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ISLAND Das Crash-Labor

Erst die Finanzkrise, dann der Aufruhr: Als erstes Land Europas versinkt Island im Chaos - ein Vorgeschmack für den Rest der Welt?
Von Ralf Hoppe
aus DER SPIEGEL 6/2009

Es schneit, und bald wird es auch wieder dunkel werden. Nachmittags gegen vier beginnt der Abend, gefolgt von einer langen, langen Nacht, einer isländischen Nacht, hier in Reykjavík, 64. Breitengrad, kurz vorm Polarkreis - wäre Finsternis ein Exportartikel, wären die Isländer ihre Sorgen los. Kristin Gunnarsdottir stellt vor ihrem Bungalow im Garbabae-Viertel den Kleinwagen ab, schliddert zur Haustür und klopft sich den Schnee von den Stiefeln, ihr steht der Sinn jetzt nach Kaffee, Kaminfeuer, warmen Füßen. Sie kommt von ihrer neuen, anstrengenden Lieblingsbeschäftigung.

»Demonstrieren«, sagt sie, »wir müssen Island retten.«

Die vergangenen drei Monate war Kristin Gunnarsdottir ständig in der Innenstadt, bewaffnet mit Topf und Löffel bezogen sie und ihre Mitstreiter Position vor dem Althinghus, dem Parlamentsgebäude, manchmal gemeinsam mit ein paar hundert, meistens mit ein paar tausend Demonstranten, neulich, erzählt sie, sei der Volkszorn so groß gewesen, ums Haar hätten die Demonstranten das Althing gestürmt und die Regierung rausgezerrt und an dem riesigen Tannenbaum aufgehängt. Den Baum gibt es nicht mehr.

»Ein paar Demonstranten haben ihn angezündet, das war vielleicht ein Feuer.«

Island, die im Nordmeer, die Insel der Seligen, brennt - Folge der Finanzkrise.

Kristin Gunnarsdottir holt sich die Thermoskanne, knipst den Fernseher an und will sich gerade in ihre mit Fellen dekorierte Kaminecke fallen lassen, als sie stehen bleibt wie erstarrt. Und auf den Bildschirm deutet.

Kristin ist Mitte vierzig, rothaarig und fröhlich, war früher TV-Journalistin, jetzt Schriftstellerin. Seit Beginn der Finanzkrise gehört sie zu den Anführern einer Revolte, wie Island sie noch nie gesehen hat, einer Revolution von unten, um alles, was war, zu zerschlagen.

»Unglaublich«, ruft sie, deutet zum Fernseher.

Die Außenministerin wird interviewt. Sie heißt Ingibjörg Solrun Gisladottir, Sozialdemokratin, der kleinere der beiden Koalitionspartner, sie sieht blond und erschöpft aus und spricht in die Kamera, dass sie die Regierung nur weiterhin stützen werde, wenn eine Reihe von Forderungen erfüllt würde. Dann kommen Politiker und sagen, diese Forderungen seien unerfüllbar. »Das war's«, sagt Kristin, »ich schätze mal, wir haben jetzt bald keine Regierung mehr - das ist gut so.«

Einige Stunden später zerfällt, zerbirst eine Regierung, die unverrückbar schien; fast 18 Jahre lang war der stärkere der beiden Koalitionspartner, die konservative Unabhängigkeitspartei, an der Macht. Eine Regierung, zuständig für nur etwa 315 000 Isländer, die allesamt um ein paar Ecken miteinander verwandt sind, mehrheitlich sehr blonde, sehr nette, gebildete und gemütliche Menschen. Die Finanzkrise und die Skandale, die im Gefolge ans Licht kamen, haben Island in Aufruhr und Anarchie gestürzt. Auf der Oberfläche geht das Leben weiter, die Verunsicherung darunter ist bodenlos. So ist Island wie eine Kristallkugel, in der die Zukunft Rest-Europas aufscheint.

Island, eine Art Crash-Labor: ein kleines, kompaktes Land, dicht vernetzt, ohne Puffer - hier schlägt alles etwas heftiger durch. Die ersten Entlassungswellen stehen an: Jeder kennt einen, der schon seinen Job verloren hat oder demnächst verliert, jeder kennt einen, der einen Investmentbanker kennt und hasst. Die lässigsten Bars von Downtown-Reykjavík, das »101« oder das »b5«, wo die Geldjongleure noch 2008 wilde Mittsommernachtsfeste feierten, sind menschenleer. Der Imageschaden schlägt aufs Selbstwertgefühl. »Wie stehen wir jetzt da auf der Welt?«, sagt Kristin. »Als die Quartals-Irren, die Zocker von Europa.«

Wo und vor allem wer die Verantwortlichen sind, das weiß keiner genau. Seit dem Kollaps der drei Großbanken sind gut drei Monate vergangen, noch hat die bisherige Regierung keine Ergebnisse präsentiert, wohl nicht mal eine Untersuchung eingeleitet, die diesen Namen verdient.

Umso wahnsinniger die Gerüchte, die durchs Land fliegen. Angeblich hätten die reichsten Isländer vor Monaten das Land verlassen, mit Koffern voller Bargeld im Privatjet nach Portugal. Angeblich seien sie bald zurückgekehrt, um ihre Spuren zu verwischen. Die isländische Krone hat innerhalb eines Jahres gegenüber dem Euro ein Drittel ihres Werts verloren, ist volatil, in den Läden kennt keiner mehr den aktuellen Kurs. Eine linke Minderheitsregierung soll die Geschäfte bis zu den Neuwahlen führen; gut möglich, dass die marxistisch angehauchten Linksgrünen dann stärkste Partei werden.

Nirgends auf der Welt, der Eindruck drängt sich auf, ist die Krise so sichtbar wie in Island, nirgends sonst wird sie so konkret. Überschaubarkeit heißt jetzt auch: Jeder Bürger kann sich ausrechnen, wie tief er drinhängt. Die drei Großbanken hatten vor ihrer Verstaatlichung Schulden in Höhe von 166 Milliarden Dollar gemacht, das Zehnfache des Bruttoinlandsprodukts. Das wären umgerechnet 527 000 Dollar zusätzlich für jeden Einwohner, ob Greis oder Kind. Ein isländischer Klempner oder Fischer, der Frau und zwei Kinder ernährt, hätte also schlagartig rund zwei Millionen Dollar Schulden mehr. Wie soll diese Generation das abarbeiten? Ökonomen schätzen, dass die Inflation zweistellig werden, die Wirtschaft um zehn Prozent schrumpfen wird.

Neue Namen werden gehandelt, sind plötzlich hochbegehrt, als Helden und Retter im Desaster, es sind Leute, auf die gestern kein Mensch hörte.

Es ist später Nachmittag, dunkel und eisglatt, als Vilhjalmur Bjarnason in sein Universitätsbüro an der Saemundargata fährt, um noch zu arbeiten - er ist in düsterer Stimmung, obwohl er eigentlich einer der gefragtesten Männer im Land ist, gepriesen, interviewt, zitiert in Blogs, Zeitschriften, Talkshows.

Bjarnason, 56 Jahre alt, früher mal Banker, inzwischen Universitätsdozent für Makroökonomie, außerdem Vorsitzender des Verbands der Kleinanleger, außerdem Ausdauersportler, ist gereizt, weil er all das, was nun passiert, vorhergesehen hat. Er war stets parteilos, weil man, wie er findet, als Ökonom seine Unabhängigkeit wahren sollte, das war die perfekte Karrierebremse. Jetzt wird er als womöglich nächster Notenbankchef oder Berater des Finanzministers gehandelt. »Wir haben unsere Ökonomie in die Hände von Verbrechern gelegt«, sagt er. »Die Aufräumarbeiten werden ein Blutbad sein.«

Einige der Täter kenne er gut, sagt er, »sie waren meine Studenten«. Sie seien nach dem Abschluss ins Bankengeschäft gestürmt, »und so nahm das Unheil seinen Lauf, so kamen wir ab vom soliden Weg«.

Zuvor, über Jahrhunderte hinweg, verharrte Island in Armut und Not, wie in einem Halldor-Laxness-Roman: Häuser aus Torf, Elend, Epidemien. Dann, erzählt Bjarnason, lernten die Isländer, ihre einzigartige Natur im großen Stil zu nutzen, die Wasserfälle zu stauen und Energie zu gewinnen, das heiße Wasser der Geysire zum Heizen zu verwenden. So hätte es nach Meinung Bjarnason gut weitergehen können; doch dann wurde Island vom Virus der Gier infiziert.

Kristin Gunnarsdottir und viele ihrer Mitstreiter sehen vor allem in der Entscheidung für eines der bis dahin größten Wasserkraftprojekte den Auftakt zu einer wahren Kreditorgie. Der Baubeginn des Karahnjukar-Kraftwerks, das die Aluminiumproduktion weiter ankurbeln sollte, sei geschickt und weltweit vermarktet worden. »Plötzlich war Island ein Geheimtipp, bekam die Top-Top-Ratings.« Die isländische Krone kletterte um 20 Prozent, die Nationalbank erhöhte zwar die Zinsen, um den Markt abzukühlen, daraufhin nahmen jedoch immer mehr Isländer und Firmen Darlehen in Fremdwährung auf, Yen, Dollar, was immer die Banken ihnen vermittelten. Es waren Darlehen, die vergleichsweise billig waren, solange die eigene Währung stieg. Die Nationalbank hatte unmittelbar vor dem Crash nur Devisenreserven in Höhe von 5,1 Milliarden Dollar und war als Kontrolleur für die Banken überfordert. Kapital drängte ins Land, denn Island schien ungemein sicher.

»Dann wurden überall Holdings gegründet«, sagt Bjarnason. »Und Holdings sind Minenfelder.«

Es sei so einfach gewesen, erzählt er. Ein paar Geschäftsleute mit unbedingtem Willen zum Aufstieg, dazu Banker, dazu junge Burschen mit Wirtschaftsabschluss legten Geld und Kontakte zusammen, brachten beispielsweise 10 000 Euro auf, gegründet war die Holding. Sie gingen zu einer der drei großen Banken, ehemals Landesbanken, die inzwischen privatisiert waren, die Jongleure waren mit den Eigentümern befreundet, aber die Banken galten immer noch als solide. Mit einem Einsatz von 10 000 Euro wurde das Hundertfache an Kredit aufgenommen, also theoretisch eine Million Euro. Davon wurden ihnen 990 000 Euro ausgezahlt, und sie kauften Anteile bei ebenjenen isländischen Banken, die dann ihrerseits Kredite aufnahmen und sich in Firmen, Ketten einkauften. »Hier kommt kurz die Realität ins Spiel, vorher war alles virtuell«, sagt Bjarnason.

Nun brauchten die Holding-Gründer nur zu warten, bis der Preis für die Anteile stieg, weil isländische Geschäftsmodelle als Geheimtipp galten, vielleicht ein Jahr. »Schlagartig waren ihre Anteile eineinhalb Millionen Euro wert, abzüglich der Zinsen, sagen wir 100 000 Euro, blieben also 400 000 Gewinn.«

Die Manier, sich besinnungslos Geld zu leihen, hätte damals die ganze isländische Gesellschaft erfasst. Die kleinen Leute blieben jetzt allerdings auf ihren Schulden sitzen, während die Tycoons auf ihren neuen Yachten säßen.

Wer waren diese Tycoons?

»Hier drin ist eine Liste«, er tippt auf seinen Laptop, »mit Namen. 30 Männer, 3 Frauen. Sie sind die Hauptschuldigen. Ich kann es beweisen. Man könnte viel Geld retten. Sie müssen vor Gericht.«

Wird das geschehen?

»Ich bin kein Polizist.« Er blickt gereizt. »Und ich bin auch kein Optimist.«

In Island, dieser kleinen Modell- und Miniwelt, lässt sich das Finanzdebakel wahrscheinlich genauer nachzeichnen als irgendwo sonst: wie Gier aufflammt, die schreckliche Beiläufigkeit, in der Existenzen zermalmt werden, wie der Volkszorn sich Bahn bricht - und wer die Verantwortlichen sind, die Leidtragenden, und wie eine Gesellschaft ganz langsam zu neuer Moral findet.

Kristin, die Schriftstellerin, sitzt am Kaminfeuer, sie schüttelt ihre roten Locken und sagt: »Wir haben Bluffern geglaubt, wir haben zu sehr vertraut, jetzt müssen wir eine Kultur des gesunden Misstrauens entwickeln.« RALF HOPPE

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