürgerwohnung der Richters in Reinickendorf zusammenfanden. An Nachdenklichkeit, Toleranz und täglicher Erfahrung sind sie den meisten ihrer Landsleute in Ost und West weit überlegen. Und an gutem Willen sowieso.
Es paßt eben vieles zusammen. Idealere Sozis als die beiden Ehepaare könnte der Vorwärts kaum erfinden. Der ehemalige Schlosser Jürgen Richter, SPD-Genosse seit 26 Jahren, davon 18 Jahre Ortsvorsitzender, hat schon als Lehrling in der Fabrik fürs Leben gelernt, »was oben und unten ist«. Unvergeßlich die Szene, wie der Chef zu Weihnachten Zigaretten und Zigarren von der Balustrade herab in die Arbeiterschaft schmiß - »und die Idioten haben sich sogar gebückt danach«. Empörung zittert bis heute in seiner Stimme.
Von diesem »Gedankengut« hat seine Frau Monika, 48, »schon ziemlich früh profitiert«. Seit sieben Jahren füllt sie in der Reinickendorfer Sozialkommission ehrenamtlich Kohlen- und Weihnachtsgeldanträge für alte Leute aus, eine Bilderbuch-Genossin.
Und Georg Karolewski konnte endlich - mit 56 Jahren - das Vermächtnis seines sozialdemokratischen Vaters erfüllen, der sich 1946 geweigert hatte, in die SED einzutreten. Immer fühlte sich auch der Sohn der SPD nahe - als Bauingenieur mußte er sich dafür in der DDR stets aufs neue »doofe SED-Genossen« vor die Nase setzen lassen, wie seine Frau erbittert erzählt. Aber Karolewski blieb SPD-Fan.
Mit heißen Ohren hatte er in den fünfziger Jahren im Radio verfolgt, wie gut Sozialdemokraten wie Fritz Erler, Herbert Wehner und Helmut Schmidt reden konnten. Jetzt ist er selbst dabei. Und Richter ist begeistert über den »immensen Wagemut«, mit dem sich der von ihm angeworbene Genosse - so läßt er sich inzwischen sogar anreden - in die Kommunalpolitik gestürzt hat.
Auf seine Frau Helga, 56, die aus einer großbürgerlichen Familie stammt und »von den Wurzeln her eher einer konservativen Partei zugehören könnte«, kann er dabei fest bauen. »Ich stehe politisch hinter seinem Engagement«, sagt sie, als Lebensgefährtin sowieso. Und wenn sich der zu idealistischen Höhenflügen neigende Baustadtrat allzu heftig an der Wirklichkeit stößt, dann klebt sie ihm »jeden Abend die amputierten Flügel wieder an«. Zum guten Verständnis untereinander trägt überdies bei, daß den beiden Ehefrauen - Helga Karolewski ist Internistin und leitete lange eine Poliklinik im Ost-Berliner Bezirk Weißensee; Monika Richter arbeitet als gelernte Technische Zeichnerin seit vielen Jahren im Reinickendorfer Baureferat - die Gebiete jenseits der Mauer auch vor deren Öffnung nicht fremd waren.
Die West-Berlinerin Monika Richter ist in Pankow geboren und dort zur Schule gegangen, bevor sie in den frühen fünfziger Jahren ins westliche Reinickendorf übersiedelte. Den Kontakt zu ihren Verwandten im Osten hat sie liebevoll gepflegt. Die Ost-Berlinerin Helga Karolewski durfte, nachdem sie als Ärztin ihre Gesundheit für ein Gehalt zerschlissen hatte, über das ihre Westverwandten spotteten - »dafür würde bei uns kaum ''ne Putzfrau arbeiten« -, in den letzten Honecker-Jahren als Frührentnerin häufiger »nach drüben«. Dort konnte sie auch auf enge berufliche Kontakte bauen.
Kein Wunder also, daß sich die Eltern, getränkt von nostalgischen Erinnerungen an eine gemeinsame Zeit vor der Mauer, um Behutsamkeit und Verständnis bemühen - »bloß nicht in Bausch und Bogen« urteilen, »nur nicht alle in einen Topf werfen«, nur nicht durch »bösartige Vorurteile« verletzen. Vorsicht und Harmoniebedürfnis drohen das Gespräch bald in jene langweilige Unverbindlichkeit entschweben zu lassen, die den Kindern nur allzu vertraut ist - von den ost-westlichen Familientreffen zu Zeiten der Mauer.
Aber anders als in der Vergangenheit - als die Kinder bei solchen durchlittenen Akten »der Familienpflichterfüllung« (Jens Richter), bei denen man sich »sechs Stunden den Hintern platt saß, die 25 Mark DDR-Eintritt daließ und dann wieder durch die Mauer abzog«, zumeist schweigend und gelangweilt dabeisaßen - melden sie sich jetzt protestierend zu Wort. Und plötzlich dämmert Vater Jürgen Richter die Erkenntnis, »daß wir uns früher gegenseitig ausgetrickst haben«.
Dabei hatten sich die Richters und die Karolewskis - wie Hunderttausende Deutsche in Ost und West - eingeredet, gerade mit solchen Begegnungen die Mauer überwunden zu haben. Daß man den Propagandasprüchen der Politiker mißtraute - im Osten wie im Westen -, war klar. Auch die Fernsehberichte - obwohl in der DDR die »Tagesschau« Pflichtprogramm war - stießen auf Vorbehalte. Aber hatte man einander nicht gesehen? Hatten »die da drüben« - Ost wie West - nicht selbst bestätigt, was man sich immer schon gedacht hatte?
Nur - wie sehr solche Treffen auch zu gegenseitigen Täuschungen dienten, wie sorgfältig sie von beiden Seiten inszeniert wurden, um bequeme Vorurteile nicht antasten zu müssen - das alles erkennen die Berliner aus Reinickendorf und Pankow erst, als die junge Generation eine Neuauflage dieser gemütlich-geschwätzigen Scheingemeinsamkeit verhindert. Denn mit dem Fall der Mauer allein, da ist Jens Richter sicher, sind die rigiden Tabus, unter denen solche Begegnungen abliefen, keineswegs automatisch verschwunden. Im Gegenteil.
Noch gut zwei Wochen nach dem historischen 9. November 1989 waren die Richters zum 80. Geburtstag eines Onkels »drüben« - am Arnimplatz, nahe der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße. Alles lief ab, als wäre nichts geschehen, berichtet der Junior: »Riesenbuffet, viel zuviel zu essen. Aber es kamen nicht so die Gespräche auf. Die Situation war so neu, da wollte keiner drüber reden. Dabei hatte ich mir gedacht, jetzt diskutieren alle, war aber nicht.«
Tatsächlich waren, wie sich seine Mutter erinnert, die Abläufe in vielen Jahren gleichgeblieben: »Wenn wir hinkamen, gab es eine Riesenfeier. Man saß in der guten Stube zusammen. Das Essen war immer zuviel.« Und Karolewski nickt: »Wir haben eben versucht, uns bei West-Besuch von der besten Seite zu zeigen.« _(* In der Nacht zum 3. Oktober 1990. )
Die Folgen waren absehbar und nicht ganz unerwünscht. Allzugenau, glaubt Jürgen Richter heute, »wollte man den Alltag vielleicht auch nicht sehen«. Schließlich lagen die Rollen fest: wer reich war und wer arm, wer in Freiheit lebte und wer im Gefängnis, wer überlegen und belehrend auftrat und wer unsicher und unzufrieden zu wirken hatte. Darüber waberte zumeist Familienharmonie.
Wie aber die Brüder und Schwestern tatsächlich lebten, welche ganz persönlichen Verstrickungen, Nöte und Zweifel ihr Leben bestimmten - das blieb in stiller Eintracht ausgeklammert. Wie leicht wären dabei Neid- und Schuldgefühle zutage getreten?
Den »Kindern« sind solche Selbsttäuschungen fremd. Deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten aus der Zeit vor dem 13. August 1961 kennen sie nur aus Erzählungen, ihre sentimentale Beschwörung bei Familienfesten langweilte sie. Mit der Frage nach der nationalen Identität, die ihre Eltern beschäftigt, haben sie wenig im Sinn.
Das gilt für die jungen Karolewskis, in deren Worten immerhin Bedauern mitschwingt, aber mehr noch für die Wessis. »Ist es wichtig, Deutscher zu sein? Für mich nicht«, sagt Kai Richter. Sein Bruder Jens fügt hinzu: »Ich kann mit diesem Nationalstolz, diesem Getaumel da zur Fußballweltmeisterschaft nichts anfangen, nicht die Bohne.« Und »Deutschland, einig Vaterland«? - »Juckt mich nicht. Ich wüßte nicht, warum ich da Ambitionen haben sollte. Nur weil ich hier geboren bin? Ich bin ein Mensch, ganz normal.«
Die beiden jungen West-Berliner reden überaus »cool« über die Mauer, deren Existenz ihnen - trotz des Bewußtseins ihrer brutalen Willkür - »natürlich« erschienen ist: »Sie war eben da.« Der Grenzwall, an dem Jens entlangjoggte, gehörte zu den selbstverständlichen Gegebenheiten, hatte sogar, wie Kai Richter heute zu merken glaubt, seine Vorteile: »Man hatte seine behagliche Umzäunung, die zwar unmenschlich war. Aber von außen ist nichts gekommen. Es war ein ruhiges Leben.« Neugierig auf drüben waren sie nicht.
Für die jungen Karolewskis war die Mauer zwar ebenso real, aber ganz und gar nicht selbstverständlich. Das »fremde Land« auf der anderen Seite faszinierte sie. Wenn Ulrike nach Familienfesten die Verwandten bis zur Grenze begleitete und »von einem bestimmten Punkt an nur noch winken konnte«, dann wäre sie gern mal mitgefahren: »Die haben gewußt, wie wir leben. Aber ich habe mir nie ein Bild machen können von ihrem Zuhause, kannte nur ihre Erzählungen. Ich war neugierig; wollte eigentlich nur mal rüber und gucken, ob das stimmt, was die sagten. Oder das, was uns in der Schule erzählt worden ist. Aber leben wollte ich da nie.«
Ihr Bruder Thomas wollte auch das. Er trug sich wohl lange mit Fluchtgedanken. Seine Mutter sagt es, nicht er. Mit Appellen an die Familiensolidarität hielt sie ihn zurück. Aber immer interessierte ihn mehr, was im Westen vorging - die Entwicklungen in der DDR seien ihm egal gewesen. Oft habe er »an dieser Mauer« gestanden und es »unfaßbar« gefunden, »daß irgend jemand gesagt hat: Durch diese Tür kommt keiner durch«.
Heute fahren Thomas und Ulrike Karolewski manchmal mehrmals täglich über die frühere Grenze und sehen - deutlicher, als die Älteren es wahrhaben wollen -, daß 40 Jahre DDR, 40 Jahre BRD und 28 Jahre Trennung durch die Mauer Unterschiede geschaffen haben, die mit dem Abriß des Betonzauns nicht über Nacht verschwinden können. Und so unverblümt wie Jens und Kai Richter ihre Einschätzungen der neuen Mitbürger artikulieren, halten sie dagegen.
Fehlende Eigeninitiative? »Ja, wo soll die denn herkommen?« fragt Ulrike empört: »Bei uns ist die doch jahrelang unterdrückt worden.« Träge und faul seien die Ossis? Als hätten sie sich nur ausgeruht im Osten, protestiert Thomas, als hätten sie keine Fähigkeiten. »Wir hatten Probleme - andere Probleme als ihr -, bei deren Lösung jeder westliche Manager mit Sicherheit Schwierigkeiten gekriegt hätte, wenn er sie hätte lösen sollen.«
Und macht er nicht heute in seiner Baufirma auch ganz andere Erfahrungen? Lebhaft lobt er »den Biß« und den Einsatzwillen seiner Mitarbeiter, »die hier jetzt anfangen, sich was aufzubauen«. Die drei Wessis dagegen, die zeitweilig in seiner Firma arbeiten, die machen ihre Arbeit - »na, ich sage mal so: eigentlich ganz in Ruhe«.
Solch klarer Sprache lauschen die Eltern - West wie Ost - zunächst mit angehaltenem Atem. Fast ist es, als fürchteten sie, die andere Seite werde gleich aufspringen und gekränkt den Raum verlassen. Schließlich haben die Karolewskis das mit West-Verwandten gerade ähnlich erlebt.
Aber dann beginnen auch sie freier zu reden. Georg Karolewski lüftet die lähmende Harmoniedecke und beginnt zornig von einem Familienanruf aus Westdeutschland zu berichten, in dem er gemahnt wird: »Nun habt ihr ja unser schönes neues Geld, gebt das bloß nicht alles gleich aus.«
Das sind sie, die alten Trennungslinien, grollt er. Im Amt erlebt er zudem, wie »durch direkte Bevormundung« und »Arroganz« von West nach Ost »wieder neue Grenzen aufgebaut« werden. Bitter unkt er: »Wenn das so weitergeht, sitzen wir _(* Vor einer Fotoausstellung im Pankower ) _(Rathaus. ) bald wieder allein in unserer Nische.« Umgekehrt traut sich auch der freundliche und abwägende Jürgen Richter, seinen Unmut zu formulieren: »Euer Beharrungsvermögen macht mich ganz kribbelig. Ich möchte immer sagen, Mensch, nu mach doch mal wat.«
Beschwichtigungen folgen stets auf der Stelle. Nein, persönlich sind solche Vorwürfe nicht gemeint - das nehmen die Beteiligten einander ab. Und doch sind sie erschrocken, wie emotionsgeladen und empfindlich sie manchmal reagieren, wie heftig sie sich rechtfertigen, wie schnell sie bereit sind, als Angriff auf sich zu verstehen, was die anderen nur als Beschreibung ihrer eigenen Realität meinen.
Je länger das Gespräch dauert, desto deutlicher spüren die Teilnehmer die Mauer in sich selbst. Guter Wille hilft da wenig. Tief sitzen Verletzungen, Versäumnisse und Kränkungen der Vergangenheit. Ein emotionales Unterfutter aus Wut und Angst, Enttäuschung über entgangenes »Lebensglück« (Georg Karolewski) und Furcht vor einer ungewissen Zukunft schimmert immer dann durch das aus Vernunft und Takt vorsichtig gesponnene Gesprächsgewebe, sobald konkret das persönliche Schicksal berührt wird.
Am deutlichsten wird das beim Thema Grundstücke und »Datschen« - einem jener Unmut stiftenden Dauerbrenner, »über die keiner glücklich wird«, wie Monika Richter dieses Reizthema vorsichtig einleitet. »Jetzt kriegen sie (die Ost-Berliner) die Grundstücke für drei Mark den Quadratmeter zum Erwerb, weil ihr eigenes Haus draufsteht«, referiert sie den Groll aus der Kaufhaus-Warteschlange und den Büroetagen in West-Berlin: »Und was müssen wir bezahlen? 500 bis 600 Mark pro Quadratmeter.«
Als eine Woche später Frau Richter die Hausfrage erneut anschneidet, wird auch in dieser freundschaftlichen und untypischen Runde jene Kluft sichtbar, die zwischen Ost und West verläuft, wo einst die Mauer stand. Die Spaltung bleibt - wir und ihr, bei uns und bei euch, hüben und drüben.
Und die im Westen hatten es auch nicht immer leicht, und die im Osten mußten auch hart arbeiten. Die einen wollen ja nicht jammern, die anderen sind ja nicht neidisch. Hatte in der DDR die Familie nicht doch einen ganz anderen Stellenwert als im Westen? Mag sein, aber in der BRD hatten die Menschen »sehr wohl auch das Augenmerk auf die Familie gerichtet«.
Aber wie stark das Geld die Menschen im Westen geprägt hat, und wie lächerlich geizig viele sind. Das habe sie sich ja nun wirklich so schlimm nicht vorgestellt, sagt Helga Karolewski stellvertretend für 16 Millionen Ossis, »wie hart Marktwirtschaft sein kann. Daß sie auch den Menschen als solchen verändert. Daß also Mitleid oder ähnliche Gefühlsäußerungen nicht unbedingt gefördert werden«.
Andererseits: Kann sich das eigentlich einer bei uns 60 Millionen Wessis vorstellen, daß die Menschen im Osten sich so gründlich jede Eigeninitiative haben austreiben lassen? Monika Richter bekennt: »Ich kann''s mir eigentlich bis heute nicht richtig erklären, daß es möglich ist, Menschen so zu entmündigen.«
Natürlich fügt Helga Karolewski, wenn sie so ihre sehr persönlich gefärbten Sorgen und Ängste formuliert, hinzu: »Aber man muß unerhört vorsichtig sein, zu pauschalisieren.« Und natürlich will auch Monika Richter keine Feindbilder aufbauen und »das Persönliche rausnehmen«.
In Wahrheit ist, das spüren die Richters und Karolewskis in ihren Gesprächen, derzeit weder das eine noch das _(* In der Nacht vom 9. zum 10. November ) _(1989. ) andere ganz zu vermeiden. Denn das Dilemma ist einmal, daß die Wirklichkeit in beiden ehemaligen deutschen Staaten den Klischees offenbar verhängnisvoll ähnlich war und ist. Und zum anderen: Die Spaltung eignet sich noch immer dazu, der anderen Seite die eigenen Schattenseiten zuzuschieben und ihr alle unerfüllten Lebensträume um die Ohren zu schlagen, als wäre sie für jedes persönliche Manko verantwortlich.
Deutschland, einig Vaterland? Gewiß doch, darüber freuen sich die vier Älteren alle. Sie hätten sich aber auch zwei demokratische Staaten vorstellen können, freilich driftet ihr Demokratieverständnis weit auseinander. Daß aber ihr gemeinsames Deutschtum besonders geeignet wäre, die unterschiedlichen Prägungen aus der geteilten Vergangenheit zu verschmelzen, glaubt keiner. Im Gegenteil, so deutlich treten im Verlauf des Gesprächs trotz aller Verständnisbereitschaft die alten Gegensätze hervor, daß Thomas Karolewski plötzlich das Gespenst einer »Vereinigung ehemaliger DDR-Bürger« aufleben sieht, »die sich irgendwie zusammentun und sagen, wir waren ja gar nicht so schlecht«.
Es gab ja nicht nur die Mauer und die Stasi, es gab auch noch eine andere DDR - die des menschlichen Alltags und der Hoffnung. Man möge das »schizophren« nennen, sagt Helga Karolewski, als »Überlebensstrategie« entschuldigen oder als »Feigheit« verdammen - »aber man hat eben auch gedacht: Na ja, ideell ist die Sache vielleicht gar nicht so schlecht«.
Ob das nun eine Täuschung war oder nicht - 40 Jahre Leben in dieser DDR waren real. Die Ärztin Helga Karolewski hat in diesem Staat »ein erfülltes Arbeitsleben« geführt, trotz allem. Georg Karolewski, beruflich immer unter Wert geschlagen, bezieht seinen Stolz daraus, die Kinder - die sich im »Arbeiter-und-Bauern-Paradies« manchmal »standesgemäßere Eltern« gewünscht hätten als ausgerechnet Akademiker, wie der Sohn spottet - durchs Abitur, die Tochter gar auf die Uni gebracht zu haben. »Vielleicht«, sagt seine Frau Helga, »hätten wir mehr Geld gehabt im Westen. Aber ob wir glücklicher gewesen wären?«
Diese DDR - das sind Erinnerungen und Erfahrungen, die sich in Redewendungen und Witzen, in Gesten und Assoziationen, in Gefühlen und Eindrücken abgelagert haben. Die Karolewskis mögen sich mit den Richters menschlich und politisch noch so gut verstehen - verwechselbar werden sie nie werden.
So enttäuscht die Karolewskis und die Richters auch über den mühsamen Prozeß des Zusammenlebens in Berlin sind, im nachhinein finden sie die Schwierigkeiten nicht allzu überraschend. Im Grunde sei alles zu schnell gegangen. Schon der Ablauf jener historischen Nacht der Maueröffnung hätte sie warnen sollen, denken sie heute, als sich Deutsche aus Ost und West allzu einheitstrunken in den Armen lagen.
Erst im nachhinein aber wird ihnen ihr damals vom eigenen Überschwang verdecktes Unbehagen deutlich. Die Karolewskis hatten sich schließlich erst am zweiten Tag ins Getümmel Richtung Westen gestürzt, mehr erschreckt als begeistert.
Jürgen Richter, der sich daran erinnert, wie auf seinem Fernsehschirm »die Schlangen von Trabis« langsam rüberrollten in den Westen, war schon damals befremdet. Er hörte die Jubelschreie und sah, wie die Wessis den Brüdern und Schwestern aus dem Ostsektor Sekt über die Kühler schütteten und dröhnend die Karossen tätschelten.
Ihm erschien das zügellos, wie besoffen. Zusammen mit seiner Familie freute er sich daheim vor dem Fernsehschirm, behielt Distanz im Taumel. Und zögernd, als ob er sich geniere, sagt Jürgen Richter heute: »Ich bin gar nicht mehr so sicher, daß die Leute die Autos gestreichelt haben. Man könnte genausogut auch sagen - jetzt, mit Abstand -, die haben da wirklich draufgehauen.«
* Jürgen Richter, Helga Karolewski, Monika Richter, UlrikeKarolewski, Kai Richter, Georg Karolewski.* In der Nacht zum 3. Oktober 1990.* Vor einer Fotoausstellung im Pankower Rathaus.* In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989.