Das Experiment
Pathos lag den beiden fern, als sie am vergangenen Mittwoch miteinander telefonierten. Über Verantwortung brauchten sie nicht zu reden, die haben sie ja. Die schwierige Lage im Lande ist so klar, dass auch darüber kein Einvernehmen erzielt werden musste.
Aber wo liegt das Ferienhäuschen der einen, und wo urlaubt der andere? Eine solche eher neckische Fragerei eröffnete die erste telefonische Kontaktaufnahme der CDU-Chefin Angela Merkel mit ihrem neuen Gegenüber von der SPD, Matthias Platzeck, obwohl beide die Antwort des anderen ja kannten: in der Uckermark.
Vieles liegt dicht beieinander - ihre Geburtsorte, ihre Biografien, ihre Feriendomizile, ihre Sprache. »Ich liebe die Uckermark«, sagte er über jenen hügeligen Landstrich, den er oft schon prosaisch als »Po- und Busenlandschaft« charakterisiert hatte. Sie erzählte von ihrem Ferienhäuschen in Hohenwalde bei Templin, das sie »Datsche« nannte.
Beide lachten herzlich. Nähe schafft Nähe. Und so wünschten sie einander schmucklos viel Glück bei einer Aufgabe, die von nun an ihre gemeinsame ist.
Eine gewisse Entspanntheit ist spürbar, bei ihm und bei ihr. Beide sind von ihren Parteien auserkoren, die politischen Geschicke
des Landes zu leiten. Mann und Frau, Naturwissenschaftler von Hause aus, beide aus Ostdeutschland. Erst in den letzten Tagen der untergehenden DDR fanden sie ihren Weg in die Politik, die fortan die Regie in seinem wie ihrem Leben übernahm.
Noch fällt es schwer, die Folgen des Zufalls, der vielleicht keiner ist, zu übersehen. Bemerkenswert sei es schon, sagt sie über die politischen Ereignisse der abgelaufenen Woche. Erstaunlich, entfährt es auch ihm. Es hat sich eine Konstellation in Deutschland ergeben, die neue Wege eröffnen kann - auch den Ausweg aus der Dauerkrise.
Am vergangenen Freitag ist der politische Kampf für einige Stunden zum Erliegen gekommen. Es ist die Stille nach dem Orkan, der eine Woche lang durch die Hauptstadt gefegt war.
Ein halbes Dutzend führender Sozialdemokraten und den Chef der CSU hat er mit sich fortgerissen. Unter großem Getöse sackte auch der hehre Anspruch in sich zusammen, den viele Politiker im Munde führen: dass sie natürlich noch von ganz anderen Motiven geleitet werden als vom eigenen Fortkommenstrieb.
Zurück blieben Worte, die einst großartig klangen und nun leblos wirken. »Verantwortung übernehmen« ist beinahe schon zu einem Synonym für Flucht geworden. »Erst das Land, dann die Partei«, haben Politiker aller Schattierungen den Wählern versprochen, um sich dann in der Stunde der Herausforderung allem zu entziehen, erst dem Land, dann der Partei.
Tatsächlich ist dem Aufbruch Ost eine Abdankung West vorausgegangen, das eine hat das andere erst möglich gemacht. »Es ist die manifeste Leere an Ideen, Überzeugung und politischer Reife, die so erschreckt«, schreibt der Politologe Franz Walter über die SPD. Die CDU darf sich mitangesprochen fühlen.
Die Menschen seien die »Politik des Reinschmeckens« leid, wie sie etwa von den Ministerpräsidenten Roland Koch, Peter Müller und Christian Wulff praktiziert würde, sagt der Soziologe Heinz Bude. Dieser Politikertypus sei darauf versessen, immer aufs Neue die Karten für später zu mischen, anstatt die Probleme von heute anzupacken.
»Eine Regierung, die sich den Herausforderungen des Landes stellt«, hatte der Noch-SPD-Chef Franz Müntefering versprochen. Das ist wenige Wochen und damit eine Ewigkeit her. Den Müntefering von damals gibt es nicht mehr.
Von einer »großen Chance zur Erneuerung des Landes« sprach Edmund Stoiber, der stets größten Wert darauf legte, zur Generation der Pflichterfüller gezählt zu werden, nicht zu verwechseln mit den 68ern. Er hat sich selbst verraten. Nun muss er in Bayern als sein eigener Schattenministerpräsident leben, bis seine Parteifreunde diesem Schauspiel ein Ende bereiten werden.
Man könne in diesen Tagen sehr deutlich beobachten, sagt ein nachdenklicher Wolfgang Thierse, wie zermürbend politische Karrieren seien. Merkels und Platzecks Triumph sind für ihn auch das Ergebnis einer kollektiven Erschöpfung im politischen Establishment alter Prägung.
Deutschland im Herbst 2005 ist ein Land, in dem Massenentlassungen und Milliardenschulden die Schlagzeilen bestimmen. Das Volk soll mit öffentlichen Muntermachprogrammen bei Laune gehalten werden: »Du bist Deutschland« heißt es in einer großflächigen Kampagne. Aber Deutschland ist nicht mehr bei sich selbst.
Es sagt viel über die politische Situation des Landes aus, dass nun jene Frau, die immer um ihr politisches Überleben kämpfen musste, als stabilisierender Faktor wahrgenommen wird. Bezeichnend auch, dass ein Mann von der politischen Peripherie innerhalb einer Nacht ins Zentrum rückte, wo er eine Rolle spielen soll, die zu üben ihm keine Zeit blieb.
Merkel steht nun gefestigt, aber ein wenig einsam da, landsmannschaftlich verbunden mit einem SPD-Vorsitzenden Platzeck, der sich ein politisches Gewicht erst noch erarbeiten muss. Müntefering wird als Schutzschild gebraucht, sagt er und sagt sie. Der Aufbruch Ost bleibt auf die ausgezehrten Werte angewiesen, im wahren Leben wie in der Politik.
Womöglich sind die Erwartungen an die beiden größer als ihre Möglichkeiten. Aber das kann die Protagonisten in dieser frühen Morgenstunde ihrer Macht nicht bekümmern. Merkel will weiter auf Reformen drängen. Die Sanierung der Staatsfinanzen nennt sie, die mit ihrer CDU eben erst vom Wähler kräftig gezaust wurde, tapfer »eine Schicksalsfrage«.
Auch Platzeck, von Haus aus kein Übertreiber, schaut mit leichtem Frösteln auf die Problemberge, die sich über die Jahrzehnte aufgetürmt haben. Er will der Versuchung widerstehen, sie rhetorisch zu schrumpfen, wie es Schröder und Müntefering in Ermangelung vorzeigbarer Erfolge zuletzt getan hatten.
Niemand hatte ernsthaft mit Matthias Platzeck als Parteivorsitzenden gerechnet, so wie nach dem Ende der Ära Kohl niemand Angela Merkel für den CDU-Vorsitz auf der Rechnung hatte. Beide sind das Ergebnis einer sehr unwahrscheinlichen Machtkonstellation, nun könnten sie gemeinsam etwas bewegen.
Es ist ein Anfang, dem nun doch ein gewisser Zauber innewohnt. Merkel und Platzeck stehen für eine Hoffnung, die sich auch aus Neugier speist. Für die beiden Beginner schossen in den Meinungsumfragen am vergangenen Donnerstag die Sympathiewerte in die Höhe. Dass nun zwei 51 Jahre alte Ostdeutsche die wichtigsten politischen Posten besetzen, die das Land zu vergeben hat, ist ein Experiment, wie es die Republik in bewusster Entscheidung wohl nie gewagt hätte.
Sie sind anders als ihre westdeutschen Politikerkollegen, das macht es schwerer, sie auszurechnen. Sie besitzen einen »antiideologischen Affekt«, sagt Wolfgang Thierse, so dass sie womöglich immun sind gegen die Stereotypen der politischen Westkultur.
In den Schützengräben von Jusos und Junger Union haben sie nie gehockt, sie kennen die Adenauer-Brandt-Schmidt-Jahre nur aus West-TV, Geschichtsbuch und Erzählungen.
Der Sozialstaat heutiger Prägung ist nicht ihr Werk, was beim Umbau ein enormer Vorteil sein kann. Die hitzig geführten Debatten der siebziger und achtziger Jahre, als in der Bundesrepublik um Nato-Nachrüstung, Kernenergie und gewerkschaftliche Mitbestimmung gerungen wurde, waren nicht die ihren. In den damals entstandenen Beziehungsgeflechten sind sie nicht gefangen.
Neugierig ist dieser Typus von Haus aus; und womöglich auch wagemutiger als die Kollegen aus dem Westen.
Sie sind Angehörige einer Generation, die wie keine andere den Macht- und Kulturwechsel der DDR 1989/90 vorangetrieben hat. Das hat sie nüchterner, illusionsloser, manchmal auch härter gemacht als viele ihrer westdeutschen Altersgenossen.
Sie gehen die Dinge pragmatisch an, sind zuerst an Lösungen interessiert und erst
dann an Ideologie und Taktik. »Ostdeutsche verbindet die Erfahrung, dass nichts von Dauer ist«, sagt Platzeck, »alles was unser Leben bestimmt hat, war von einem auf den anderen Tag in Frage gestellt.«
Thierse zählt das Zuhörenkönnen zu den herausragenden Eigenschaften der Ostspezies. Denn das Äußere, blaues Hemd, grauer Anzug, Trabi vor dem Haus, war eine große Einheitsmaskerade. In der DDR habe daher das Motto gegolten: »Sprich, damit ich dich sehe.«
Schon ihre Berufserfahrung weist Merkel und Platzeck als Raritäten aus. Beide sind Naturwissenschaftler und damit Teil der einzigen ostdeutschen Elite, die die DDR weitgehend unbeschadet überstanden hat. Im Westen sind es vor allem Juristen und Lehrer, die es in politische Ämter drängt, im Osten aber Ingenieure und Naturwissenschaftler, die nach der Wende
eine Karriere als Landrat oder Minister absolvierten.
Taktische Finesse ist auch Merkel und Platzeck nicht fremd, sonst wären sie nicht da angelangt, wo sie jetzt sind. Aber es sind nicht ihre einzigen Qualitäten. Sie sind - ohne eigenes Zutun - Teil einer Generation von DDR-Bürgern, die mit nüchterner Sacharbeit nach vorn kam, nicht durch Reden in rauchigen Hinterzimmern.
Die großen Dramen der DDR-Geschichte blieben ihnen erspart. Der Aufstand des 17. Juni 1953, die anschließende Machtkrise der SED und der Bau der Mauer gehören nicht zu ihren prägenden Erfahrungen. Sie sind aufgewachsen in einer Zeit der weitgehenden Stabilität und des relativen Wohlstands. Das hat ihr Verhältnis zum Regime bestimmt - und nicht das Trauma der repressiven DDR-Diktatur.
Beide stammen aus bürgerlichen Familien. Platzeck wurde 1953 in Potsdam geboren. Sein Vater war ein bekannter Arzt, die Mutter stammte aus einer Pfarrersfamilie. Urgroßvater Ernst, Inhaber eines Zigarren- und Zigarettenspezialgeschäfts, hatte in Nordhausen am Harz im 19. Jahrhundert die SPD mitgegründet, auch Großvater Hermann war schon Sozialdemokrat und führte in der Weimarer Zeit das örtliche Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold gegen die Feinde der parlamentarischen Demokratie.
Merkel, 1954 in Hamburg geboren, zog wenige Wochen nach ihrer Geburt mit ihren Eltern in die DDR, erst in das 300-Seelen-Dorf Quitzow in der brandenburgischen Prignitz, dann in die Kleinstadt Templin, 80 Kilometer nördlich von Berlin.
Es war ein ungewöhnlicher Schritt, denn allein in den ersten fünf Monaten jenes Jahres hatten 180 000 Menschen den verhassten Arbeiter-und-Bauern-Staat verlassen. Doch Horst Kasner, Merkels Vater, fühlte sich in der Pflicht. Der Hamburger Bischof Hans Otto Wölber hatte den jungen
Pfarrer gedrängt, in seine alte Heimat zurückzukehren, wo die Kirche unter akutem Seelsorger-Mangel litt.
»Wir hatten eine schöne Kindheit«, sagt Platzeck. Merkel drückt es gegenüber ihrem Biografen Gerd Langguth gewundener aus: »Diese Phase war viel positiver, als dass sie beschwerlich war.« Für beide gilt, dass sie »sehr bürgerlich, sehr kirchlich« (Platzeck) erzogen wurden und damit anders als viele ihrer Altersgenossen. Bei Platzeck stand im Klassenbuch in der Spalte Herkunft kein »A« für Arbeiterklasse, sondern ein »I« wie Intelligenz. Das galt in der DDR nicht als Vorteil.
Anders als bei Merkel spielte Politik in Platzecks Leben schon früh eine Rolle, das ist ein großer Unterschied zwischen beiden. Sie sammelte Kunstpostkarten, er schwärmte für den Sozialismus - auch aus Trotz zum Elternhaus, in dem die SED-Führung nicht sehr geschätzt wurde. Er sei stets ein politischer Mensch gewesen, sagt Platzeck. Merkel würde das nicht von sich behaupten.
Mit zwölf Jahren kam Platzeck auf eine Spezialschule für Mathematik und Physik, auf der »Ulbrichts Elite« erzogen werden sollte. Platzeck träumte davon, Kosmonaut zu werden, und die Schule schien mit ihren kleinen Klassen und roten Lehrern die besten Bedingungen dafür zu bieten. Als russische Panzer 1968 auf den Straßen der tschechoslowakischen Hauptstadt das Experiment des »Prager Frühlings« niederwalzten, weckte ihn sein Vater. »Deine Kommunisten marschieren gerade in Prag ein.«
Platzeck ließ sich nicht beirren. Der Vater seiner ersten Freundin war DDR-Diplomat. Er wurde Mitglied der FDJ und war fest davon überzeugt, dass seine eigenen Eltern »gesellschaftspolitisch auf dem falschen Dampfer« waren. Er machte Karriere in der DDR, leistete seinen Grundwehrdienst, studierte an der Technischen Hochschule Ilmenau, wurde Diplomingenieur für biomedizinische Kybernetik und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Lufthygiene in Karl-Marx-Stadt.
Mit seinem beruflichen Aufstieg wuchsen auch die Zweifel am System. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR, der sowjetische Einmarsch in Afghanistan, die Repression gegen Regimefeinde erschütterten seine ideologischen Grundfesten. So sah er sich früh gezwungen, das eben noch als richtig Geglaubte in Frage zu stellen.
Sympathien für den Sozialismus sind aus Merkels Jugend nicht überliefert. Sie lebte ein stilles Leben in der Provinz, ohne viel Abwechslung. Sie war fleißig, belesen und Einser-Schülerin, gewann in der achten Klasse die Russisch-Olympiade und durfte zur Belohnung mit dem Freundschaftszug in die Sowjetunion fahren.
Ihre Eltern hatten ihr zunächst verboten, den Jungen Pionieren beizutreten, später hatte sie sich durchgesetzt und schrieb sich dann auch noch als Mitglied der FDJ ein. Auch diese Erfahrung hat Merkel mit Platzeck gemein, keiner hat Grund, dem anderen da etwas vorzuhalten.
Merkel wollte nur weg aus Templin, und so ging sie 1973 nach Leipzig, die aufregendste Stadt, die die DDR zu bieten hatte. Sie studierte Physik und heuerte nach dem Examen bei der Berliner Akademie der Wissenschaften an, Bereich physikalische Chemie. Die Naturwissenschaften waren eine Nische, in der man ohne allzu großen Regime-Kontakt überleben konnte.
Ein Stasi-Spitzel, der über sie berichtete, wusste von häufig wechselnden Liebschaften zu berichten, die »selten länger als ein halbes Jahr« dauerten. Politische Äußerungen dagegen sind nur wenige überliefert. Selbst im Revolutionswinter 1989, als die ganze Akademie aufgeregt den dramatischen Machtverfall des Regimes diskutierte, saß Merkel an ihrem Schreibtisch und beschäftigte sich mit Zahlen.
Bis heute merkt man ihr an, dass sie damals keinem Zirkel angehörte, in dem Abend für Abend die großen Lebens- und Politikentwürfe diskutiert wurden. Ihr fehlt die Sprache und die Diskussionskultur, mit denen Ostdeutsche wie Richard Schröder, Jens Reich, Wolfgang Thierse, aber auch Platzeck gleich nach der Wende den verkrusteten westdeutschen Polit-Betrieb belebten.
Matthias Platzeck war ebenfalls unauffällig, aber nicht unkritisch. 1982 wurde er Abteilungsleiter bei der Hygiene-Inspektion
Potsdam. Dort bekam er unmittelbar mit, wie das Regime die katastrophalen Zahlen zur Luftverschmutzung unterdrückte.
Platzeck suchte Kontakt zu Gleichgesinnten. Er wollte nicht den Generalkonflikt mit dem System, ihm ging es um die Umwelt und die Rettung der Potsdamer Altstadt. Und so gründete er mit Freunden die Umweltgruppe Argus, die mit einer konspirativen Bürgerrechtsgruppe nichts gemein hatte, was schon an der Tatsache ersichtlich war, dass die Dachvereinigung der Kulturbund der DDR war.
Doch SED und Stasi ignorierten diese feinsinnigen Unterschiede. Für sie waren Kritiker und Staatsfeinde das Gleiche. Die SED wollte die Potsdamer Altbauten abreißen - Platzeck und seine Freunde wollten sie retten. Die SED wollte die Umweltverschmutzung vertuschen - Argus wollte sie thematisieren. Für die Stasi gehörte der Diplomingenieur damit zu den »feindlichnegativen« Personen. Im Oktober 1989 gehörte er der Gruppe an, die zu Friedensgebeten in eine Kirche in Potsdam-Babelsberg einluden.
Bis heute gerät Platzeck ins Schwärmen, wenn er auf den Herbst 1989 zu sprechen kommt, den »Aufbruch«, die »Hoffnung«, diese »einmalige Chance zur Veränderung«. Es ist die Stimmung der Wendetage, die er sich heute manchmal herbeisehnt, weil er ja genau weiß, dass das Land wieder vor gewaltigen Herausforderungen steht.
Im Herbst 1989 gründete er im Gemeindesaal der evangelischen Bekenntnisgemeinde in Berlin-Treptow seine eigene Partei. Es war eine Umweltpartei, klar, und sie nannte sich Grüne Liga. Platzeck wollte nicht nur reden, er wollte Verantwortung übernehmen. Er traute sich was zu, damals schon.
Platzeck wurde an den Runden Tisch delegiert, an dem Gregor Gysi die SED vertrat, die sich in PDS umbenannte. Auch Lothar de Maizière saß da, der bald darauf zum letzten Ministerpräsidenten der DDR gewählt wurde. Platzeck war nicht so bekannt wie der Stasi-Auflöser Werner Fischer oder der Rostocker Bürgerrechts-Pfarrer Joachim Gauck, aber er hatte schon damals den Ruf eines kompetenten ausgleichenden Pragmatikers.
Auch Merkel hatte inzwischen ihre Nische verlassen. Als die Mauer am Abend des 9. November aufging, saß sie mit einer Freundin in der Sauna. Doch dann lief sie drauflos, wie Hunderttausende in dieser Nacht. Lief an der Bornholmer Straße in den Westen, sah die hupenden Autos, sah den Jubel und die wildfremden Menschen, die sich in den Armen lagen. Doch irgendwann verabschiedete sie sich und ging nach Hause. »Ich musste am nächsten Morgen früh raus«, sagte sie später.
Merkel, in deren Leben Politik bislang kaum eine Rolle spielte, wollte nun auch mitmachen, aber wo? Die Sozialdemokraten, die in den Kirchen »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« sangen, waren ihr fremd. Und so stieß sie Ende 1989 zum »Demokratischen Aufbruch« des Pfarrers Rainer Eppelmann. Dort konnte sie sich nützlich machen, die neuen Computer auspacken und installieren.
Schnell wurde sie Pressesprecherin, und als sich die Truppe Anfang 1990 spaltete, ging sie zur CDU. Die Entscheidung folgte keiner reiflichen Überlegung, sie war eher zufällig, das ist jedenfalls die Meinung ihres späteren Mentors Lothar de Maizière: »Sie passte eigentlich nicht in die CDU.«
Als der zierliche Rechtsanwalt im April 1990 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, stieg Merkel zur zweiten Regierungssprecherin auf. Sie hatte Glück und durfte den Ministerpräsidenten auf vielen Reisen begleiten. Es war der Beginn einer steilen Karriere, die sie in nur 15 Jahren bis vor die Tür des Kanzleramts führen sollte.
Es ist viel über diese erstaunliche Karriere geschrieben worden, denn eigentlich fehlt Merkel so ziemlich alles, was man für den Aufstieg in einer Volkspartei braucht. Sie hat nicht die Kontakte in die Partei und das Beziehungsnetz, über das einer verfügt, der wie Roland Koch oder Christian Wulff seit der Schulzeit dabei ist. Ihr fehlt die Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Parteitraditionen, manchmal auch das Gespür für den richtigen Ton.
Sie kennt die Geschichten nicht über die großen Schlachten der Vergangenheit, und wenn, dann hat sie sich die angelesen. Sie würde nie über den künftigen SPD-Chef als den »Soz« sprechen. Viele beklagen das als Kälte, als Mangel an Stallgeruch. Wer anderen nicht viel zu verdanken hat, ist aber auch unempfindlicher gegen Gefälligkeitspolitik, das gilt für Merkel, in gewisser Hinsicht auch für Platzeck.
Als Parteivorsitzende ist sie, ähnlich wie Platzeck, das Produkt einer Krise. Ihre Chance war, dass niemand aus der West-Elite sich aufdrängte, als der Posten vakant war.
Merkel verdankt ihr Amt Helmut Kohl und der Parteispenden-Affäre. Man könnte auch sagen, sie ist die Nutznießerin einer großen Erschöpfung. Es war viel zusammengekommen, eine verlorene Bundestagswahl und der damit einhergehende schmerzliche Ablösungsprozess von Macht und Ämtern. Dann die Geschichten über Geldkoffer und dubiose Waffenlobbyisten, deren Kontakte bis ins Kanzleramt reichten.
Angela Merkel kann auch mutig sein, wenn es darauf ankommt. Sie schrieb einen offenen Brief, in dem sie die Ablösung vom »alten Schlachtross« Kohl forderte. Sie überging die Gremien, sie veranstaltete Regionalkonferenzen und funktionierte diese dann zu kleinen Parteitagen um, auf denen lautstark nach Erneuerung gerufen wurde.
Es hätte ihr jemand entgegentreten müssen, um sie zu stoppen, aber es gab niemanden. Die Alten waren mit sich selber beschäftigt und dem unfreiwilligen Abschied von der Macht. Die Jungen kamen noch nicht ernsthaft in Betracht (Wulff), oder sie waren selbst von der Spenden-Affäre erfasst (Koch).
Viele hatten gedacht, Merkel sei ein Provisorium. Sie behandelten sie wie eine Übergangskandidatin, die irgendwann von einem der jungen Westler abgelöst würde, die sich in den Ländern bereit hielten. Sie warteten auf einen großen Fehler, der den Spuk beenden würde. Inzwischen ist sie fünfeinhalb Jahre Parteichefin, drei Jahre Fraktionsvorsitzende, demnächst vermutlich sogar Kanzlerin.
Auch Edmund Stoiber hat sich verrechnet. Er kam in diesem Herbst nach Berlin, weil er gedacht hatte, er könnte sein altes Spiel weiterspielen und den heimlichen Vorsitzenden der Union geben. Er saß in den Koalitionsrunden und hielt Vorträge über moderne Ordnungspolitik.
Wenn Merkel vor die Mikrofone trat, um den Stand der Verhandlungen zu referieren, stand er neben ihr und lächelte gönnerhaft. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Bereich gibt, wo das Wirtschaftsministerium nicht gefragt werden muss«, sagte er, womit er gleich am Anfang klar machte, dass er sich für alles zuständig fühlte.
Aber es lief nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Er stellte schnell fest, dass es viel Kraft braucht, um in Berlin seinen Platz zu behaupten. Er musste sich tagelang mit der designierten Bildungsministerin
Annette Schavan über fünf Referate streiten, die er für sein Wirtschaftsministerium haben wollte. Er hatte Merkel gebeten, die Sache für ihn zu erledigen, aber sie hatte kühl erwidert, dass müsse er schon selbst ausfechten.
Einmal war er in der Unionsfraktion, um über die Koalitionsverhandlungen zu referieren. Plötzlich trat der Winzer Norbert Schindler aus Rheinland-Pfalz auf und fragte ihn in schneidendem Ton, was er sich dabei gedacht habe, die Richtlinienkompetenz der CDU-Vorsitzenden in Frage gestellt zu haben. Er hatte den Mann noch nie gesehen, er kannte nicht einmal seinen Namen. »Ein Kanzler, auch wenn er eine Frau ist, hat immer die Richtlinienkompetenz«, setzte Merkel nach, es gab donnernden Applaus.
Nun ist Stoiber zurück in der Provinz und kämpft ums Überleben. Auch wenn es ihm gelingt, das Amt zu behalten, wird er nie mehr zu seiner alten Autorität zurückfinden (siehe Seite 48).
Der Aufstieg von Matthias Platzeck an die Spitze der SPD begann am Freitag vor zwei Wochen im Büro von Franz Müntefering. Es hatte nichts mit ihm zu tun, was an diesem Nachmittag besprochen wurde, es fiel nicht einmal sein Name, aber am Ende lag die Macht vor ihm, er musste sie sich nur noch nehmen.
Es ging um die Frage, wer Müntefering als Generalsekretär dienen könne. Eigentlich hatte der SPD-Chef daran gedacht, den Posten einfach abzuschaffen und stattdessen seinen Vertrauten Kajo Wasserhövel als Bundesgeschäftsführer mit mehr Kompetenzen auszustatten. Doch dafür hätte die Satzung geändert werden müssen, also entschied er sich, Wasserhövel für den Posten vorzuschlagen. Er hatte nicht vor, über die Personalie lange diskutieren zu lassen, er kannte die Vorbehalte gegen seinen Mann, der als fleißig, aber uninspiriert gilt. Noch am Abend schickte er den Präsidiumsmitgliedern ein Fax, den übrigen Genossen teilte er an dem Wochenende per SPIEGEL-Gespräch mit: »Kajo Wasserhövel kann auch Generalsekretär.«
Doch es kam anders. Vergangenen Montag bremste der Parteivorstand Müntefering und empfahl überraschend Andrea Nahles als Generalsekretärin.
Die Frau, die Müntefering stürzte und damit Platzeck möglich machte, hat Tage gebraucht, um nach ihrem Sieg die Fassung wiederzufinden. Sie sitzt sehr gerade, sie ist noch ein wenig blass. Sie sagt, sie sehe keinen Grund, sich für ihre Kandidatur zu entschuldigen, sie verweist auf die 23 Stimmen, die sie im Parteivorstand bekommen hat, 9 mehr als der Kandidat des Parteichefs. »Es ist nicht so gelaufen, wie ich wollte, aber es ist passiert.«
Am Ende der Woche hat Andrea Nahles wieder alles verloren, was sie gewonnen hatte. Erst musste sie erklären, nicht mehr Generalsekretärin sein zu wollen, dafür erhielt sie die Zusage auf einen der Stellvertreterposten; am vergangenen Mittwoch musste sie auch auf diesen verzichten.
Nahles ist Sprecherin der Linken in der SPD, sie war drei Jahre lang Juso-Vorsitzende und hat für so ziemlich jede linke Idee gestritten, inklusive 32-Stunden-Woche, Reichensteuer und Mindestlohn. Sie verfügt über Kontakte weit über das eigene Lager hinaus, es gibt wenige, die sich im Unterholz der Partei so gut auskennen.
Sie beherrscht die westlichen Parteirituale perfekt, sie weiß genau, wie man Mehrheiten organisiert, Gremien kapert, Stimmungen anfacht. Sie hat, wenn man so will, all die Kenntnisse, über die ein Ostler wie Platzeck nie verfügen wird.
Nachdem sie sich einmal zur Kandidatur entschlossen hatte, betrieb sie ihre Wahlkampagne mit großer Entschlossenheit. Sie stellte sicher, dass einflussreiche Linke wie Heidemarie Wieczorek-Zeul auf ihrer Seite waren. Und sie gewann Sigmar Gabriel und die »Netzwerker« für sich, eine Gruppe junger Abgeordneter, die frustriert darüber waren, dass nach dem Wahltag nicht mehr für sie abgefallen war. Die Netzwerker hatten gehofft, nach einer krachenden Wahlniederlage wichtige Posten übernehmen zu können, und nicht damit gerechnet, dass es für eine Große Koalition reichen würde.
So war die Bühne bereitet für den großen Showdown, und überraschender noch
als das Ergebnis ist im Nachhinein die Tatsache, wie wenig Franz Müntefering davon mitbekommen hat, was sich da zusammenbraute. Seine bis dahin untrügliche Witterung für die Partei, für ihre Ängste und Bedürfnisse war ihm abhanden gekommen.
Bei der Sitzung des Parteivorstands am Montag zeichnete sich die Schlappe früh ab. Die große Mehrheit der Redner äußerte Zweifel an Wasserhövel. Müntefering verfolgte die Debatte emotionslos. »Es ist meine dringende Erwartung, dass Kajo das Amt führen soll«, sagte er in seinem Schlusswort, aber da wusste er schon, dass er nichts mehr ändern konnte. Der Alleinherrscher Müntefering stand plötzlich ganz verlassen da. Keiner seiner fünf Stellvertreter stand ihm bei. Kurt Beck war im Urlaub geblieben, Wolfgang Clement vorzeitig gegangen, Ute Vogt, Wolfgang Thierse und Heidemarie Wieczorek-Zeul votierten gegen ihn.
Das Wahlergebnis, das Finanz-Staatssekretärin Barbara Hendricks nach Auszählung der Stimmen verkündete, war nur noch die Bestätigung der Niederlage: »23 Stimmen für Andrea Nahles, 14 Stimmen für Kajo Wasserhövel, eine Enthaltung.« Ein klares Misstrauensvotum gegen den Parteichef, bei dem es längst nicht mehr nur um eine Personalie ging. Zum Ausbruch kam auch der Widerwille gegen den Reformkurs, auf den Müntefering die Partei nun ein zweites Mal zwingen wollte. Vor allem aber war es die Antwort auf einen Führungs- und Kommunikationsstil, der auf harte Autorität und bedingungslose Loyalität zählte (siehe Seite 40).
Nach Verkündung der Abstimmung reagierte Müntefering sofort und erklärte in hartem Ton: »Ich unterbreche die Sitzung und berufe das Präsidium ein.« Entsetzt blieb der Rest-Vorstand zurück. Ein Teilnehmer: »Da haben Leute zur Zigarette gegriffen, die hab ich noch nie rauchen gesehen.«
Kaum war das Präsidium im 6. Stock zusammengetreten, erklärte Müntefering: »Ich werde beim Parteitag nicht wieder für das Amt des Parteivorsitzenden kandidieren.« Zaghafte Wortmeldungen bügelte er rigide ab: »Wir brauchen nicht zu diskutieren - da gibt es nichts zu diskutieren.«
Er telefonierte mit Angela Merkel, danach ging er zurück in den Vorstandssaal. Noch einmal gab er seinen Entschluss bekannt. Lähmende Stille legte sich über die Anwesenden. »Wenn die Partei das will, bleibe ich Minister und Vizekanzler«, sagte er. Dann verließ er den Raum.
Während Müntefering draußen vor den TV-Kameras mit blassem Gesicht seinen Rückzug verkündet, beginnt noch im Vorstandssaal die Suche nach einem Nachfolger. Matthias Platzeck, Martin Schulz, Ute Vogt, der NRW-Landeschef Jochen Dieckmann, die Niedersachsen Sigmar Gabriel und Garrelt Duin setzen sich zusammen.
»Wir können doch hier nicht nur rumsitzen«, sagt Schulz in die Ratlosigkeit hinein. »Und was soll jetzt werden?«, fragt Platzeck. »Wir müssen schnell handeln«, fordert Schulz. »Und wenn wir ohne Parteivorsitzenden sind, brauchen wir schnell einen neuen.« Noch im Vorstandssaal versucht Platzeck, über das Lagezentrum des Kanzleramts, Kurt Beck zu erreichen, der in Spanien im Urlaub ist.
Der Rest der Runde hat sich in das Büro von Ute Vogt verzogen. Aufgeregt sagt einer: »Das endet in Neuwahlen.« Ein anderer ruft: »Das hätte ich nie von Müntefering gedacht - niemals.« Rasch zeichnet sich ab: Platzeck und Beck sollen sich einigen, wer den Vorsitz übernimmt. Beck gebührt der Vortritt, er ist seit elf Jahren Ministerpräsident, er ist der einflussreichste Landesfürst, den die SPD noch hat.
Platzeck hingegen hat das richtige Alter, er ist sympathisch und macht öffentlich eine gute Figur. Niemand weiß so ganz genau, wofür er steht, aber das heißt andererseits, dass er sich keine großen Feinde in der Partei gemacht hat. Er könnte im nächsten Wahlkampf als Kanzlerkandidat der SPD antreten. Wann immer in den vergangenen Jahren eine Stelle mit einem Nachwuchstalent zu besetzen war, wurde sein Name genannt, zuletzt im September, als es um den Posten des Außenministers ging.
Platzeck ist klar, dass alles auf ihn hinausläuft. Er wolle dem Pfälzer Kurt Beck
den Vortritt lassen, sagt er, wenn der Parteivorsitzender werden wolle, dann bitte. Aber prinzipiell stehe er bereit, »Verantwortung zu übernehmen«. Ein Mitarbeiter betritt das Zimmer: Müntefering will Platzeck sprechen. Der verlässt das Zimmer. Als er zurückkehrt, gibt er die Empfehlung Münteferings weiter: »Kurt oder ich soll es machen.« Aus Andalusien ruft Beck zurück. »Kurt, du musst nach Berlin kommen«, sagt Platzeck. »Ich lade morgen abend eine Runde in meine Landesvertretung.«
Anderntags eröffnet Beck der Runde gleich zu Beginn: »Ich mache es nicht.« Er habe im kommenden Jahr Landtagswahl, sagt Beck. Er müsse sich jetzt auf den Wahlkampf vor Ort konzentrieren und könne nicht unentwegt als Vorsitzender der SPD in Berlin unterwegs sein.
Damit ist klar: Platzeck ist dran. Der sagt erst einmal, eigentlich habe er seiner Partnerin »ruhigere Zeiten versprochen«. Aber er nimmt natürlich an. Er weiß, dass
er dieses Amt nicht noch einmal angeboten bekommt. Es gibt bereits Leute in der Partei, die schon über den ewigen Neinsager aus Potsdam lästern. Aber Platzeck zögert, die ganze Macht zu nehmen, die ihm angeboten wird. Müntefering hatte ihm gesagt, er könne auch Vizekanzler werden. »Das Zugriffsrecht auf beide Ämter«, sagt ein Platzeck-Vertrauter, »hat er gehabt.«
Am Dienstag berät sich der Brandenburger mit seinen Vertrauten, mit SPD-Landesgeschäftsführer Klaus Ness, mit Finanzminister Rainer Speer, seinem langjährigen Freund, und mit Clemens Appel, seinem Staatskanzleichef. Wenn er Erfolg haben wolle, müsse er in die Regierung eintreten, sagt ihm einer, wie solle er sonst erfahren, was in der Bundestagsfraktion oder im Kabinett los sei. Doch Platzeck hält dagegen: Er fürchtet um die Macht in Brandenburg, schließlich ist weder in Partei noch Regierung seine Nachfolge geregelt. Außerdem graut ihm davor, ganz von der Berliner Politikmaschine gefressen zu werden.
Den Ausschlag gibt schließlich ein Gespräch mit Schröder. Der Kanzler und er hatten für den Abend einen Termin vereinbart, auf dem es eigentlich um die Bahn gehen sollte. Der Kanzler in Abwicklung empfiehlt Platzeck, nicht in die Große Koalition zu gehen, er solle sich das lieber von Potsdam aus anschauen.
Was Schröder so nicht ausspricht, Platzeck aber genau versteht: Die Große Koalition hat nach Meinung des Nochkanzlers keine große Zukunft, ein vorzeitiges Ende würde ihn mit beschädigen und zudem ohne richtiges Amt zurücklassen. Schröder rät dem Ministerpräsidenten auch, der Partei Bedingungen zu stellen: Wenn er, Platzeck, schon die Partei rette, dann müsse die im Gegenzug seine Personalvorschläge akzeptieren.
Die beiden reden außerdem über die Frage, wer nun neuer Generalsekretär werden solle. Platzeck will Sigmar Gabriel gewinnen. Alternativ denkt er an den jungen Abgeordneten Hubertus Heil, den er von früher kennt, als der in Potsdam studierte und nebenbei im Landtag arbeitete. Im Bundestagswahlkampf waren Heil, Gabriel und Platzeck gemeinsam in Heils Wahlkreis in Niedersachsen aufgetreten. Schröder sagt: »Nimm lieber den Heil, der ist loyaler.«
Am folgenden Morgen ruft Matthias Platzeck Heil an. Es ist seine erste wichtige Entscheidung als neuer Parteivorsitzender. Heil ist von Vertrauten Platzecks vorgewarnt worden, er sagt sofort zu. Ihm ist jedoch bewusst, dass er ein schweres Amt antritt: »Die Halbwertzeit von SPD-Generalsekretären ist noch kürzer als die der Vorsitzenden«, scherzt er vor Freunden. Als Platzeck Müntefering seine Personalie vorträgt, äußert der Bedenken. Im Parteivorstand später wird er diplomatisch sagen: »Es gibt unterschiedliche Meinungen zu Heil. Aber ich werde ihn unterstützen.«
Platzeck selbst lässt schnell erkennen, woran es ihm am dringendsten liegt: »Ich will eine offene, ehrliche Politik«, sagt er, und seine Partei und sein Vorgänger Franz Müntefering durften das durchaus auf sich beziehen. Aber die Botschaft war auch an das Land gerichtet.
Ebenso wie CDU-Chefin Merkel weiß Platzeck, dass er seinen Aufstieg bis ganz an die Spitze der SPD auch dem Versagen der alten westdeutschen Eliten zu verdanken hat. Die Menschen haben kein Verständnis mehr für Politiker, denen laufend schwere handwerkliche Fehler unterlaufen. Die eine Reform der Körperschaftsteuer beschließen und dabei übersehen, dass sie bis zu 20 Milliarden Euro jährlich Einnahmeausfälle schlicht nicht bedacht haben. Die laufend neue Sparpakete auflegen, an deren Ende die Haushaltslöcher größer sind als je zuvor. Und die eine Arbeitsmarktreform ausarbeiten, die nicht nur zehn Milliarden Euro teurer ist als geplant, sondern die Zahl der Erwerbslosen auf einen neuen Rekordwert anschwellen lässt.
Platzeck und Merkel haben eine Chance bekommen, weil vielen Menschen die Probleme des Landes inzwischen wichtiger sind als eine unglückliche Frisur, ein schlechtrasiertes Kinn oder ein Geburtsort in Ostdeutschland. Sie haben genug von Groß-Visionen, Lagerkämpfen und ideologischen Auseinandersetzungen.
Es ist die Stunde der Techniker, der Pragmatiker, der möglicherweise etwas langweiligen Macher. Sie sollen nun aufräumen, was ihnen die alten Eliten an Problemen aufgetürmt haben, sollen die Republik reparieren, die ihnen vor dem Mauerfall noch als Land der Sehnsüchte erschien, inzwischen aber längst zum Sanierungsfall geworden ist.
Die einstige Wirtschaftswunder-Nation verzeichnet heute weniger Wachstum als die meisten anderen europäischen Länder, Tag für Tag gehen etwa tausend sozialversicherte Jobs verloren, der Staat ist praktisch pleite.
Allein für Arbeitsmarkt, Rente und Zinsen gibt der Bund fast so viel aus, wie er an Steuern einnimmt. Die Regierung kann keinen Bleistift mehr kaufen, ohne sich weiter zu verschulden.
Selbst wenn der Bund die Schuldenaufnahme nur auf die europäische Drei-Prozent-Grenze zurückführen wollte, müsste er in den kommenden zwei Jahren insgesamt 70 Milliarden Euro einsparen. Doch die Unterhändler der Großen Koalition haben
sich bislang nur immer auf neue Ausgaben verständigt.
Die Wirtschaftspolitiker fordern bessere Abschreibungsregeln für Unternehmen, neue Förderprogramme für Handwerk und Mittelstand, mehr Geld für Bildung und Forschung. Die Sozialpolitiker wollen das Elterngeld einführen und das Arbeitslosengeld II im Osten auf Westniveau anheben. Die Umweltpolitiker schlagen neue Subventionen zur Förderung der Wärmedämmung vor. Das Ganze würde bescheidene 40 Milliarden kosten.
Ein wenig gespart werden soll auch - knapp zwei Milliarden Euro bei Hartz IV, vier Milliarden bei den Krankenkassen, eine Milliarde Euro beim Personal. Alles in allem nicht mehr als zehn Milliarden Euro.
Auch der großangekündigte Subventionsabbau erweist sich in der Praxis vor allem als Versuch, alte Staatshilfen durch neue zu ersetzen. So wollen Union und SPD die Eigenheimzulage zwar streichen, im Gegenzug aber eine neue Bauförderung innerhalb der Riester-Rente schaffen, die nach Berechnung des bayerischen Finanzministeriums mehr als die Hälfte der bisherigen Förderung kosten würde.
In ihrer Not haben die koalitionären Finanzexperten bislang nur zwei Auswege entdeckt: Entweder werden die Steuern drastisch erhöht, oder die Sanierung des Bundesetats muss verschoben werden.
Wahrscheinlich ist eine Kombination aus beidem. Die Mehrwertsteuer würde von heute 16 auf 18 Prozent erhöht, und die Einnahmen - anders als vor der Wahl angekündigt - würden nahezu ausschließlich zum Stopfen von Haushaltslöchern verwendet.
Gleichzeitig versuchte die designierte Kanzlerin Merkel in Gesprächen mit EU-Währungskommissar Joaquín Almunia bereits auszuloten, was Brüssel davon hielte, wenn Deutschland 2007 noch nicht wieder die Verschuldungsgrenze des Maastrichter Vertrags einhielte.
Doch selbst wenn dieser Plan gelingen sollte, hätten sich Merkel und Platzeck nur etwas Zeit erkauft. Die Probleme blieben. Beide Politiker haben durchaus Stärken, die ihnen helfen könnten, das Land aus der Krise zu führen.
Er habe nicht die Erfahrung der Westdeutschen gemacht, denen es als Naturgesetz galt, dass es immer aufwärts ging, sagt Platzeck. Er gehe deshalb »unbefangener daran, Dinge zu verändern«. Das hätte auch Merkel sagen können. Für beide sind das Land und selbst die eigenen Parteien vertraute Fremdkörper geblieben, die sie mit kühlem Blick taxieren. Sie stellen sich nicht die Frage, ob die Partei etwas schon seit 50 Jahren macht, sondern ob es sinnvoll ist. Das ist ihre Stärke.
Aber sie können sich auf kaum jemanden richtig verlassen, und das ist ihre Schwäche. Es gibt niemanden, der ihnen gegenüber verpflichtet wäre. Verbündete gibt es immer nur auf Zeit, Unterstützung nur solange es den Unterstützern nützlich erscheint. Ihr Machtanspruch wird ständig getestet werden. Platzeck hat diese Erfahrung noch vor sich, Merkel hat das bereits ungezählte Male erlebt.
So wird es weitergehen. Merkel weiß das. Ihre Gegenspieler werden ihr helfen, wenn sie stark ist, doch gleichzeitig auf den Moment lauern, in dem Schwäche erkennbar ist. Dann werden sie in aller Öffentlichkeit Krokodilstränen vergießen und im Verborgenen ihre Seilschaften, Verbündeten und Freunde aktivieren, um den ungeliebten ostdeutschen Eindringling, der ihnen ihre Karrierepläne durchkreuzt hat, zu entfernen.
Platzeck hat dieses Spiel bislang nur als Unbeteiligter beobachtet. Bald wird er daran teilhaben. Noch feiern sie ihn in der eigenen Partei, so wie auch Merkel einst gefeiert
wurde. Sie loben seinen Führungsstil, schwärmen von dem »offenen Klima«, das er seiner Partei verspricht. »Ein echtes Puh der Erleichterung geht durch die Partei«, freut sich ein Präsidiumsmitglied.
Doch im überschwänglichen Lob ist der Tadel bereits angelegt. Gut möglich, dass das offene Klima ihm bald als Führungsschwäche ausgelegt wird. Dass das Puh der Erleichterung in ein lautes Tuscheln übergeht, das in der leisen Variante schon jetzt zu hören ist. Kennt der Matthias die Westpartei ausreichend? Ist er erfahren genug, die mächtigen Landesverbände für sich zu gewinnen? Wird er sich gegen die einflussreiche Schatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier durchsetzen, die vielen als eigentliche Herrscherin der SPD-Zentrale gilt? Hat der Matthias womöglich seinen schwersten Fehler schon begangen, indem er auf die ganze Macht verzichtet hat und nicht ins Kabinett eingezogen ist?
Sein Vorgänger Franz Müntefering scheint jedenfalls nicht gewillt, ihm volle Gestaltungsfreiheit zu gewähren. Müntefering sieht sich nach wie vor als heimlicher Parteichef mit besten Kontakten ins Willy-Brandt-Haus. Auf dem Parteitag, auf dem sich der alte Parteichef ein eigenes Votum als Vizekanzler holen will, könnte der Wettbewerb der beiden offen zutage treten.
Platzecks Überleben wird auch daran hängen, wie er mit seiner brandenburgischen Landsmännin im Kanzleramt zurechtkommt. »Wir haben eine ähnliche Herangehensweise an Probleme, analytisch und problemorientiert«, sagt Platzeck, »wir kommen ja beide aus der Naturwissenschaft.« Außerdem schwinge da zwischen ihnen »etwas mit von der gemeinsamen Herkunft«.
Umgekehrt sieht auch Merkel in Platzeck einen verlässlichen Verbündeten, der wie sie weniger an ideologischen Schlachten als an pragmatischen Lösungen interessiert sei. Solange zwischen Platzeck und Müntefering kein offener Machtkampf ausbreche, seien die Sozialdemokraten berechenbar, glaubt sie.
Noch sind sie Verbündete, noch brauchen sie einander, noch beobachtet Platzeck, wie Merkel es bislang geschafft hat. Er lernt von ihr. Irgendwann wird er genug wissen. Dann ist der Moment gekommen, wo aus Verbündeten Gegner werden. Irgendwann, das ahnt auch Merkel, wird Platzeck gegen sie antreten.
Und dass der freundliche Händeschüttler aus Potsdam ein Mann ist, auf den man aufpassen muss, weiß Merkel schon lange. Von Helmut Kohl. Der hatte den damaligen brandenburgischen Umweltminister im Sommer 1997 beim Oder-Hochwasser seiner eigenen Umweltministerin Merkel als leuchtendes Vorbild vorgehalten. Der wisse, »was die Leute von einem Politiker erwarten«. Platzeck, brummte der Kanzler, sei schon da gewesen. Vor ihr.
Sie hat den »Menschenfischer« seither genau beobachtet. Und sie hat gelernt. Von ihm. STEFAN BERG,
MARKUS FELDENKIRCHEN, JAN FLEISCHHAUER, KONSTANTIN VON HAMMERSTEIN, HORAND KNAUP, ROLAND NELLES, RALF NEUKIRCH,
MICHAEL SAUGA, GABOR STEINGART
Schwarz-rote Pläne - Stand der Gespräche nach drei Verhandlungswochen
ARBEITSMARKT
* Die Kosten für das Arbeitslosengeld II sollen im nächsten Jahr um 1,85 Milliarden Euro gesenkt werden. Dazu werden mehrere gesetzliche Regelungen verschärft.
* Hartz-IV-Bezieher, die als Paar zusammen leben, müssen künftig beweisen, dass sie keine eheähnliche Gemeinschaft bilden. Jugendliche unter 25 Jahren sollen nur noch dann Anspruch auf eine vom Staat bezahlte Wohnung bekommen, wenn das Job-Center zustimmt.
* Jugendlichen unter 25 Jahren wird nach einem Plan des Arbeitsministeriums das Arbeitslosengeld II generell um bis zu 30 Prozent gekürzt. Die volle Stütze bekommt nur noch, wer das Angebot für eine Jobvermittlung oder für eine Trainings- und Qualifizierungsmaßnahme annimmt.
* Der Katalog der beschäftigungspolitischen Maßnahmen wird durchforstet: Die Pflicht, in jedem Bezirk eine sogenannte Personal-Service-Agentur zur Leiharbeit einzurichten, entfällt.
* Die Ich-AG-Förderung wird mit anderen Hilfen für Existenzgründer zusammengelegt. Für ältere Erwerbslose werden neue Programme aufgelegt.
* Arbeitnehmer aus den osteuropäischen EU-Beitrittsstaaten dürfen erst ab 2011 legal in Deutschland arbeiten.
* Keine Einigung bei betrieblichen Bündnissen für Arbeit und Kündigungsschutz.
WIRTSCHAFT
* Dem zunehmenden Standortwettbewerb in Europa soll 2008 mit einer grundlegenden Reform der Unternehmensbesteuerung begegnet werden; das Ziel: eine einheitliche und niedrigere Besteuerung von Personen- und Kapitalgesellschaften.
* Schon vom nächsten Jahr an sollen die Abschreibungsbedingungen deutlich verbessert werden, Kosten für den Fiskus: 4,3 Milliarden Euro.
* Gleichzeitig sollen ab 2006 die Steuervorteile von Schiffs- und Filmfonds wegfallen.
* Durch den Abbau von Subventionen sollen im nächsten Jahr zusätzliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Höhe von einer Milliarde Euro finanziert werden. Ab 2007 sollen die Forschungsausgaben dann um jährlich 500 Millionen Euro steigen.
* Als sogenannte innovative Leuchtturmprojekte haben sich die Wirtschaftsexperten aus Union und SPD unter Edmund Stoiber (CSU) und Ludwig Stiegler (SPD) auf die Erforschung der Brennstoffzellentechnologie, die Entwicklung hocheffizienter Kraftwerke und eine deutsche Transrapid-Referenzstrecke geeinigt.
* Ein Programm zur Altbausanierung unter Federführung der KfW-Bankengruppe soll mit 300 Millionen Euro angeschoben werden.
UMWELT
* Der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung in Deutschland soll wie vorgesehen bis 2010 auf mindestens 12,5 Prozent und bis 2020 auf 20 Prozent steigen.
* Besonders gefördert werden sollen Windkraft-Offshore-Anlagen und die Erneuerung alter Windräder.
* Die Treibhausemissionen sollen bis 2020 statt um 40 Prozent nur um mehr als 30 Prozent gegenüber 1990 reduziert werden - vorausgesetzt, dass sich auch die EU darauf verpflichtet.
* Die Mittel für Energieforschung sollen von derzeit gut 400 Millionen schrittweise auf eine Milliarde Euro pro Jahr erhöht werden.
* Die Nachrüstung von Autos mit Partikelfiltern soll steuerlich gefördert werden. Ab 2008 sind für Fahrzeuge ohne Filter höhere Steuersätze geplant. Eine Förderung für Neufahrzeuge ist nicht vorgesehen.
* Ein Gebäude-Sanierungsprogramm mit einem Fördervolumen von mindestens 1,5 Milliarden Euro pro Jahr soll helfen, den Kohlendioxid-Ausstoß zu reduzieren. Bisher standen dafür 360 Millionen Euro zur Verfügung.
* Noch offen waren am vergangenen Freitag die Vereinbarungen zur Kernenergie. Sie sollen in einem Spitzengespräch zwischen Sigmar Gabriel und Edmund Stoiber geklärt werden.
RENTE/GESUNDHEIT
* Nur wer zuvor 45 Jahre gearbeitet hat, darf zukünftig mit 65 in Rente gehen. Für alle anderen steigt das Rentenalter in den nächsten drei Jahrzehnten auf 67 Jahre.
* Der Rentenbeitrag wird bis 2009 auf 19,5 Prozent des Bruttolohns eingefroren. Rentnern drohen weitere Nullrunden, Kürzungen soll es aber nicht geben.
* Die private Riester-Rente könnte nach 2007 Pflicht werden, sollten - wie bislang - zu wenige Bürger freiwillig fürs Alter vorsorgen.
* Um Familien zu fördern, steigt der jährliche Kinderzuschlag bei der Riester-Rente von 185 Euro auf 300 Euro.
* Die Ausgaben der Krankenkassen sollen um etwa zwei Milliarden Euro im Jahr sinken. Hersteller von Nachahmerpräparaten müssen einen zusätzlichen Rabatt von fünf Prozent gewähren. Die Abgabe von Gratispackungen an Apotheker, die diese dann zu normalen Preisen weiterverkaufen, soll verboten werden. Neue Präparate müssen nachweislich besser sein als eingeführte, um einen höheren Preis zu rechtfertigen.
* Der Wechsel von der gesetzlichen Krankenkasse zu einer privaten Versicherung soll erschwert werden.
* Krankenkassen dürfen mit ausgewählten Fachärzten Einzelverträge abschließen, ohne die Kassenarztvereinigungen zu beteiligen.
* Der Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung soll nicht weiter steigen.
FAMILIE
* Anfang 2008 soll ein Elterngeld eingeführt werden. Das rund 1,5 Milliarden Euro teure Projekt dient auch der Gleichstellung: Der kinderbetreuende Elternteil bezieht im ersten Babyjahr einen Lohnersatz von maximal 1800 Euro pro Monat. Dabei steht während je zwei der zwölf Monate nur den Müttern beziehungsweise nur den Vätern Elterngeld zu - wenn etwa der Mann keine Erziehungszeit nimmt, verfällt sein Anspruch. Das Elterngeld solle aber »keine Herdprämie« werden, sagt die designierte Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU): Auch Frauen, die gleich nach der Geburt wieder arbeiten, stehe ein Elterngeld zu, zum Beispiel in Höhe der Kosten für die Babybetreuung.
* Die Niedersächsin von der Leyen will mit 100 Millionen Euro zwei Projekte aus ihrer Heimat bundesweit einführen: die frühkindliche Förderung in Härtefällen, bei denen junge Eltern Beistand brauchen, sowie Mehrgenerationenhäuser, in denen sich Jung und Alt gegenseitig unterstützen.
* 2008 soll geprüft werden, ob die Kommunen ihre Pflichten in puncto Ausbau der Kinderbetreuung erfüllen. Andernfalls droht die Einführung eines Rechtsanspruchs auf Betreuung schon für Zweijährige.
* Der Kinderzuschlag für Geringverdiener soll auf mehr Eltern ausgeweitet werden; Kosten: 180 Millionen Euro.
* In der Hochwasserregion im Oderbruch mit einem BGS-Piloten 1997. * Mit dem designierten CSU-Wirtschaftsminister Michael Glos.