ZEITGESCHICHTE Das Ende der 10. Panzerdivision
Fjodor Lizkan steht auf den Höhen oberhalb von Bogutschar und blickt in die Aue hinunter, durch die sich das Flüsschen Bogutscharka dem Don entgegenschlängelt. Eine liebliche Landschaft breitet sich in sanften Terrassen vor ihm aus, nur Wälder, Wiesen und Felder ringsherum: Russland wie aus dem Bilderbuch.
»Es ist ein bisschen wie in Altengrabow«, sagt Fjodor. Wehmut schwingt in seiner Stimme.
Fjodor ist 39, er ist nicht groß, hat nur noch wenige Haare auf dem Kopf, aber ein gutmütiges Gesicht. Er ist Oberfähnrich, in Russlands 10. Panzerdivision. Genau genommen heißt sie »10. Ural-Lemberger Freiwilligen-Garde-Panzer-Division Marschall der Sowjetunion R. A. Malinowski«, und dann folgen noch die Ehrentitel, die ihr im Verlauf von 66 Jahren verliehen worden sind: »Träger des Ordens der Oktoberrevolution, des Rotbannerordens, des Suworow- und des Kutusow-Ordens«.
Die »10.« war berühmt, damals, als sie noch »Stalin-Division« hieß. 1943 im Ural aus 9000 Freiwilligen aufgestellt, stürmte sie zwei Jahre unaufhaltsam Richtung Westen. An den Schlachten von Orjol und Czernowitz nahm sie teil, an der Lemberger und an der Weichsel-Oder-Operation, sie tauchte bei der Offensive in Niederschlesien auf, vor Berlin und schließlich in Prag. Die »10.« war eine Eliteeinheit, ihre Kämpfer bekamen 42 368 Orden, 38 Gardisten trugen den Titel »Held der Sowjetunion«.
Zum Stehen kam die Division bei Altengrabow, 35 Kilometer östlich von Magdeburg. »Die Landschaft ist so wellig wie hier«, sagt Fjodor, »nur Sand und Heide.«
Fjodor hat in Altengrabow gedient, wo die 10. Panzerdivision später als Teil der »Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland« stand. Einen Katzensprung entfernt vom neuen Feind - der ersten Nato-Einheit auf westdeutschem Boden.
Er hat mit ihr 1994 auch den Rückzug mitgemacht - in ein Land, das mit jenem, aus dem die Division einst kam, kaum noch etwas gemein hatte. Denn die Sowjetunion gab es zu dieser Zeit nicht mehr.
Was nach der deutschen Wiedervereinigung mit Fjodor und der 10. Panzerdivision geschah, ist exemplarisch für das Schicksal einer Streitmacht, die - 45 Jahre nach dem Krieg - durch eine Laune der Geschichte mitten in Feindesland stand. Und die später zu Hause niemand mehr zurückhaben wollte.
Fjodor war 18, als er in die DDR kam, es war das Jahr vor dem Mauerfall. Man hatte ihn zu Hause in Moldawien als Soldat requiriert, ins anhaltische Zerbst geflogen, dort zum Kraftfahrer ausgebildet und dann nach Altengrabow gebracht, auf einen früheren Truppenübungsplatz der Wehrmacht, den nach dem Krieg bis zu 60 000 Sowjetsoldaten in Beschlag genommen hatten.
In der DDR zu dienen war das Beste, was einem sowjetischen Rekruten passieren konnte. Sechs Armeen, ausgerüstet mit 4200 Panzern, 700 Kampfflugzeugen und zahlreichen Atomraketen, bewachten die vorderste Linie des Warschauer Pakts. Sie waren technisch auf dem modernsten Stand und hervorragend versorgt. Ihre 340 000 Mann, Familienangehörige nicht gerechnet, lebten in 777 Militärstädtchen, die zusammengerechnet eine Fläche etwa so groß wie das Saarland einnahmen.
Fjodor bekam 650 Ostmark Sold. Als die Mauer fiel und später die Währungsunion kam, waren es 650 Mark West - »für uns ein fürstlicher Lohn«, sagt Fjodor. Das erste Geld hat er in ein Videogerät investiert, später kamen Möbel, Teppiche und ein zehn Jahre alter Opel Commodore hinzu.
Die DDR löste sich auf und zu Hause auch die Sowjetunion, in Altengrabow aber dachten sie, das alles habe mit ihrem Leben nichts zu tun. Als das Ende seiner Dienstzeit nahte und die Versetzung nach Russland, suchte sich Fjodor in Moldawien zum Schein sogar noch eine Frau. Verheiratete durften länger bei der Westgruppe bleiben, wie die sechs Armeen nun hießen.
Für die Deutschen war es undenkbar, Wiedervereinigung zu feiern, ohne vorher den Abzug der Besatzungstruppen zu regeln. Von dem Verhandlungskrimi, der nun begann und auch das Schicksal der 10. Panzerdivision besiegelte, ahnte Fjodor nichts.
Denn der Kreml wusste nicht, wohin mit seinen Armeen. Ein Abzug bis Sommer 1997 schien noch denkbar, Bonn aber bestand auf einer um drei Jahre kürzeren Frist. Auch beim Geld klafften die Vorstellungen auseinander: Die Deutschen wollten den Sowjets den Abgang mit zunächst 5 Milliarden Mark erleichtern, Moskau forderte fast das Vierfache: 18,5 Milliarden.
Je näher der 3. Oktober 1990 rückte, um so erregter wurde der Ton. Finanzminister Theo Waigel bedrängte Helmut Kohl, nicht nachzugeben, während sich Gorbatschow beim Kanzler beschwerte, »in eine Falle geraten« zu sein. Die Sowjetarmee sei nicht bereit, nach Rückkehr in die Sowjetunion »auf dem Feld in Zelten zu kampieren«.
Erst sechs Tage nach der Wiedervereinigung kam der Durchbruch: Deutschland verpflichtete sich, zwölf Milliarden Mark zu zahlen, davon knapp acht für den Bau von 36 000 Offizierswohnungen in der Sowjetunion. Dafür sollte Deutschland bis Ende 1994 frei von Sowjetsoldaten sein.
Eine Aktion begann, die in der Militärgeschichte heute als größte Truppenverlegung zu Friedenszeiten gilt: In 145 000 Eisenbahnwaggons wurden 2,7 Millionen Tonnen Kriegsmaterial Richtung Osten geschickt, darunter 677 000 Tonnen Munition.
Auch die 10. Panzerdivision machte sich mit ihren 2193 Mann, 274 Panzern und 107 Geschützen auf den Weg.
Bogutschar ist ein 300 Jahre altes Bauernstädtchen mit 13 000 Einwohnern. Die Straßen sind nach der Oktoberrevolution benannt oder Geheimdienstgründer Felix Dserschinski. Es stehen ein paar alte Kaufmannshäuser hier, ein aus Blech gefertigtes Kriegerdenkmal, ein Blumenladen, der »An der Ampel« heißt, weil es nur eine einzige Ampel gibt, und in den Vorgärten wachsen im Sommer Aprikosenbäume und Stockrosen. Die auffälligsten Gebäude sind das Gymnasium, in dem der spätere Literaturnobelpreisträger Michail Scholochow zur Schule ging, und die Ruine des früheren NKWD-Gefängnisses. Eine Garnison gab es nie, sieht man einmal davon ab, dass das Städtchen 1942 fünf Monate lang in der Hand der deutschen Wehrmacht war; mehrere tausend italienische Verbündete fielen hier. Nach dem Krieg dämmerte Bogutschar als Provinznest vor sich hin, die Leute arbeiteten in den Kolchosen und im Käsewerk.
Den Kollaps der DDR hatten seine Bewohner kaum bemerkt. Was in Europas Mitte geschehen war, interessierte sie erst, als das Gerücht zu ihnen drang, eine Panzerdivision werde nach Bogutschar verlegt, direkt aus Deutschland.
Die Einheiten der Westgruppe auf dem platten russischen Land zu stationieren - das hatten Moskaus Militärstrategen so nicht geplant. Es war eine Notoperation: Russlands große Städte hatten sich gegen die Heimkehrer gesträubt. Der Wirtschaft ging es schlecht, welche Kommune wollte sich mit Soldaten belasten, die vielleicht in die Arbeitslosigkeit entlassen würden?
»Wir in Bogutschar aber waren entzückt«, sagt Jurij Welitschenko, 58, der Vizebezirkschef. »Uns war klar: Jetzt kommt endlich Geld in die Stadt.« Wo die Militärs wohnen, wo ihre Frauen arbeiten, wo die Panzer unterkommen sollten - davon hatte niemand eine blasse Ahnung.
So wurde Bogutschar, wie 43 andere Orte auch, zum Testfall, ob man sechs Armeen mit Hilfe von acht Milliarden Mark in eine andere Welt verpflanzen kann. Schon der Auftakt im Sommer 1994 war wenig verheißungsvoll.
Die Division kam per Zug aus Altengrabow an, da aber Bogutschar keinen Bahnanschluss hat, luden die Militärs ihre Panzer auf der Station Kantemirowka aus und steuerten die 46 Tonnen schweren Tanks 63 Kilometer weit durch die Felder - zum Entsetzen der Bauern.
Auch der private Besitz der Offiziere, der sich nach dem Mauerfall in den Kasernen von Altengrabow angesammelt hatte, musste nach Russland: die Autos, die Fernseher, die Videorecorder, die Möbel.
Fjodor hatte sich mit zehn Kameraden zu einer Fahrgemeinschaft zusammengetan, hinters Lenkrad seines Opel geklemmt, einen Kumpel ans Steuer des ebenfalls von ihm erstandenen Lkw, Marke Ifa W50, gesetzt, und dann hatten sie sich auf den Weg zum Don gemacht. Durch Polen, durch Weißrussland, durch die Ukraine.
In Bogutschar mietete sich Fjodor mit anderen Offizieren eine Wohnung, das Gros der Division wurde in Zelten oder Waggons untergebracht. Die Frauen reisten mit den Kindern weiter zu Verwandten.
Denn in Bogutschar herrschte nun Chaos: Der kleine Ort, den früher zwei Autos pro Tag passierten, hatte plötzlich einige tausend Einwohner mehr, mittags schon waren die Geschäfte leer. Ohne die fliegenden Händler wäre die Versorgung kollabiert; Ukrainer, Aserbaidschaner, Armenier schafften Waren herbei, auf Klappliegen neben dem Gymnasium boten sie Strümpfe, BH oder Kaugummis an.
Und dann kamen noch 4000 Koreaner.
Die Koreaner sollten mit dem deutschen Geld am Rande von Bogutschar ein Garnisonsstädtchen bauen: 1753 Wohnungen, eine Schule, Kindergärten, eine Poliklinik und eine Bank, ein Hotel und einen Kulturpalast. Die Stadt hatte dafür 56 Hektar Land bereitgestellt, zusätzlich zu den 350 Hektar für die Garnison.
Es passierte, was überall beim Errichten der neuen Militärstädtchen geschah: Die Aktion entwickelte sich zu einem grandiosen Bereicherungsprogramm. Für die Generäle, die sie planten, für die Unternehmen, die vor Ort bauten, und für jene, die später die Wohnungen vergaben.
In Bogutschar war die südkoreanische You One Engineering & Construction Co. Ltd. Generalauftragnehmer geworden, sie hatte den größten Teil der Arbeiten aber an ein türkisches Unternehmen weitergereicht: die Sadri Sener Construction Co. Es dauerte nur wenige Monate, da hatte auch Bogutschar seinen Skandal.
Die Türken schafften weder genügend Material noch die erforderlichen Arbeiter heran, Bankgarantien fehlten, und auch mit dem harten Winter kamen sie nicht zurecht. Bald zahlten die Koreaner nicht mehr, die Türken stellten die Arbeiten ein.
Im September 1994 kündigte You One die Verträge, beschlagnahmte Maschinen, Werkzeuge und Material und verklagte die Türken vor einem Schweizer Schiedsgericht zur Zahlung von 58 Millionen D-Mark; der Streit endete sechs Jahre später vorm Schweizerischen Bundesgericht, die Türken mussten 20 Millionen D-Mark Konventionalstrafe zahlen. In Bogutschar aber übernahmen nun die Südkoreaner die Bauten.
Sie brauchten weitere zwei Jahre, dann stand das Städtchen. Es war eines der besseren geworden: vierstöckige Wohnhäuser in sanftem Grün, ockerfarben oder rot, ein »Haus der Kultur« in norddeutscher Backsteinarchitektur, dazu Sportplätze und Trainingshallen. 60 Häuser hatten die Koreaner aus dem Boden gestampft.
Die deutschen Geldgeber schauten nur sporadisch vorbei. Die Mängel des hastigen Bauens sahen sie wohl, aber sie griffen kaum ein. Mal hatten sie falsch angesetzten Beton wieder aufstemmen, mal zu dünne Asphaltdecken neu gießen lassen. Mehr nicht. Die Einwohner von Bogutschar aber staunten über das Garnisonsstädtchen: Es gab - anders als in der Stadt - rund um die Uhr warmes Wasser, Gas und Strom, in den Wohnungen hatte man statt Linoleum Parkett verlegt, und die Fenster waren wirklich dicht, weil nach westeuropäischer Norm gefertigt.
Auch Oberfähnrich Fjodor Lizkan bekam eine der Wohnungen ab.
Die Lizkans wohnen in Haus Nummer 15, Wohnung 20. Es sind zwei Zimmer nur, 54 Quadratmeter, die Miete beträgt 1500 Rubel, 35 Euro, der Teppich aus Altengrabow liegt im Flur. Fjodor hatte von einer Dreizimmerwohnung geträumt, wie sie sein armenischer Nachbar hat, von dem niemand weiß, woher er sie bekommen hat. In der Division jedenfalls arbeitet er nicht.
Bei der Vergabe des Wohnraums hatte man erst mal die Amtsträger der Stadt bedient: Zehn Wohnungen waren an die Polizei gegangen, zehn an die Staatsanwaltschaft, zehn an das Gasunternehmen von Bogutschar. »Alles wurde im Kreise einer Mafia geklärt«, behauptet Fjodor.
Es ist eng für die Lizkans: für seine Frau Natalja, eine Lehrerin, die er in Bogutschar kennengelernt hat und die nun ebenfalls in der Division arbeitet, für Sohn Denis, der in die 7. Klasse geht, und für die siebenjährige Tochter Katja. Wenn die Eltern Besuch haben, spielen die Kinder im Schlafzimmer zwischen den Betten, wo der Computer steht.
In der Division arbeitet Fjodor jetzt als Spieß, als Kompanie-Feldwebel, der die Soldaten vom Einkleiden bis zum Essenfassen bemuttern muss. 10 000 Rubel bekommt er monatlich, keine 230 Euro.
Abends blättert er oft in den Alben mit den Fotos aus der DDR: Von Bogutschar aus gesehen erscheint ihm Altengrabow erst recht wie ein verlorenes Paradies. »Nicht nur, dass wir jetzt weniger Sold bekommen, wir sitzen hier in der Pampa fest«, sagt Fjodor: »Es gibt nicht mal ein Kino in Bogutschar. Sonntags immerhin ist Basar, da kann man Klamotten kaufen. Nach Woronesch, in die nächste große Stadt, sind es drei Stunden Autofahrt.«
Verglichen mit den trüben Zukunftsaussichten sei das aber gar nichts. Denn die 10. Panzerdivision wird ab Januar liquidiert. Moskaus Militärreform hat Bogutschar erreicht, die Armee wird verschlankt. Die 10. Panzerdivision, über ein halbes Jahrhundert Symbol russischen Kampfgeistes, trifft es besonders hart: Sie steht strategisch am falschen Platz, es braucht sie niemand mehr. Die Panzer werden konserviert, die Garnison wird Munitionslager.
Dass eine solche Einheit in die Don-Steppe verlegt wurde, sei eine »völlig idiotische« Entscheidung gewesen, für die nun die Offiziere zahlen müssten, sagt der letzte Kommandeur der Westgruppe, Matwej Burlakow.
Den meisten droht die Entlassung. Jene, die wie Fjodor mehr als 20 Jahre lang gedient haben, werden in Rente geschickt, die übrigen in andere Einheiten versetzt, sie müssen mit ihren Familien umziehen. Es sind die späten Opfer des Berliner Mauerfalls.
Fjodor wird mit 4000 Rubel Pension, knapp 100 Euro, abgefunden werden. Arbeit gibt es in Bogutschar nicht, die Armee wird ihm woanders aber keine Wohnung geben; im ganzen Land sind 90 000 Offiziersfamilien noch immer ohne Unterkunft. Um eine Wohnung zu kaufen, dazu fehlt ihm das Geld: »Ich bin verdammt, in Bogutschar zu bleiben«, sagt Fjodor.
Was aber wird aus dem Militärstädtchen? »Natürlich haben die Koreaner damals viel zu schnell gebaut«, sagt Jurij Welitschenko, der Vize der Bezirksadministration, »das rächt sich jetzt.« Die elektrischen Türöffner in den Häusern sind längst kaputt, aus den Fensterfüllungen bröckelt das Silikon. Am »Haus der Kultur« zieht sich ein Riss vom Dach bis ins Erdgeschoss. Einer der Kindergärten ist schon aufgegeben worden, ebenso die »Feldbank« der Division. Die Stadt würde die Garnison sofort übernehmen, sagt Welitschenko, »wir haben 400 Wohnungssuchende«. Dem Verteidigungsministerium wäre das auch recht, es müsste keinen Rubel mehr in die Häuser stecken. Aber die Generäle geben die Grundstücke nicht her - Immobilien sind im neuen Russland eine Ware, mit der sich viel bewegen lässt. »Für uns ist das kein faires Geschäft«, sagt Welitschenko.
So steht am Ende eine ernüchternde Bilanz. Ja, die von den Deutschen versprochenen Wohnungen gibt es wirklich. Aber ein Großteil der Milliarden, mit denen sich Deutschland 1994 von der Nachkriegsgeschichte freigekauft hat, wurde in den Sand gesetzt. Den zurückkehrenden russischen Soldaten verschaffte das Geld nur eine Atempause: Daheim angekommen sind sie noch immer nicht. CHRISTIAN NEEF