FAHNDUNG Das dritte Blatt
Der Brief kam vom Leitenden Oberstaatsanwalt in Köln, Empfänger war die Polizeibehörde Lichtenstein. Inhalt: »Antrag auf Ausschreibung einer gesuchten Person zur Festnahme«. Delikt: »Staatsgefährdung«.
Die gesuchte Person, Diplomingenieur Kurt Forster, 38, befand sich am Ort. Aber die Lichtensteiner Polizisten nahmen ihn nicht fest: Lichtenstein liegt in Sachsen, und Forster ist Bürger der DDR.
Für die Kölner Staatsanwaltschaft war, wie sie letzte Woche wissen ließ, das amtliche Schreiben in die DDR ein »Irrläufer«. Für den DDR-Bürger Forster war es »grenzenlose Überheblichkeit der Bonner Organe": Gegen seinen Verfolger, Kölns Oberstaatsanwalt Paul Schwellenbach, 59, erstattete er Strafanzeige.
Handhabe bot ihm ein Gesetz, das die Ost-Berliner Volkskammer kurz zuvor »zum Schutze der Staatsbürger- und Menschenrechte der Bürger der DDR« beschlossen hatte. Wer »unter Ausdehnung der westdeutschen Gerichtshoheit« DDR-Bürger verfolgt, wird danach mit Gefängnis, in »besonders verwerflichen«
Fällen mit Zuchthaus bedroht. Betroffene: alle westdeutschen Richter, Staatsanwälte und andere Beamte, die bei Staatsschutz-Delikten oder etwa wegen Grenz-Schießereien gegen DDR-Bürger vorgehen, und möglicherweise auch Politiker. Oder anders: Wer verfolgt, wird verfolgt.
Mit dieser Maxime beantwortete die DDR den Beschluß des Bonner Bundestags vom Sommer, DDR-Funktionären für den damals geplanten - inzwischen gescheiterten - Redneraustausch zwischen SPD und SED beim Besuch der Bundesrepublik freies Geleit zu gewähren. Darin sahen die DDR-Oberen kein Entgegenkommen, sondern eine Provokation: Sie wähnten sich als Kriminelle abgestempelt, die freies Geleit wirklich nötig hätten, während sie sich nach eigenem Rechtsverständnis für unbescholtene Bürger eines selbständigen Staates halten.
»Neues Deutschland« über die Bonner Gesetzesmacher und das Bonner »Gesetz über befristete Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit": »Offensichtlich haben seine Verfasser nicht mehr alle Tassen im Schrank.«
Nun griff die DDR - jüngstes Fehlprodukt der deitschen Spaltung - mit dem Bürgerschutzgesetz ihrerseits in eine fremde, die westdeutsche Rechtssphäre ein. Und der Ost-Berliner Generalstaatsanwalt wies die Strafverfolgungsbehörden in der DDR an, alle Westdeutschen zu registrieren, die gegen DDR-Bürger wegen politischer Delikte vorgehen.
Kölns Leitender Oberstaatsanwalt war der erste, auf den die DDR-Justiz anlegte - obwohl »der arme Herr Schwellenbach«, wie ein Kollege formulierte, »die ganze Zeit keine Ahnung hatte, was da vor sich ging«. Denn nicht politische Unbedachtheit, sondern eine Büro-Panne gab der DDR Gelegenheit, gegen Schwellenbach zu ermitteln.
Sachverhalt: 1961 warb der FDJFunktionär Kurt Forster In Köln für den Besuch eines Arbeiterjugendtreffens in der DDR. Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelte gegen ihn; es erging Haftbefehl wegen Geheimbündelei und Staatsgefährdung.
Forster entkam. Seitdem steht sein Name im westdeutschen Fahndungsbuch. Damit die - jährlich zu wiederholende - Eintragung ständig erneuert würde, stellte die Staatsanwaltschaft Köln Jahr für Jahr den gleichen »Antrag auf Ausschreibung einer gesuchten Person zur Festnahme« und versah das Formblatt mit dem Zusatz »Fristverlängerung«.
Je ein Formular ging an das Landeskriminalamt in Düsseldorf und n das Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Die örtliche Polizeidienststelle wird regelmäßig nur beim erstenmal (nach Erlaß des Haftbefehls) durch ein drittes Formular benachrichtigt - aber nur, wenn der wegen eines Staatsschutzdeliktes Gesuchte in Westdeutschland wohnt und nicht, wenn er in der DDR ansässig ist.
Viermal ging die Routine-Arbeit glatt. Beim fünften Mal aber, in diesem Jahr, geschah das »Kanzlei-Malheur« (so der Kölner Staatsanwalt Horst Caspers). Aus unerfindlichen Gründen spannte eine Justizangestellte ein drittes Formular in die Maschine, als die abermalige Fristverlängerung anstand, obwohl nur noch zwei Formulare erforderlich gewesen wären.
Nachdem das Blatt einmal da war, lief alles nach Büroschema weiter: Automatisch suchte die Angestellte nach der letzten Heimatanschrift des Verfolgten, die - so Caspers - »keinen Hinweis« enthielt, »daß der Ort in der SBZ liegt«, und adressierte das Schreiben an die Polizei in »Lichtenstein/Sa.«. Ebenso automatisch unterschrieb Assessor Krefer, dem »ein ganzer Stoß« ähnlicher Anträge vorlag. Und niemand kam auf die »Idee, daß das Ding in die SBZ gehen« würde (Caspers).
Findiger war die Bundespost. Trotz fehlender Postleitzahl expedierte sie »das, Ding« pünktlich an die richtige Adresse: »Neues Deutschland« in Ost-Berlin erblickte in dem Irrläufer prompt ein »unverschämtes Ansinnen«.
So verdeutlicht ausgerechnet eine Panne, welch absurdes Theater heute auf dem Forum des deutschen Rechts gespielt wird. Die Dialoge sind widersinnig - was dem einen Recht Ist, Ist dem anderen Unrecht. Verfolger werden zu Verfolgten. Was im Westen »freies
Geleit« heißt, gilt im Osten als »Randschellen-Gesetz« (Ulbricht).
Wenn die DDR-Regierung ebenfalls auf den Gedanken käme, bei einem eventuellen Redneraustausch westdeutschen Burgern - die nach dem DDR-Bürgerschutzgesetz straffällig geworden sind - freies Geleit zuzusichern, wäre die babylonische Rechtsverwirrung komplett: Die Redner beider Seiten wären dann, nach der jeweils anderen Rechtsauffassung, Kriminelle. Denn - so CDU-MdB Dr. Manfred Wörner im Sommer - »das Wort Geleit sagt ja, daß es sich hier um Verbrecher handelt«.
»Verbrecher« würden dann mit »Verbrechern« über die deutsche Einheit reden. Man wäre unter sich: Schwere Jungs wären berufen, gemeinsam das Ding der Nation zu drehen.
Kölner Fahndungsantrag
Wer verfolgt...
Kölner Oberstaatsanwalt Schwellenbach
... wird verfolgt