WOHNUNGSBAU / HÜGELHAUS Das Ding
Treppenartig zu einer Pyramide ansteigend, nimmt sich das Gebäude aus wie ein Tempel der Mayas. Das Bauwerk steht auf einem Sturzacker im Kohlenpott, und seine Schöpfer nennen es ein »Hügelhaus«. Es soll die »erstarrte Front des Wohnungs- und Städtebaus in Bewegung« bringen.
Einstweilen ist der Bauherr, die städtische Neue Marler Baugesellschaft (Neuma), freilich noch auf der Suche nach Leuten, die so bewegt wohnen möchten.
Die Neuma inserierte in Tageszeitungen, sie schrieb 400 Eigenheimbewerber an und bearbeitete 3000 Bausparer aus dem Kreis Recklinghausen -- aber erst 24 Kauf-Interessenten meldeten sich für die insgesamt 46 Hügelhaus-Wohnungen. Denn »überall«, so Neuma-Geschäftsführer Rudolf Hoffrichter, »herrscht Mißtrauen. Die Leute wollen warten, bis das Ding fertig ist«.
Das Ding von Marl ist rohbaufertig -- eine viergeschossige, 100 Meter lange und 45 Meter breite Betonkonstruktion aus bizarr ineinander und übereinander geschachtelten Wohneinheiten, die alle -- so Hügelhaus-Architekt Hermann Schröder -- »das Ideal des ebenerdigen Hauses mit kleinem Garten« erfüllen.
Die 18 Erdgeschoßwohnungen sind als Bungalows mit mauerumfriedeten Gärten angelegt. Bei den Bewohnern der stufenartig zurückspringenden Obergeschosse sollen bepflanzte, gegen Einsicht geschützte Terrassen das ideale Eigenheimer-Gefühl erwecken.
Das Hügelhaus soll Bauland sparen helfen, und seine Konstrukteure möchten mit ihm das »Blech von der Straße bekommen« (Hoffrichter): 46 gleichgroße Reiheneigenheime hätten das Doppelte, 46 gleichgroße freistehende Häuser gar das Dreifache an Grundfläche eingenommen. Und auch für Autoparkplätze war kein zusätzlicher Baugrund notwendig: Der Wohnhügel türmt sich über einer Tiefgarage, die von den Treppenhäusern direkt erreichbar ist.
Bereits 1963 hatten Architekt Schröder, damals Assistent an der TH Stuttgart, der Architektur-Student Claus Schmidt und der Stuttgarter Regierungsbaurat Roland Frey für ihren gemeinsamen Wohnhügel-Entwurf den ersten Preis des Stuttgarter Siedlungswettbewerbs Neugereut erhalten, weil sie -- so damals die Jury -- eine »Wohnform« gefunden hatten, »die sämtlichen Ansprüchen nach möglichst hohen Wohnwerten ... gerecht wird«. Doch bauen mochte das »Gebilde eigener, noch nie dagewesener Art« (Oberregierungsrat Wolff vom Bundeswohnungsbauministerium) zunächst niemand.
Schließlich gerieten die Hügelarchitekten an den -- 1965 verstorbenen -- SPD-Bundestagsabgeordneten und Marler Bürgermeister Rudolf-Ernst Heiland, der sich schon mehrmals als Förderer zukunftsweisender Architektur verdient gemacht hatte: Anfang der 50er Jahre ließ er in Marl die vielgerühmte Volksbildungsstätte »Insel« bauen; die Marler »Paracelsus-Klinik« gilt als eines der modernsten Krankenhäuser Europas. Und das -- bislang unvollendete -- Marler Rathaus erregte in der internationalen Fachwelt Aufsehen. Nach Einsicht in die Hügel-Pläne entschied Heiland: »Das bauen wir.
Und wie Insel, Paracelsus-Klinik und Rathaus gereichte der Revier-Stadt (78 000 Einwohner) inzwischen auch der Wohnhügel jenseits der Grenzen zum Ruhme. Baufachleute aus Libyen und den USA, aus Spanien, Belgien und der Tschechoslowakei reisten an oder ließen sich die Pläne schicken.
Daß der Hügel dagegen beim Wohnpublikum kaum ankam, kann sich Neuma-Geschäftsführer Hoffrichter nicht erklären. Die neue Wohnform, so findet er, komme doch gerade »dem deutschen Wohngefühl« entgegen -- »weil ein wenig Spitzweg-Romantik dabei ist«.
* Links: Neuma-Geschäftsführer Hoffrichter; rechts: Hügelhaus-Architekt Schröder.