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»Das geerbte Unglück«

Die Familienforscherin Marianne Krüll über Lügen, Geheimnisse und verleugnete Erotik in der Schriftsteller-Familie Mann
Von Angela Gatterburg und Joachim Kronsbein
aus DER SPIEGEL 51/2001

Krüll, 65, untersuchte in ihrem Bestseller »Im Netz der Zauberer - Eine andere Geschichte der Familie Mann« jene Lebensmuster, die sich in der Schriftsteller-Familie über Generationen wiederholt haben. Die Soziologin, die zuletzt ein Buch über ihre eigene Familie ("Käthe, meine Mutter") veröffentlichte, lebt in Bonn. -------------------------------------------------------------------

SPIEGEL: Frau Krüll, mögen Sie die Mann-Familie eigentlich?

Krüll: Also, richtig habe ich sie nie gemocht. Ich habe aber sehr viel Respekt vor ihnen und schätze ihre Leistungen.

SPIEGEL: Waren die Manns eine besonders unglückliche Familie?

Krüll: Na ja, gelebt haben sie alle ganz gut. Pauschal kann man nicht sagen, dass sie alle unglücklich waren, aber sie mussten sicher ihren Preis bezahlen für die Aufrechterhaltung ihrer großbürgerlichen Fassade. Bei einigen war der Preis allerdings sehr hoch.

SPIEGEL: In Ihrem Buch haben Sie nachgewiesen, wie in der Familie Thomas Manns Suizide, Drogensucht, Homoerotik und Kampf um die Anerkennung des Vaters verwoben sind mit den literarischen Neigungen und Talenten der verschiedenen Familienmitglieder. Ist die Mann-Sippe ein Vorläufer der modernen Familie?

Krüll: Das auch, entscheidend ist aber die Sichtweise, die wir heute auf diese Familie haben, die ist neu und modern. Ich glaube, dass zu allen Zeiten bestimmte Familiengeschichten über Generationen hinweg wirken, es werden bestimmte Muster und Verhaltensweisen tradiert, quasi vererbt, das ist einfach so. Besonders die, die nicht erzählt, sondern verschwiegen werden.

SPIEGEL: Wie funktioniert das?

Krüll: Jede Familie hat Themen, die auf geheimnisvolle Weise in den Seelen der Menschen kraftvoll und dynamisch wirken. Es ist verblüffend, weil man es nicht so genau fassen kann: Es ist, als ob Kinder bestimmte Einflüsse und Kräfte osmotisch aufnehmen, selbst wenn sie noch nicht sprechen können.

SPIEGEL: Also schon in der Kleinkindphase?

Krüll: Ja, Eltern sehen nur die Reaktionen des Kindes. Wir schieben es dann auf die Vererbung, die Gene, und wir nehmen nicht wahr, was und wie nonverbal kommuniziert wird. Und starke Gefühle wie Trauer, Enttäuschung, Verlust vermitteln sich, besonders auch nonverbal.

SPIEGEL: Kinder nehmen demzufolge solche Gefühle auf und tun ihrerseits dann was?

Krüll: Sie reagieren - und nicht selten auf dramatische Weise.

SPIEGEL: Unausgesprochenes kann ja auch Kreativität freisetzen. War Thomas Manns unterdrückte Homosexualität nicht die Triebfeder seiner Kreativität?

Krüll: Ich denke, wenn in einer Familie wie der Thomas Manns derart viele dramatische Dinge geschehen, kann sich das fokussieren auf Einzelne, die sich künstlerisch ausdrücken. Dass die Mann-Brüder Thomas und Heinrich die Literatur gewählt haben, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass andere Künste bei ihren Eltern kein Thema waren. Beide Eltern, der Konsul Thomas Johann Heinrich Mann und seine Frau Julia, haben gern gelesen. Dass die beiden Söhne dann in ihren Büchern konkrete familiäre Konflikte nachzeichneten und sich gleichzeitig psychisch entlasteten, war ihnen selbst wohl nur wenig bewusst.

SPIEGEL: In der Rückschau deutet sich ja alles einfach, und vieles wirkt schlüssig. Aber hätten die Brüder im Geiste der Familientradition nicht auch einen schwunghaften Getreidehandel betreiben können?

Krüll: Das glaube ich nicht. In meiner familiendynamischen Sicht ist das Entscheidende über die Mutter Julia gelaufen. Deren Vater war ja, wie auch der Mannsche Großvater, Kaufmann und lebte lange in Brasilien. Seine Tochter Julia hatte ein sehr ambivalentes Verhältnis zu ihrem Vater und verteilte entsprechende Botschaften an ihre Kinder.

SPIEGEL: Der Großvater selbst war ja für Thomas und Heinrich abwesend.

Krüll: Genau. Ich denke, die unbewussten Geschichten, die nicht gewussten Geschichten wirken am tiefsten, wenn sie nicht aufgearbeitet werden können. Julia hat ihre eigene Lebensgeschichte - dass ihre Mutter starb, dass ihr Vater sie als kleines Kind von Brasilien ins kalte Lübeck verpflanzte und sie dort ins Internat steckte - vertuscht und beschönigt. Ich denke, sie war erfüllt von tiefer Sehnsucht nach ihrer Heimat und voller Schmerz über den frühen Verlust der Mutter. Ihr Vater heiratete Julias liebste Tante und gründete erneut eine Familie, was Julia übel nahm - es kam ihr wie ein Verrat vor. Julia übertrug einige ihrer ambivalenten Gefühle auf ihre Söhne, unbewusst natürlich, und auf die Töchter Carla und Julia Elisabeth, die beide später Selbstmord verübten.

SPIEGEL: Wie ist das mit der Homosexualität? Klaus Mann hat sie ja wohl kaum von seinem Vater geerbt.

Krüll: Sicher nicht. Das ist nicht der Punkt. Aber er wuchs in einer Atmosphäre der

sexuellen Unerfülltheit auf. Klaus, der Sohn von Thomas und Katia, war als Kind sehr willkommen, aber wohl trotzdem unglücklich. Warum? Katia Mann war keine besonders mütterliche Person, und dann war da eben auch der Vater, der eigentlich Männerkörper liebte. Man muss sich schon fragen: Wie war das bei ihnen im Bett?

SPIEGEL: Kinder haben die beiden ja mannigfach gezeugt.

Krüll: Gewiss, aber es geht um die Frage: Wie empfindet eine Frau einen Mann, der eigentlich einen anderen Körper sucht und begehrt. Natürlich waren sie durch die Kinder miteinander verbunden. Aber sie waren doch beide sehr vereinsamte Seelen.

SPIEGEL: Ist aus dieser unausgelebten Sexualität der Eltern alles Unglück der Kinder entstanden?

Krüll: An Lebenslügen und Tabus wirken immer viele Familienmitglieder auch aus anderen Generationen mit, um die Fassade aufrecht zu erhalten. Mir geht es nie um Schuld. Ich suche nach Mustern und Erklärungen. So sollten wir auch auf unsere eigene Familiengeschichte schauen.

SPIEGEL: Im Gegensatz zu seinem Vater lebte Klaus Mann seine Homosexualität ja provozierend aus. Wollte er seinem Vater damit etwas beweisen?

Krüll: Sicher, Klaus wollte dem Vater zeigen, wie man sich dazu bekennen kann. Trotzdem war er unglücklich damit. Keine seiner Beziehungen funktionierte, er hatte zwar viel Sex, aber keine Liebe. Ob er es wirklich genossen hat, ist fraglich. Die unterschwellige Konkurrenz zum Vater zu erkennen wäre vielleicht hilfreich gewesen. Ich denke nicht, dass beide je miteinander darüber gesprochen haben. Dabei hätte es Klaus sicher sehr gut getan, wenn sein Vater sich ihm emotional zugeneigt hätte.

SPIEGEL: Warum versuchte Klaus, der deutlich weniger schriftstellerisches Talent hatte als sein gefeierter Vater, diesem ausgerechnet auf dem gleichen Gebiet Konkurrenz zu machen? Wollte er sich dadurch demütigen?

Krüll: Sein Vater hat ihn auch gelockt, wahrscheinlich über die Schiene der Homoerotik. Komm mir nah, hieß die subtile Botschaft, aber nicht zu nah. Klaus hat sicher gehofft, er würde ihm tatsächlich nahe kommen. Seine Novellen erzählen viel über erotische Phantasien, über Inzestphantasien. Wie wir durch seine Tagebücher wissen, fand aber bei ihm lediglich ansatzweise eine Reflexion über seine Verstrickung statt.

SPIEGEL: Ähnlich wie bei den Manns hat auch der Kennedy-Clan die Aura von Glanz und Unglück. Die Männer fielen durch Ehrgeiz, Risikobereitschaft und eindrucksvollen Frauenverschleiß auf. Sehen Sie da Ähnlichkeiten?

Krüll: Ja, ohne Frage. Das ist bei den Kennedys eine Art Fluch, der sicher auch mit unbewältigten Geheimnissen aus Vorgenerationen zusammenhängt. Und auch in solchen Familien könnten alte Muster umgewandelt werden, wenn man sie zu verstehen lernt und durchdringt. Es ist ein schmerzhafter Prozess, für jeden, der sich daranmacht. Und es gibt keinerlei Garantie, dass man hinterher glücklicher lebt. Alles, was man traumatisch erlebt hat, egal wie schlimm, beweist immerhin auch: Ich habe überlebt, ich bin nicht gestorben daran.

SPIEGEL: Gibt es überhaupt glückliche Familien?

Krüll: Was heißt schon glücklich? Überall gibt es Schatten. In meinem Alter nimmt man nicht mehr alles so wichtig, sieht nicht alles so dramatisch. Ich bin nachsichtiger mit mir und anderen und mit dem, was war. Das ist vielleicht Glück und reicht doch, oder? INTERVIEW: ANGELA GATTERBURG,

JOACHIM KRONSBEIN

* Oben: auf dem Totenbett (1910); unten: mit Schwägern Edwardund Robert und ihren Kindern Caroline und John bei der Trauerfeierfür Präsident John F. Kennedy in Washington (1963).

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