»Das Ende der Gemütlichkeit«
SPIEGEL: Herr Scheffer, Einwanderer gelten in Europa heute vor allem als Problem. Oder sehen Sie ein Land, das erfolgreich mit der Zuwanderung umgeht?
Scheffer: In den vergangenen Jahren habe ich die Gegenden besucht, in denen die meisten Migranten leben, Städte wie Lyon, Rotterdam, Berlin, Birmingham und Malmö. Überall sehe ich dieselben sozialen Probleme: Segregation, hohe Arbeitslosigkeit, kulturelle Entfremdung.
SPIEGEL: Wenn Integration schiefgelaufen ist, muss man sich fragen: Wer ist schuld? Die übliche Antwort wäre: die Aufnahmegesellschaft, weil sie die Einwanderer nicht akzeptiert hat. Sehen Sie es auch so?
Scheffer: Ich bin an Schuldzuweisungen nicht interessiert. Ich sehe ein Muster, das wir aus der Geschichte der USA kennen. Es fängt mit Segregation auf beiden Seiten an. Die Migranten wollen nicht in einer Gesellschaft aufgehen, die sie als fremd empfinden, sie bleiben zusammen, bilden Netzwerke; die Einheimischen ihrerseits verlassen Gegenden, in denen sich die Einwanderer niederlassen. Vermeidung gehört zur Geschichte der Migration. Deswegen sage ich nicht, die Integration ist misslungen, ich sage, sie fängt gerade an.
SPIEGEL: Und wie?
Scheffer: Ab einem bestimmten Punkt kann man sich nicht mehr aus dem Weg gehen, die Leute merken, dass sie aufeinander angewiesen sind. Jetzt sind wir mitten in der zweiten Phase, und die ist konfliktreich.
SPIEGEL: Was wäre die nächste Stufe?
Scheffer: Eine wirkliche Akzeptanz. In den heutigen Konflikten sehe ich die Suche nach einem neuen sozialen Vertrag. Wir müssen die Vorurteile beider Seiten einander gegenüberstellen, ohne das wird es keine Akzeptanz geben. Das folgende Beispiel soll das Problem beleuchten: Ich habe vor kurzem eine Schule in Antwerpen besucht, eine gute Schule, in der die Elite von Flandern erzogen wurde. Jetzt kommen 95 Prozent der Kinder an dieser Schule aus Migrantenfamilien, darunter viele aus muslimischen Familien. Das Ganze ist eine Erfolgsgeschichte, aber trotzdem erzählen die Lehrer, dass es schwierig geworden ist, im Geschichtsunterricht über den Holocaust zu reden, im Biologieunterricht über die Evolution und im Literaturunterricht über einen »perversen« Schriftsteller wie Oscar Wilde. Dann kommt der Moment, in dem man auf solche Vorurteile reagieren muss.
SPIEGEL: Und was machen die Lehrer?
Scheffer: Die versuchen, am Lehrplan festzuhalten, aber es kostet viel Mühe und Vertrauen, diese Kinder, die mit einem sehr traditionellen Verständnis von Religion erzogen worden sind, so weit zu bringen, dass sie über solche Fragen reden können. Aber auch die sogenannte Mehrheit hat Vorurteile. Zum Beispiel gibt es Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt oder Widerstand gegen fast jede geplante Moschee.
SPIEGEL: Warum soll eine aufgeklärte Gesellschaft zurückweichen, um ein paar Einwanderern entgegenzukommen?
Scheffer: Es sind nicht ein paar, es sind Millionen. Heute machen die erste und zweite Einwanderergeneration 20 Prozent unserer Gesellschaft aus, von denen die Muslime nur eine Minderheit sind. Aber auch deren Präsenz wirft neue Fragen auf. Jetzt muss neu definiert werden, was Religionsfreiheit bedeutet. Darüber müssen sich beide Seiten klarwerden. Ich glaube, Moscheebauten sollten nicht an den Rand gedrängt werden, sondern sollten im öffentlichen Raum deutlich sichtbar sein. Das bedeutet aber, dass dieses Recht verbunden ist mit der Pflicht, Menschen mit einer anderen Religion oder ohne Religion dieselben Rechte zu garantieren. Diese Gegenseitigkeit von Recht und Pflicht ist bei uns nicht klar artikuliert.
SPIEGEL: Dagegen ließe sich einwenden, dass zunächst einmal die Regeln der Mehrheitsgesellschaft Respekt verdienen.
Scheffer: Ich glaube, dass Integration nur auf der Basis von Gegenseitigkeit gelingt. Nicht in dem Sinne: Ich habe meine Kultur, die haben ihre Kultur, wir treffen uns irgendwo auf halbem Wege. In einer Stadt wie Amsterdam leben 170 Nationalitäten, wo soll da die imaginäre Mitte sein, von der die Multikulturalisten geträumt haben? Wenn man aber etwa über eine Trennung von Staat und Kirche spricht, dann kann man diese Normativität nicht formulieren, ohne dass sie auf die Aufnahmegesellschaft zurückschlägt.
SPIEGEL: Das hieße etwa, für Christen muss gelten, was wir von Moslems fordern, also kein Verschleierungszwang, aber auch keine Kruzifixe in Klassenräumen?
Scheffer: Man wird sich jedenfalls nicht einfach auf eine christliche Tradition berufen können. Wie sollen sich die Muslime klar zu einer Trennung von Staat und Kirche bekennen, während wir es nicht tun, weil wir etliche Regelungen - etwa die Kirchensteuer - haben, die mit diesem Grundsatz kaum zu vereinbaren sind?
SPIEGEL: Schon möglich, dass wir Defizite bei der Säkularisierung haben, aber die muslimischen Einwanderer haben mit der Säkularisierung noch gar nicht angefangen.
Scheffer: Die Frage ist: Kann man andere mit einem Prinzip konfrontieren, an das wir uns selbst nicht halten? Wir müssen uns an unseren Idealen messen.
SPIEGEL: Wir müssen uns in Frage stellen, um Forderungen an andere richten zu können?
Scheffer: Ja, das ist für mich das Prinzip der offenen Gesellschaft: die Fähigkeit zur Selbstkritik.
SPIEGEL: Erhöht sich wirklich die Integrationsbereitschaft der Zuwanderer, wenn die Kruzifixe von der Wand verschwinden?
Scheffer: Es steht eine Menge mehr auf dem Spiel als nur ein paar Kruzifixe. Es hat noch nie eine so große Präsenz des Islam in einer weltlichen europäischen Gesellschaft gegeben, insofern machen wir gerade eine einzigartige Erfahrung. Ich kann nicht die Freiheit von Muslimen verteidigen, wenn es unter ihnen zu wenige gibt, die bereit sind, meine Freiheit zu verteidigen. Gleichzeitig gibt es in vielen europäischen Gesellschaften politische Bewegungen, die die Freiheiten der Muslime eingrenzen wollen. Es ist im Augenblick offen, wie das Experiment ausgeht.
SPIEGEL: Es gibt Leute, die sagen, die Werte der Aufklärung, zu denen wir uns durchgerungen haben, seien den Werten vieler muslimischer Einwanderer überlegen.
Scheffer: Die Idee einer offenen Gesellschaft ist ein allen vergleichbaren Alternativen überlegenes Ideal. Aber wir verkörpern dieses Ideal nicht, sondern können nur versuchen, uns ihm anzunähern. Darum spreche ich nie von Überlegenheit, sondern von Selbstkritik als Teil der Suche nach Integration. Warum rede ich so viel über Gleichbehandlung? Weil ich überzeugt bin, dass es keine andere Möglichkeit gibt, Migranten nicht als zweitrangige Mitbewohner, sondern als Bürger zu sehen. Weil eine offene Gesellschaft jedem den Raum bietet, sein eigenes Leben zu gestalten.
SPIEGEL: Einwanderung ist nichts Neues, auch nicht für Deutschland. Im Ruhrgebiet lebten um 1915 eine halbe Million Polen ...
Scheffer: ... und es gab die gleichen Probleme wie heute: Ausgrenzung und kulturelle Entfremdung. Polnische Pfarrer wurden aufgefordert, auf Deutsch zu predigen. Das ist die Geschichte und das Wesen der Migration: Es gibt immer eine neue Einwanderung, die die Gesellschaft dazu zwingt, sich selbst neu zu definieren. Das protestantische Amerika musste sich neu definieren, als es katholische Einwanderer aufnahm, und im Verlauf dieses Prozesses haben auch die Katholiken, die aus Irland und Polen kamen, ihre sehr konservativen Vorstellungen von Religion geändert.
SPIEGEL: Hat man für die Einwanderer zu wenig oder zu viel getan? Sie alleingelassen oder mit Fürsorge entmündigt?
Scheffer: Ich glaube nicht, dass wir zu wenig getan haben. Aber haben wir das Richtige getan? Wir haben immer gesagt: Die brauchen mehr Zeit, die können doch nicht mit dem Prinzip der offenen Gesellschaft konfrontiert werden, die sind noch nicht so weit. Wir waren paternalistisch.
SPIEGEL: Wie lässt sich das ändern?
Scheffer: Wir müssen auch über die Gestaltung unserer Institutionen reden, über den Wohlfahrts- und Versorgungsstaat. Es ist uns gelungen, aus dem Teil der Gesellschaft, der am stärksten risikobereit war, der alles hinter sich gelassen hatte, für eine unsichere Zukunft, den am stärksten passiven Teil der Gesellschaft zu machen. In den USA, mit ihrer marktorientierten Einwanderungspolitik, ist die Situation anders. In New York arbeiten 90 Prozent der Einwanderer der ersten Generation, in Amsterdam sind es weniger als 50 Prozent. Ähnlich sieht es bei den türkischen Einwanderern in Deutschland aus.
SPIEGEL: Was wir in der Auseinandersetzung über die richtige Form des Zusammenlebens mit Sicherheit verlieren werden, ist ein Stück Meinungsfreiheit. Wir erleben jetzt schon, wie Religionskritik tabuisiert wird, weil sich jemand beleidigt fühlen könnte.
Scheffer: Das ist leider so. In England, wo die Radikalisierung der Muslime am weitesten fortgeschritten ist, will man Blasphemie jetzt härter bestrafen, um die öffentliche Ordnung nicht zu gefährden. Aber Toleranz kann nicht auf Furcht basieren. So eine Situation kann eine Gesellschaft aber auch dazu bringen, sich vermehrt für Freiheiten zu engagieren. Das ist die angemessene Reaktion auf eine Politik, die auf Furcht basiert: ein wachsendes Bewusstsein für die Bedeutung der freien Rede und eine wachsende Bereitschaft, sich gegen die Versuchung der Selbstzensur aufzulehnen.
SPIEGEL: Hat eine Gesellschaft, die von Angst regiert wird, überhaupt die Kraft, sich positiv zu reformieren? Oder wird sie vor der Gefahr zurückweichen?
Scheffer: Wenn wir Konflikte nicht austragen, kommen wir nie zu einer Akzeptanz. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange das dauern wird, aber wir haben keine andere Wahl - außer uns zu engagieren und den Konflikt als eine Chance zu betrachten, dem Ideal einer offenen Gesellschaft näher zu kommen. INTERVIEW: HENRYK M. BRODER,
JAN FLEISCHHAUER