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»DAS GERICHT DER VERRÜCKTEN«

aus DER SPIEGEL 43/1965

Neben der staatlichen Justiz arbeiten in der Sowjet-Union - in Wohnblocks und Fabriken - sogenannte Kameraden -Gerichte, die Fälle von noch-nicht-krimineller Disziplinlosigkeit aburteilen und mit tadel oder Geldbuße bestrafen. In dieser - ehrenamtlichen - Form der Gesellschafts-Justiz sehen die Theoretiker des Kommunismus die

Rechtspflege der Zukunft - jener Zeit, in der die vollendete kommunistische - Gesellschaft ohne Regierung und ohne Gerichte auskommen soll. Der amerikanische Jurist George Feifer schildert eine typische Verhandlung vor einem Moskauer Kameraden-Gericht in seinem. Buch »Justiz in Moskau«, dem der folgende Auszug entnommen ist:

Die Sitzung des Kameraden-Gerichts versprach interessant zu werden. Ja, ihre Bedeutung erschien den Funktionären so groß, daß die Verhandlung im voraus angekündigt wurde und auch nicht im Parteilokal des Wohnblocks, sondern im Klubsaal einer Buchbinderei, dem größten Raum des Bezirks, abgehalten wurde.

Etwa 700 Einwohner hatten sich mit der Miene grimmiger Entschlossenheit eingefunden. Und auch ein Kamera -Team mit mächtigen Apparaten und grellen Scheinwerfern war zur Stelle, um das Ereignis für die sowjetische Tagesschau zu filmen.

Die »Angeklagten« waren fünf junge Bürschchen. Sie wurden beschuldigt,

sich respektlos gegen die ältliche Sozialhelferin benommen zu haben, der die Obhut der Kinder im Hofe des großen Wohnblocks übertragen war.

Daß die Burschen ihr das Leben zur Hölle gemacht hatten, war vom ersten Augenblick der Verhandlung an ersichtlich: Sie hatten sie beschimpft, ungehörige Reden vor ihr geführt, sie bedroht und verspottet. Sie hatten sich Geld von ihr geborgt und es erst zurückgegeben, nachdem sie wochenlang darum gebeten hatte; hatten brennende Zigaretten nach ihr geworfen und mit ihrer übersprudelnden jugendlichen Wildheit alle Versuche der Frau, Spiele für die jüngeren Kinder zu organisieren, zunichte gemacht.

Es war ein klassischer Fall von »antisozialem Verhalten«, das herrlichste Rohmaterial für ein Kameraden-Gericht. Es war hier in die Lage versetzt, einer unerträglichen menschlichen, nicht aber kriminellen Situation ein Ende zu machen und gleichzeitig die Lehren der »sozialistischen Moral«, der »Erziehung zum Kommunismus« zu verkünden.

Es war jedoch von Anfang an ein verfehltes Unternehmen. Zuerst ging das Licht im Saal für zehn Minuten aus, und die Zuhörerschaft, die in dieser Finsternis ungeduldig wurde, gab allerhand spöttische Bemerkungen zum besten. ("Ein Gericht der Verrückten« - der Titel eines bekannten Films, in dem die amerikanische Justiz gebrandmarkt wurde - war ein besonders beliebter Slogan.)

Als das Licht schließlich wieder funktionierte, fiel das Mikrophon aus, der Vorsitzende mußte lauthals schreien und war doch nur bis zur zehnten Sitzreihe zu verstehen.

Man hatte ohnehin den Eindruck, daß kein Mensch daran interessiert war zuzuhören. Die Sozialhelferin hatte eine Liste von sechzig »wundervollen« Jungen aufgestellt, damit ja niemand denken sollte, alle ihrer Obhut anvertrauten Kinder seien ungezogen ("Einige von den jüngsten sind einfach großartige Burschen, zukünftige Helden der Arbeit!"). Aber sie war so offensichtlich ungeeignet, mit größeren Jungen umzugehen, daß die Zuschauer sich trotz ihrer bekümmerten Erklärung über sie lustig machten.

»Steckt sie doch in einen Kindergarten! Da gehört sie hin! - »Sie ist selbst dran schuld; warum behandelt sie die Jungen wie Säuglinge?« - »Was ist das hier eigentlich - eine Märchenstunde?« Stürme von Gelächter folgten diesen Zurufen.

Die Jungen weigerten sich, ihre Schuld zuzugeben, und der Vorsitzende, der keine Ahnung hatte, wie er Beweise erbringen und das Verhör leiten noch wie er sich gegen die schlagfertigen Antworten der Jungen verteidigen sollte, flehte die jugendlichen Missetäter schließlich geradezu an, doch zu bekennen, daß sie sich schlecht aufgeführt hätten, daß sie alles bereuten und sich bessern wollten.

»Aber du mußt doch die Wahrheit sagen«, mahnte der Vorsitzende.

Antwort: »Die wollen Sie ja gar nicht hören.«

»Bist du ein Jungkommunist? Weißt du, was wir von einem Jungkommunisten verlangen? Jetzt sagst du uns die Wahrheit wie ein ordentlicher Jungkommunist.«

Antwort: »Hoffentlich wissen Sie auch, was von den alten Kommunisten verlangt wird.«

Schließlich bequemte die Schar sich, mit spöttischem Grinsen die Komödie der Bußfertigkeit aufzuführen, nicht ohne zuvor das Publikum wieder und wieder auf Kosten ihres begriffsstutzigen Befragers zum Lachen gebracht zu haben.

Die Zeugen konnten nichts vorbringen, was den erzieherischen Wert des Nachmittags erhöht hätte. In seiner Verzweiflung verlangte der Vorsitzende von den Müttern der Jungen, sie sollten versprechen, daß sie ihre Söhne in Zukunft besser erziehen würden. Aber diese weigerten sich.

»Also wirklich«, empörte sich die eine, »ist es denn zu glauben, daß erwachsene Männer wie Sie nichts Besseres zu tun haben, als sich mit solchen Albernheiten abzugeben? Ihr großartiges Kameraden -Gericht ist ja nichts als eine lächerliche Zeitverschwendung! Entlassen Sie einfach diese unfähige Sozialhelferin, dann wird mein Junge sich schon anständig benehmen.« Die Zuhörerschaft jubelte Beifall.

Eine andere Mutter erklärte steif und fest, ihr Sohn habe seine schlechten Manieren bei den Druschinniki gelernt, denen beizutreten seine jungkommunistische Gruppe ihn gezwungen habe*. Die Zuhörerschaft applaudierte. Die Sozialhelferin eines benachbarten Wohnblocks sagte aus, die Jungen seien falsch behandelt worden.

Dann folgte ein ganzes Aufgebot von Sprechern, die man nicht eigentlich als Zeugen bezeichnen konnte, da sie über den vorliegenden Fall nichts wußten und wieder abtraten, noch bevor sie darüber befragt werden konnten. Eine Frau sprach darüber, daß man alle Kinder lieben müsse, ein aufgeregter Sportsmann erbot sich, eine Fußballmannschaft zu trainieren, der Vorsitzende eines anderen. Kameraden-Gerichts beschrieb seine harte Jugend und erzählte, wie er ein erfolgreiches Mitglied der sozialistischen Gesellschaft geworden sei. Er bekam einen Wutanfall, als einer der Jungen fragte, was diese Geschichte mit der Verhandlung zu tun habe.

Der Parteisekretär der Wohnblockgemeinschaft (die 16 000 Personen umfaßte) hielt eine Ansprache über die Ursprünge des Verbrechens ("Es hat sich wie eine Eiterbeule in dem Schmutz der kapitalistischen Gesellschaft gebildet"). Er beendete seine Rede mit einer großartigen Agitation, die fünfzehn Minuten dauerte. Es war die anfeuerndste, die ich je gehört habe, und sie hätte sich ausgezeichnet für die Erweckungsversammlung einer Sekte geeignet.

Die Zuhörerschaft wurde immer lauter. Die Jungen würzten die Unterhaltung mit treffenden und witzigen Bemerkungen, während der Vorsitzende noch immer krampfhaft nach einem Zeugen suchte, der das Verhalten der jungen Delinquenten verurteilt hätte.

Die Sprecher interessierten sich jedoch für erhabenere Themen. Die Verhandlung dauerte drei Stunden. Gegen Ende war die Zuhörerschaft auf die Hälfte zusammengeschrumpft, und diese Hälfte buhte empört, als der Vorsitzende verkündete, die Niederschrift des Urteils werde mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. So schrieb er es in fünf Minuten nieder.

Obgleich das Gericht der Ansicht war, daß die Jungen sich wirklich schlecht benommen hatten, beschränkte es sich auf »eine öffentliche Untersuchung des Falles« und verhängte keine Strafen, da die Jungen »die Gefährlichkeit ihres Verhaltens eingesehen und versprochen haben, sich zu bessern«.

Die Kameraleute packten ärgerlich ihre Geräte zusammen. Der Vorsitzende zog eine klägliche Miene, er wußte, daß diese Sitzung die örtliche Disziplin gelockert hatte.

Draußen auf der Straße kam der weltmännischste der Jungen, ein redegewandtes Kerlchen, auf mich zu: »So was haben Sie doch sicher nicht in Amerika, was?«

* Die Druschinniki sind Hilfspolizisten, die sich aus den Reihen der Partei und der Staatsjugend rekrutieren.

Russische Jugendliche: Schlechte Manieren bei der Polizei gelernt

Krokodil (Moskau)

Sowjetische Karikatur über ein Kameraden-Gericht: »Wer ist für Freispruch?

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George Feifer
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