PROZESSE Das falsche Kaliber
Wenige Meter vor dem Ziel versperrte ein Uniformierter der fünfköpfigen Gruppe den Weg zum Haus Zimmerstraße 56 in Berlin-Mitte. »Die Ausweise«, verlangte der DDR-Grenzer. Rudolf Müller griff gehorsam in die linke Innentasche des Jacketts.
Sekunden später lag der Gefreite am Boden, in Brust und Rücken von Reinhold Huhn, 20, steckten Kugeln des Kalibers 7, 65 Millimeter. Durch die Abendstunden des 18. Juni 1962 hämmerten Feuerstöße aus der Kalaschnikow eines zweiten Volkspolizisten. Müller kümmerte sich nicht um den Verletzten. Er floh mit Frau, Kindern und Schwägerin durch einen 22 Meter langen Tunnel, den er selbst gegraben hatte, in den Westen.
Während Huhn verblutete, ließ sich der Fluchthelfer im nahe gelegenen Springer-Hochhaus als Held feiern, der seine Familie in die Freiheit geholt hatte. »Bild«-Berlin-Chef Hermann Burnitz kredenzte Whisky, und Müller schilderte in einer Pressekonferenz Fluchthilfe und Flucht.
Jetzt, 36 Jahre nach diesem Auftritt als Freiheitskämpfer im Kalten Krieg, steht Müller als Angeklagter vor der 40. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin - er muß sich wegen Mordes verantworten.
Es ist ein Mauerschützenprozeß der anderen Art. In mehr als hundert Verfahren seit der Wiedervereinigung wurden rund 80 frühere Vopos und NVA-Soldaten wegen der Schüsse an der Grenze verurteilt, doch Müller ist der erste westdeutsche Fluchthelfer, der vor Gericht steht.
Daß es überhaupt dazu kam, ist Folge des Leseeifers westdeutscher Strafverfolger nach der Wende. In den Akten der Staatsanwaltschaft Ost und den Stasi-Aufzeichnungen fanden sie eine ganz andere Version des Grenzzwischenfalls, als Müller sie nach der Flucht gegeben hatte.
Die Staatsanwaltschaft glaubt nachweisen zu können, daß der inzwischen 67 Jahre alte gelernte Bäcker, der seit den Todesschüssen an der Berliner Mauer in Hessen lebt, den arglosen DDR-Grenzer heimtückisch getötet hat. Außerdem habe er dem am Boden liegenden Huhn noch in den Rücken geschossen.
Wird Müller verurteilt, muß eine Episode des Kalten Krieges neu geschrieben werden. Beide Seiten hatten die Flucht für ihre Propagandaschlachten genutzt, die Wahrheit hatte weder Ost noch West richtig interessiert. So weigerte sich damals die DDR strikt, ihre Ermittlungsakten den Westalliierten zugänglich zu machen.
Müller hatte sich am 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus, allein in den Westen abgesetzt. Um seine Frau und beide Söhne nachzuholen, plante er den Tunnel besonders sorgfältig. Mit Genehmigung der Leitung des Axel-Springer-Verlages buddelte sich der Fluchthelfer vom Verlagsgelände aus zusammen mit Freunden und seinen drei Brüdern wochenlang unter dem Todesstreifen durch.
Unterstützung erfuhr die Truppe reichlich. So fungierte Springer-Hausmeister Tom Hammerschmidt, heute 67, als Kontaktmann zwischen Fluchthelfer und Geschäftsleitung. Als der Tunnel am 18. Juni fertig war, holte Müller seine Familie persönlich im Ostsektor ab.
Über den Schußwechsel nahe des Tunneleingangs gab es zwei sehr unterschiedliche Versionen. Müller behauptete gegenüber der Berliner Polizei, er habe gar keine Waffe dabei gehabt. Die tödlichen Kugeln stammten aus den Maschinenpistolen der anderen DDR-Grenzer.
»Schießwütige Vopos töteten eigenen Posten« schrieb der »Tagesspiegel«. Auch die West-Berliner Staatsanwälte glaubten Müllers Version und stellten ihre Ermittlungen ein. Dabei hätten sie es besser wissen können. Kurz nach der Flucht hatte Müller gegenüber Journalisten zugegeben, zumindest einmal geschossen zu haben: »Der Mann fiel sofort um.«
Die SED-Presse beschwor das Bild eines »Frontstadt-Banditen« ("Neues Deutschland") und mörderischen Westagenten. Bis zum Ende der DDR wurde Vopo Huhn als Märtyrer verklärt und ging in die realsozialistischen Geschichtsbücher ein. Der West-Berliner Senat dagegen verbreitete mit Unterstützung der Westalliierten zunächst die These vom Vopo-Mord am Vopo Huhn (SPIEGEL 27/1962). Senatssprecher Egon Bahr (SPD) ließ wissen, Müller habe Huhn nur einen »Uppercut versetzt«, bevor den die Kugeln der eigenen Leute töteten.
Das Gericht hat zur späten Aufklärung des Todesfalls an der Mauer zwölf Verhandlungstage angesetzt. Die Anklage glaubt ausschließen zu können, daß Huhn von Kollegen erschossen wurde: Die benutzten ein anderes Kaliber (7,62 oder 9,0 Millimeter), als es die tödlichen Projektile hatten.
Müller, derzeit gegen eine Kaution von 100 000 Mark auf freiem Fuß, hat bei der Verkündung des Haftbefehls jede Tötungsabsicht bestritten. Sollte er geschossen haben, sagt sein Anwalt Volkmar Mehle, sei es auf jeden Fall Notwehr gewesen. Auch ein anderer Müller-Vertrauter bestreitet die Darstellung der Staatsanwälte: Die hätten »einfach aus der Stasi-Akte abgeschrieben«.
An den postum zum Unteroffizier beförderten Reinhold Huhn, einen von Hunderten Toten an der innerdeutschen Grenze, erinnert heute nichts mehr. Das Huhn und 24 Kollegen gewidmete »Denkmal für die gefallenen Grenzer« wurde 1994 auf Geheiß des Berliner Senats abgebaut. Und die Reinhold-Huhn-Straße heißt, makaber genug, wieder, wie sie schon vor den Schüssen hieß: Schützenstraße.
SEBASTIAN LEHMANN, MICHAEL SONTHEIMER