Ungleichere Zwillinge hat es nie mehr gegeben, seit Muskelprotz Arnold Schwarzenegger und Giftzwerg Danny DeVito in Hollywood »Twins« spielten: der eine, der Israeli, großgewachsen und bullig und häufig in maßgeschneiderten Anzügen, ein Rhetoriker von Gnaden und militanter Anti-Iraner; der andere, der Perser, kleingewachsen und schmächtig und fast immer in einer unscheinbaren Kaufhaus-Windjacke, ein eher unbeholfener Volkstribun und hetzerischer Israel-Hasser. Unterschiedliche Charaktere, bei Gott. Aber Zwillinge im Geiste sind sie, dieser Benjamin Netanjahu, 59, und dieser Mahmud Ahmadinedschad, 52, und das festzustellen, heißt keineswegs, sie moralisch gleichzusetzen. Beide gefangen in der Absolutheit ihres Anspruchs; beide besessen von ihrer höheren Berufung; beide überzeugt von einer messianischen Mission - zu »Ehren« einer Religion, zur »Rettung« eines Volkes.
Vieles spricht dafür, dass die kommenden Atomverhandlungen zwischen Washington und Teheran, wenn sie denn irgendwann in den nächsten Monaten mit einem Noch-Präsidenten Ahmadinedschad beginnen sollten, bis zum Jahresende in einer Sackgasse enden. US-Präsident Barack Obama wird dann Anfang 2010 auf schärfere Sanktionen gegen Teheran drängen und mit Mühe auch die Russen und Chinesen darauf einschwören; die iranische Führung wird das als aggressiven Akt sehen und dürfte die Urananreicherung so beschleunigen, dass sie nur noch wenige Monate von der Möglichkeit eines Atombomben-Baus entfernt wäre. An irgendeinem Punkt im Frühling kommenden Jahres könnte es dann so weit sein, dass die Israelis - auch ohne Einwilligung Washingtons - mit Angriffen gegen iranische Nuklearanlagen beginnen. Und der gesamte Nahe Osten könnte Tausende Tote zu beklagen haben, die Folgen für die Weltwirtschaft wären verheerend.
Wer verstehen will, was Irans Präsident und Israels Premier umtreibt, welche Überzeugungen ihre Politik leiten, muss sich auf tiefreligiöse Konzepte einlassen, die Ahmadinedschad wie Netanjahu prägen und die sie fast zwangsweise aufeinanderprallen lassen: das islamische »Hakkani«, das jüdische »Amalek«. Und um zu begreifen, warum die Expresszüge von Teheran und Jerusalem mit ihren Cockpit-Chefs Ahmadinedschad und Netanjahu so bedrohlich Kurs auf einen Crash genommen haben, hilft es auch ein wenig, die Akteure aus eigenem Erleben zu kennen und das Umfeld der Mächtigen bei zahlreichen Reisen nach Iran und Israel in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten recherchiert zu haben. Aus Puzzle-Teilen entsteht so ein Bild. Kein allumfassendes, alles erklärendes, aber immerhin ein Bild, das auf konkreter Spurensuche und Annäherung beruht.
Rückblende. Ende der achtziger Jahre, zu Gast in Irans heiliger Stadt Ghom. Mein erster Besuch in der Islamischen Republik, nach den letzten Reisen zu Zeiten des Schahs und Reportagen über seinen Sturz. »Wollen Sie Ajatollah Mohammed Mesbah Jasdi kennenlernen, Chef der Bildungsabteilung im Rah-i-Hakk-Institut?«, fragt mein Führer. Noch ein heiliger Mann, nach dem halben Dutzend Korangelehrter, mit denen ich an diesem Tag ermüdende Gespräche geführt habe. Heiß ist es und staubig in der Stadt, in der Fatima, die Nachfahrin des Propheten, in einer mächtigen Moschee begraben liegt. Aber dann erzählt mein Führer, dass Mesbah Jasdi einer der brillantesten und einflussreichsten Denker von Ghom sein soll und dazu noch ein enger Schüler des Revolutionsführers Ajatollah Ruhollah Chomeini.
Mesbah Jasdi gibt sich beim Interview als weltoffen und outet sich als Computer-Freak, doch ideologisch ist er ein ultrakonservativer Hardliner, ein Theoretiker der Radikalen, dessen Eiseskälte das permanent spöttische Lächeln nicht verdecken kann. Er propagiert ganz offen Selbstmordattentate, fordert die Vollstreckung des Mordaufrufs gegen den Schriftsteller Salman Rushdie, verlangt »das Blut jedes Menschen, der den Islam beleidigt«. Und er hält »die Zionisten« für das Grundübel der Erde.
Jahrelang bleibt der Scharfmacher im Hintergrund, zieht nur in der fundamentalistischen Hakkani-Bewegung die Fäden, in deren Umfeld er einen ebenso ehrgeizigen wie tiefgläubigen jungen Mann fördert. Im Jahr 2005 ruft Mesbah Jasdi dann die Gemeinde zur Wahl seines Schülers Ahmadinedschad auf, ein ungewöhnlicher Vorgang in der Welt der Ajatollahs, die sich aus den Niederungen der Alltagspolitik gewöhnlich heraushalten und personelle Präferenzen verschweigen. Seitdem gilt der Ultra, der sich zum unfehlbaren Glaubensinterpreten stilisiert, als Ahmadinedschads ideologischer und geistiger Mentor.
Irans Präsident war in seiner Jugend als Sohn eines Schlossers eher islamisch-sozialrevolutionären Theorien zugeneigt: Ali Schariati, der in Frankreich ausgebildete iranische Philosoph, der den Marxismus mit einer religiösen antikolonialen Gedankenlehre verband, beeinflusste Ahmadinedschad in dessen frühen Jahren. Aber dann lernte er mit Mitte zwanzig Mesbah Jasdi kennen und verfiel dem mystischen Fundamentalismus. Schon längst bekennt er sich nun wie sein Vorbild zur selben ultrareligiösen Schule des Schiitentums - in ihrem religiösen Fieber erinnert diese Hakkani-Gruppierung an die zelotischen Glaubenseiferer einer anderen Religion, die Wiedergeborenen Christen (zu denen sich auch George W. Bush zählt).
Die »Mahdisten« um Mesbah Jasdi und Ahmadinedschad glauben, dass ihr zwölfter Imam im 9. Jahrhundert vom Erdboden verschwunden ist, weil ihn Allah der Allmächtige aus dem Verkehr zog, um die Menschen auf die Probe zu stellen. Dieser Mahdi aber wird nach ihrer Auffassung wieder auf die Welt zurückkehren, ebenso wie Jesus, der allen Muslimen als bedeutender Vor-Prophet zum Siegel aller Propheten, zu Mohammed, gilt. Er wird ein Paradies schaffen für die Gläubigen, die Verdammnis bringen für die Frevler. Und er wird das erst tun, wenn die Welt durch eine Katharsis gegangen ist, durch einen alles durcheinanderwirbelnden, riesigen, reinigenden Umsturz.
Einen Krieg zwischen Muslimen und Andersgläubigen vielleicht? Womöglich einen Atomkrieg? Und wollen nicht manche der Apokalyptiker der Hakkani-Schule diesen Weltenwandel provozieren, um das möglichst baldige Erscheinen des Mahdi zu erreichen? Ahmadinedschad - Ahmadi-Dschihad?
April 2009, Regierungspalast in Teheran, Interviewtermin mit Präsident Ahmadinedschad (gemeinsam mit den SPIEGEL-Kollegen Dieter Bednarz und Georg Mascolo). Der Beginn unseres Gesprächs verzögert sich, Gelegenheit, sich in dem Gebäude umzusehen. Im Vorzimmer seines Sitzungsraums hat Ahmadinedschad in Vitrinen Gastgeschenke ausstellen lassen, offensichtlich nur die Präsente der ihm wichtigsten Teheran-Besucher, ein Dutzend sind es. Besonders prominent ist ein hässlicher Silberteller präsentiert: eine Gabe der »amerikanischen Antizionisten-Vereinigung«, überreicht anlässlich der »Holocaust-Konferenz«, bei der Ahmadinedschad vor drei Jahren von »Wissenschaftlern« seiner Couleur die Schoa, den millionenfachen Mord an Juden unter den Nazis, anzweifeln ließ. Und hinterher, und immer wieder, forderte Irans Präsident öffentlich, das Zionisten-Regime müsse verschwinden.
Bei großen Kundgebungen und bei seinen wenigen Pressekonferenzen wie jetzt Anfang vergangener Woche wirkt Ahmadinedschad wie ein Demagoge, ein verbissener, missverstandener Krieger, der gegen die westliche Welt mit ihren moralischen Übeln wie dem »Werben um Homosexuellen-Stimmen« um sich schlägt; bei unserem Zweistundengespräch zeigt er sich eher locker, konzentriert, aber stets lauernd, ein Fuchs in Deckung, einer, der auf jede Frage ganz schnell eine Gegenfrage hat. Und sich sehr wohl bewusst ist, dass er einer internationalen, nicht einer heimischen Zuhörerschaft predigt.
Diskussionen um die Nuklearfrage erklärt er für »beendet«, wo sie doch international, jedenfalls unter Teilnahme der USA, noch gar nicht begonnen haben. Dass Iran seine mit der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags eingegangenen Verpflichtungen eklatant verletzt hat, leugnet er einfach. Kernwaffen will er angeblich nicht; aber zumindest zwischen den Zeilen eines extrem kontrovers geführten Gesprächs (das Ahmadinedschads Freunde, oder vielleicht auch seine Feinde, in der iranischen Presse im Wortlaut abdrucken) wird klar, dass er Iran als virtuelle Atommacht, als eine der führenden Nationen der Welt gewürdigt sehen will. Unter diesen Vorzeichen - und zu seinen Bedingungen - will er gern mit US-Präsident Obama und dem Rest der Welt verhandeln.
Ahmadinedschad kann im persönlichen Gespräch höflich, ja charmant sein und weiß durchaus nüchtern seinen Standpunkt einer westlichen Umklammerung Irans darzustellen. Aber er hat auch eine andere, mystische Seite. Er fühlt sich als Berufener. Ein Licht habe ihn umgeben, als er vor der Uno-Vollversammlung in New York sprach, behauptete Ahmadinedschad im Gespräch mit iranischen Parlamentariern; das Licht habe die Führer anderer Nationen im Saal während seines Auftritts zum Verstummen gebracht. Dieses besondere spirituelle Band, das der Präsident mit dem Mahdi durch solche Äußerungen für sich beansprucht, macht ihn auch führenden Klerikern in Ghom suspekt. Die Hakkani-Schule erfreute sich beim Revolutionsführer und Gottesstaat-Gründer Chomeini keiner besonderen Hochachtung, er dachte wohl sogar über ein Verbot nach; auch seinem Nachfolger Chamenei sollen die Hakkinisten in ihrer Radikalität durchaus suspekt sein.
Im Umfeld Ahmadinedschads ist zu erfahren, dass er sich nach wie vor jede Woche zum ideologischen Tête-à-tête mit seinem Mentor trifft. Warum eigentlich wird dieser seltsame Heilige in Entscheidungen einbezogen und in wessen Auftrag handelt der »Berater« des Präsidenten, haben sogar schon Abgeordnete im Parlament gefragt. Ajatollah Mesbah Jasdi, 74, wurde zwischenzeitlich zum Direktor des Imam-Chomeini-Instituts für Erziehung und Islamische Studien in Ghom. Der Radikale hat bei der - offensichtlich nicht manipulierten - Wahl zum Expertenrat im Dezember 2006 eine empfindliche Schlappe einstecken müssen und ist gemäßigten Reformern um den Ex-Präsidenten Mohammed Chatami, der ihn einen »Theoretiker der Gewalt« genannt hat, unterlegen. Ebenso klar unterlegen wie den im System Etablierten um den Multimillionär Hashemi Rafsandschani. Anschließend schnappte Mesbah Jasdi, Spitzname »Krokodil«, gegen alle Andersdenkenden zu. Er will das Land nun von allen reformerischen Strömungen reinigen. Anhänger des Reformlagers nennt der Präsidenten-Flüsterer schon mal »einen Haufen Schnaps trinkender Lumpen«.
Der schiitische Islam erlaubt in Zeiten der essentiellen Bedrohung ausdrücklich »Takija«, die Lüge zum höheren Wohl der Gemeinschaft - ein modern interpretiertes Konzept aus der Frühzeit des Islam, da sich die Schia mit allen Mitteln gegen eine aggressive sunnitische Mehrheit behaupten musste. Mesbah Jasdi: der Vater der kreativen Stimmauszählung?
Es gibt einen Ort, an dem nach der festen Auffassung der fundamentalistischen Hakkinisten der Mahdi seine weltliche Wiederkehr feiern wird: Dschamkaran bei Ghom. An diesem Ort hat der Präsident die örtliche Moschee mit Millionengeldern vergrößern und verschönern lassen; zu dem Heiligtum, in das Ahmadinedschad häufig pilgert, soll bald auch eine aufwendige neue Bahnstrecke aus Teheran führen. Dschamkaran, wo zahlreiche Pilger nach Geschlechtern getrennt in zwei heilige Brunnen ihre Wunschzettel werfen, strahlt derzeit nichts von einer apokalyptischen Vision aus. Dschamkaran wirkt so gar nicht düster oder bedrohlich, sondern wie ein friedlicher, lebhafter, zum Picknick einladender Wallfahrtsort, ein bisschen christliches Lourdes, ein wenig jüdische Klagemauer.
Ahmadinedschad, der Holocaust-Leugner und Israel-Hasser, hat immer wieder versichert, er wolle das »Zionisten-Gebilde« nicht militärisch angreifen; eher metaphysisch müsse man sich seinen Wunsch nach Israels Verschwinden von der Landkarte vorstellen, sagen seine Verteidiger. Landeskenner wie die Kölner Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur verweisen auf semantische Feinheiten: Nicht vom »Ausradieren« Israels habe der Präsident gesprochen, sondern gesagt: »Dieses (israelische) Besatzer-Regime muss von den Seiten der Geschichte verschwinden.« Doch machen solche Wortdeutungen für Israel einen Unterschied? Für ein Land, das sich trotz seiner militärischen Macht immer existentiell bedroht zu fühlen scheint und von einem alles überstrahlenden Grundsatz geprägt wird: Nie wieder eine Schoa. Wie, fragen viele Israelis, sollen sie einem Mann trauen, der sich auserwählt fühlt, seinen Iran mit welchen Mitteln auch immer zur Größe zu führen und seinen extremistischen Glaubenssätzen zu genügen?
Sie nennen ihn »Bibi«, als wäre er mit einer ganzen Nation per du und würde nie erwachsen. Wenn dieser Bibi alias Benjamin Netanjahu in den vergangenen Monaten über Teheran und seine politische Führung gesprochen hat, wiederholte er wie ein Mantra, das iranische Atomprogramm sei die »größte Bedrohung, mit der sich Israel seit der Staatsgründung 1948 konfrontiert gesehen hat«. Die liberale und stets gut informierte israelische Tageszeitung »Haaretz« schrieb: »Politiker, die in Verbindung mit Netanjahu stehen, sagen, er habe seinen Entschluss zur militärischen Zerstörung der iranischen Nuklearanlagen schon gefasst.« Und zwar unabhängig von der Zustimmung Washingtons.
Was könnte den israelischen Ministerpräsidenten so sicher machen, dass er das Richtige tut - angesichts der potentiell schwerwiegenden Folgen eines solchen Militärschlags von iranischen Raketen auf Tel Aviv bis zur Hisbollah- und Hamas-Terrorwelle, von den Verwerfungen mit der für Israel so überlebenswichtigen Schutzmacht USA ganz abgesehen?
Rückblende. Jerusalem, Vaterhaus Netanjahus, Mitte Juli 1976. Die Familie hat mich (an der Seite meines israelischen Journalisten-Kollegen Shabtai Tal) zu sich nach Hause eingeladen. Die Stimmung ist gedrückt; noch liegt über allem wie ein tiefer Schleier die Trauer um Jonatan Netanjahu. Wenige Tage zuvor hat eine israelische Spezialeinheit in der wohl spektakulärsten Befreiungsaktion der Terrorgeschichte mehr als 90 Geiseln einer von Palästinensern entführten Air-France-Maschine gerettet. Einziges Opfer des Kommando-Unternehmens auf israelischer Seite, getötet vermutlich von einem Querschläger, ist der brillante Kommandant der Einheit - Jonatan, genannt Joni, Bibis Bruder. Er wurde nur 30 Jahre alt.
Für viele Israelis hat er mit der Aktion von Entebbe ein jüdisches Mahnmal an die Wand gezeichnet, wegweisend bis in die heutige Diskussion zur Haltung gegenüber Iran: ein Symbol gegen die Passivität des Erleidens, ein Symbol dafür, das Heft auch in einer scheinbar ausweglosen Situation in die Hand zu nehmen. So etwas wie die Fortschreibung des Aufstands im Warschauer Ghetto.
In einer Situation der persönlichen Trauer wie bei meinem Besuch damals in Jerusalem ist es sicher nicht ungewöhnlich, dass der verlorene Sohn im Zentrum allen Denkens steht. Vater Benzion Netanjahu erzählte liebevoll von Jonis Opferbereitschaft für Israel. Aber auffällig war schon, dass Benjamin und auch Iddo, der Bruder Nummer drei, es nicht ein einziges Mal wagten, das Wort zu ergreifen und auch andächtig schwiegen, als das Familienoberhaupt zu einem großen historischen Exkurs in die jüdische Geschichte ausholte.
Ob Benjamin Netanjahu je eifersüchtig war auf seinen drei Jahre älteren heldenhaften Bruder, ist schwer zu beurteilen; bewundert hat er ihn jedenfalls von frühester Jugend an - und versucht, ihm nachzueifern. Joni trat nach seinem Militärdienst in die Spezialeinheit Sajeret Matkal ein und wurde Kommandeur der Elitetruppe. Bibi folgte. Joni erhielt wegen seiner Tapferkeit die höchsten Auszeichnungen; Bibi, der dabei war, als eine gekaperte Sabena-Maschine gestürmt wurde, die zweithöchsten. Der Kampf gegen das Böse zur Rettung der Juden, so vorbildhaft verkörpert von dem Märtyrer in der Familie, der »israelischen Legende«, wurde seinem Bruder zum Vermächtnis. Wie zuvor Joni ging auch Bibi nach Amerika und studierte an prestigeträchtigen Universitäten - damals bei der Totenwache für sein Vorbild in unserem Beisein in Jerusalem sprach er bei der Verabschiedung von seinem möglichen Eintritt in die Politik.
Ein zweites prägendes Moment im Leben des israelischen Ministerpräsidenten ist bis heute der Vater, der sein 99. Lebensjahr vollendet hat. Er hatte immer etwas von einem Patriarchen, und was er »anregte«, wurde von den Kindern strikt befolgt. Dazu gehörte die Bereitschaft, sich für den Judenstaat an herausragender Stelle zu opfern; auch Iddo, heute ein Radiologe, leistete wie die anderen beiden seinen Dienst bei der gefährlichen Sondereinheit ab. Für Benjamin hieß es, in die übergroßen Fußspuren Jonatans zu treten und den antijüdischen Terror mindestens genauso beherzt und umfassend zu bekämpfen. Das ideologische Rüstzeug lieferte das Familienoberhaupt.
Benzion Mileikowsky, wie er damals noch hieß, wurde in Warschau als Sohn eines Rabbiners geboren. Gemeinsam mit seinen Eltern wanderte er 1920 ins biblische Land aus. Er lebte im vorwiegend arabischen Jaffa, bevor er nach Jerusalem zog und dort als Student unter dem aus Eigenantrieb angenommenen hebräischen Familiennamen Netanjahu (etwa: »Gottesgeschenk") für eine Zeitung schrieb, die 1935 von der britischen Mandatsverwaltung wegen »Hetze« verboten wurde. Dann ging der junge Historiker nach Amerika, wo er Sekretär des revisionistischen Zionisten Wladimir Zeev Jabotinsky wurde, eines Mannes, der jeglichen Kompromiss mit den Arabern ablehnte. Auch Vater Netanjahu glaubte an ein Groß-Israel und bekämpfte in Amerika den Teilungsplan vehement, der 1948 zur Gründung des jüdischen Staates führte.
Nach seiner Rückkehr versuchte Benzion Netanjahu, in der israelischen Politik Karriere zu machen, wurde mit seinen Forderungen aber selbst vom rechten Likud-Block Menachem Begins als zu extrem abgelehnt. Fortan widmete er sich seinen Büchern, wurde zum Mitherausgeber der »Encyclopaedia Hebraica« und schrieb ein Werk über die Geschichte der Juden in Spanien. In dem über 1300 Seiten langen Opus, dessen Schlussfolgerungen er seinen Söhnen in stundenlangen familiären Lesungen eingetrichtert hat, argumentiert der Historiker, dass die Pogrome der Spanier gegen die Juden in Zeiten der Inquisition weniger theologisch denn rassistisch motiviert waren. Dass militanter Antisemitismus immer ein Ausdruck von unmotiviertem Hass ist und es darauf nur eine Antwort geben kann: militante, zur Not auch vorbeugende jüdische Selbstverteidigung.
Mit einigem Recht konnte Vater Netanjahu seine Söhne darauf hinweisen, dass er als einer der wenigen frühzeitig vor dem Holocaust gewarnt hatte. Und er vermittelte ihnen noch mehr: die Überzeugung, dass die Familie zu Besonderem berufen, dass sie auserwählt sei.
Einige Jahre später habe ich Bibi in New York wiedergetroffen; da war er gerade zum israelischen Uno-Botschafter ernannt. Bei unserem nächsten Interview war er schon stellvertretender israelischer Außenminister und sprach verächtlich über »palästinensische Selbsttäuschungen, die werden sich noch wundern, wenn ich an die Macht komme«. 1993 machten ihn die Parteimitglieder zum Likud-Chef, drei Jahre später siegte er in einem Kopf-an-Kopf-Rennen gegen Schimon Peres und wurde israelischer Ministerpräsident, der jüngste aller Zeiten. Er behielt diesen Posten bis 1999. Mit den Amerikanern hatte der Hardliner eine schwierige Beziehung. »Dieser Hurensohn will doch gar nicht verhandeln«, rief Präsident Bill Clinton einmal im Beisein mehrerer Zeugen erbost aus, als Netanjahu gerade mal wieder Obstruktionspolitik betrieb. Und White-House-Sprecher Joe Lockhardt nannte den israelischen Premier in einem Interview »eines der anstößigsten Individuen, an die man geraten kann, einen Lügner und Betrüger«. Doch sosehr Bibi Netanjahu auch aneckte, so störrisch er zu seinen von Vater und Bruder vermittelten Grundsätzen stand, zur weltweiten Terroristenjagd blies und seine Groß-Israel-Pläne verfolgte - er zeigte auch, dass er, wenn es denn gar nicht mehr anders ging, über seinen ideologischen Schatten springen konnte. Er übergab Teile der Stadt Hebron den Palästinensern und legte sich so mit seiner Klientel an.
Im Dezember 2005 feierte Netanjahu sein Comeback als Likud-Chef und führte die Partei Anfang 2009 als Favorit in die Wahlen. Auch dieser Urnengang brachte, ähnlich wie jetzt der iranische, keine klaren Verhältnisse, obwohl er - wie in der einzigen Demokratie des Nahen Ostens zu erwarten - frei und fair verlief. Netanjahus Partei landete nur auf Platz zwei, die Kadima der populären und Verhandlungen mit Arabern aufgeschlossenen Zipi Livni konnte einen Abgeordneten mehr in die Knesset entsenden. Netanjahu war auf eine Koalition mit den Ultrareligiösen angewiesen. Und auf einen Deal mit dem Rechtspopulisten Avigdor Lieberman, den die »Haaretz« einen »Rassisten und Faschisten« nennt. Der dann, wofür sich viele Israelis schämen, im neuen Kabinett Außenminister wurde.
Netanjahu hat seine Wurzeln nicht vergessen. Die beiden Persönlichkeiten, die sein Leben und sein Denken geprägt haben, erwähnt er häufig. Dem Vater hat er ein flammendes Werk zur Bekämpfung des Terrorismus gewidmet, die Briefe des gefallenen Bruders in einem Buch veröffentlicht. Während er in den ersten Monaten der neuen Amtszeit seinem Ruf als Hardliner alle Ehre machte, zeigte er am vergangenen Montag bei seiner außenpolitischen Grundsatzrede unter starkem Druck der Obama-Regierung immerhin Ansätze von Kompromissbereitschaft. Er sprach erstmals von einem »palästinensischen Staat«, wenngleich er die Hürden dafür so hoch setzte, dass es auch gemäßigten Palästinensern schwerfiel, ein tatsächliches Entgegenkommen zu erkennen. Womöglich wird Netanjahu in den nächsten Monaten noch andere Positionen räumen, wird unter Washingtons Ägide auch auf den Ausbau von Siedlungen verzichten, den er derzeit noch gegen alle völkerrechtlichen Verpflichtungen unter dem Euphemismus des »natürlichen Wachstums« vorantreibt. Aber in der Frage der iranischen Atombomben wird Netanjahu aller Voraussicht nach knallhart bleiben. Auf einen Angriff zusteuern. Warum ist da die rote Linie für ihn überschritten? Warum scheint er sich ein Verbleiben seines Gegenspielers Ahmadinedschad im Amt geradezu herbeizusehnen, wie selbst die »FAZ« mit Bezug auf israelische Quellen befremdet konstatiert hat?
Als der amerikanische Autor und Israel-Kenner Jeffrey Goldberg kürzlich bei einem Netanjahu-Vertrauten nachfragte, wie sich diese Fixierung erklären lasse, sagte der nur: »Denken Sie an Amalek.« Das ist der jüdische Begriff, der in unseligem Kontext zur islamischen »Hakkani«-Schule steht - ein spiegelbildliches Begriffspaar, das Krieg bedeuten könnte. Amalek ist im Wortsinn der Name des biblischen Enkels von Esau, der mit seinen Stammeskriegern aus Kanaan die Hebräer auf dem Weg ins Heilige Land Eretz Israel heimtückisch und unprovoziert überfallen hat; Amalek meint im übertragenen Sinn die existentielle Bedrohung für das Judentum zu allen Zeiten, unter allen Umständen, durch alle Feinde. »Gedenke, was dir Amalek getan. Wie er dich anfiel und deine Nachhut abschlachtete, alle die Schwachen hinter dir, während du müde und ermattet warst und weil er Gott nicht fürchtete«, heißt es in der Tora, Dewarim 25, Fünftes Buch Mose.
Die Auseinandersetzung mit Amalek darf keine jüdische Generation vergessen, denn Amalek verkörpert das Böse, das Zerstörerische, das Schlechte an sich. Das gilt es zu bekämpfen, das ist für einen strenggläubigen Juden »Mizwat Asse«, ein Gebot der Tat - und laut manchen Deutungen der alten Schriften geht es noch um mehr, nämlich darum, die Urfeinde auszulöschen.
Rabbis wie Bibi Netanjahus Großvater lehrten und lehren bis heute, dass Juden gezwungen sind, die immer wieder in neuen Formen auftauchenden Amalekiter zu bekämpfen: die Truppen Nebukadnezars, die des spanischen Großinquisitors Tomás de Torquemada, die Schergen Adolf Hitlers - und jetzt die Israels Zerstörung beschwörenden Hardliner um ihren Präsidenten Ahmadinedschad. Wer wie Netanjahu Irans Atomprogramm als Amaleks Waffenarsenal sieht, ist nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, es vorbeugend zu zerstören. Denn nach einem möglichen iranischen Nuklear-Erstschlag, so geht das apokalyptische jüdische Gedankengebäude, wird es einen Judenstaat nicht mehr geben. Im Zweifel also gegen den Angeklagten.
Dass Iran, griffe es mit Kernwaffen an, selbstmörderisch handeln und bei einem unweigerlich folgenden Gegenschlag seine Regierung mitsamt Hunderttausenden Unschuldigen auslöschen würde, spielt keine Rolle: Nach Ansicht der Anti-Amalekiter sehnt Ahmadinedschad ja ein solches Inferno geradezu herbei, um in diesem Endzeitszenario dem Mahdi den Weg zu ebnen. Dass Ahmadinedschad »nur« ein Populist ist und mit seinem Nuklearprogramm »nur« taktische Ziele wie die regionale Aufwertung Irans, ein Gleichgewicht mit der Atommacht Israel verfolgen könnte, wird als naiv verworfen.
Ist also ein kommender Krieg schon fast unvermeidlich? Waren es denn in der jüngeren Geschichte Israels nicht immer die Hardliner, die sich zu entscheidenden Kompromissen durchgerungen haben und die, wie Begin oder Scharon oder jetzt möglicherweise Netanjahu, diese ihrem Volk auch vermitteln konnten? Wird nicht möglicherweise auch Ahmadinedschad zurückstecken wollen oder müssen?
Die Lösungen für eine Überwachung des iranischen Atomprogramms liegen auf dem Tisch. Der Westen wird bereit sein müssen, den Iranern grundsätzlich - und strikt international überwacht - das Recht auf Urananreicherung zuzugestehen. Die Iraner werden akzeptieren müssen, ihr Arsenal auf nur einige Dutzend Zentrifugen für wissenschaftliche Forschung zu begrenzen und ansonsten für ihr ziviles Atomprogramm auf nuklearen Brennstoff aus Drittländern zurückgreifen zu können. Als Ausgleich auf ein solches Einlenken Teherans würde der Westen einem »Grand Bargain« mit uneingeschränktem Handel, wissenschaftlichem Know-how-Transfer und diplomatischer Anerkennung durch Washington zustimmen.
Aber zurzeit stehen die Zeichen eher auf Sturm. Auf Hakkani gegen Amalek. Auf einen Showdown der ungleichen Zwillinge.