Das Geschäft mit der Krankheit
Der Kanzler drückte sich volkstümlich aus. »Ohne Rücksicht auf seinen Geldbeutel«, so Willy Brandt in seinem Geleitwort zum »Gesundheitsbericht« der Bundesregierung, müsse jedem kranken »Bürger in der Bundesrepublik »die bestmögliche ärztliche Behandlung« zuteil werden.
Die Verheißung wurde formuliert vom Regierungschef eines Landes, das in der Tat über die Mittel und Möglichkeiten verfügt, Kranke aufs beste zu behandeln, Gesunde vor Krankheit zu schützen.
117 854 Ärzte, so die offizielle Statistik der ärztlichen Standesorganisationen. gibt es in der Bundesrepublik. Das hieße: Auf je 522 Bundesbürger, also etwa auf die Bewohner eines kleinen Siedlungskarrees mit fünf vierstöckigen Zeilenhäusern, käme -- theoretisch -- ein Helfer im weißen Kittel. Stolz verkünden die Ärztefunktionäre: Nur wenige Länder, beispielsweise Schweden, DDR und USA, hätten eine vergleichbar hohe Arztdichte.
In den 3600 Kliniken Westdeutschlands werden jährlich mehr als neun Millionen Patienten behandelt -- jeder siebente Bundesbürger geht, statistisch
* Ärztekammerpräsident Ernst Fromm (3. v. l.), Vizepräsident Hans-Joachim Sewering (4. v. l.), Hauptgeschäftsführer Josef Stockhausen (2. v. l.) bei der Präsidiumssitzung des Deutschen Ärztetages am 11. Dezember 1971 im Kölner Ärztehaus.
betrachtet, einmal im Jahr ins Hospital. Für jeweils 90 Einwohner des Landes steht ein Krankenhausbett bereit -- nur in Schweden, Australien und der DDR (ein Bett für 82 Einwohner) liegt die Bettendichte höher.
47 328 Arztpraxen gibt es in der Bundesrepublik: vom düsteren, schlechtgelüfteten Hintertreppen-Sprechzimmer bis hin zur chromblitzenden Behandlungs-Suite des Modearztes.
Mehr als 50 Milliarden Mark zahlten im letzten Jahr die westdeutschen Sozial- und Krankenversicherungen, zahlten Arbeitnehmer, Arbeitgeber und der Staat für Krankheit und ärztliche Behandlung, Forschung und Ausbildung. für Medikamente, medizinische Vorsorge- und Nachbehandlung.
Das ist etwa doppelt so viel, wie Großbritannien, annähernd so volkreich wie die Bundesrepublik, für sein Gesundheitswesen aufwendet.
Ein ganzes Netto-Monatseinkommen, rund 850 Mark, entrichtet, statistisch gesehen, jeder Bundesbürger, Greise und Kinder eingeschlossen, pro Jahr in die Gesundheitskasse. Ohne aufzumucken, nimmt er Jahr um Jahr eine (gemessen an anderen Kosten weit überdurchschnittliche) Steigerung dieses Aufwands hin.
Er tut es in der gläubigen -- oder trügerischen -- Hoffnung, daß er um diesen Preis nun gewiß nach den neuesten Erkenntnissen der Medizin behandelt wird, wenn er erkrankt. Noch schneller als der medizinische Fortschritt wuchs die Heilserwartung, die der Mann mit dem Krankenschein den kleinen und großen Halbgöttern in Weiß entgegenbringt.
Kein Monat, kaum eine Woche vergeht, ohne daß die Spitzenfunktionäre der deutschen Ärzteschaft beteuern wie gut es mit der Gesundheitsversorgung in der Bundesrepublik bestellt sei.
Von einer »optimalen Form der ärztlichen Betreuung« etwa sprach Dr. Hans Wolf Muschallik, Erster Vorsitzender der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung. »Unser soziales
Krankenversicherungssystem und seine Leistungen« stünden im internationalen Vergleich »einwandfrei in der Spitzengruppe, wenn nicht überhaupt an der Spitze«.
In einem standespolitischen Kommentar der »Münchner Ärztlichen Anzeigen« hieß es jüngst, »in keinem Lande auf unserem Erdball« gebe es »eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit ärztlichen Dienstleistungen, Arzneien und Heilmitteln«. Und: Nirgendwo sei mit »erträglichem« Aufwand »ein derart geglücktes System ärztlicher Versorgung erreicht wie bei uns
Die Wahrheit ist: Wo immer der Erfolg ärztlicher Versorgung meßbar wird, etwa im Leistungsvergleich mit anderen Ländern, steht die Bundesrepublik meist auf den hinteren Rängen:
* Krebssterblichkeit der Frauen -- laut WHO-Statistik 1970 über 25 Länder liegt die Bundesrepublik an zweitletzter Stelle, nur in Österreich sterben mehr Frauen an Krebs.
* Krebssterblichkeit der Männer -- die Bundesrepublik belegt den fünftletzten von 25 Plätzen in der WHO-Statistik. Das Risiko, an Krebs zu sterben, liegt für westdeutsche Bürger um 20 bis 50 Prozent höher als in den Vereinigten Staaten, Schweden oder Italien.
* Säuglingssterblichkeit -- die Bundesrepublik rangiert in der Statistik, gemessen an vergleichbaren Industrieländern, mit jährlich rund 20 000 Säuglingstodesfällen an 14. Stelle. »Legt man die Werte von England zugrunde«, so erläuterte kürzlich Professor Hans Ewerbeck, Direktor des Kinderkrankenhauses der Stadt Köln, »müßten bei uns jährlich etwa 4000 Säuglinge mehr am Leben bleiben, gemessen an der Schweiz rund 5000 und an Schweden sogar etwa 8000.«
* Müttersterblichkeit -- mit fast 52 Todesfällen auf je 100 000 Geburten liegt sie doppelt so hoch wie etwa in den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich und fast sechsmal so hoch wie in Schweden.
* Tuberkulose -- rund 200 000 Tuberkulosekranke leben in der Bundesrepublik, und jährlich kommen 15 000 neue hinzu; die Zahl der Neuerkrankungen ist relativ fünfmal so hoch wie etwa in der DDR.
* Die durchschnittliche Lebenserwartung in der Bundesrepublik ist für Männer wie Frauen um drei bis vier Jahre geringer als in Dänemark. Schweden und den Niederlanden. Neun Zehntel der westdeutschen Bevölkerung -- über 53 Millionen Bundesbürger -- sind in öffentlichen Krankenkassen gegen Krankheit versichert. Die Kassen zahlen Operationen und Kuren, Prothesen und teure Medikamente. Die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der westdeutschen Medizin reichen von der Organverpflanzung bis zur computergesteuerten Generaluntersuchung in modernen Diagnosezentren.
Dennoch -- trotz des Milliardenaufwands und imponierender Leistungen -- bleibt die Frage offen, ob Westdeutschlands Bürgern wirklich »die bestmögliche ärztliche Behandlung« zuteil wird.
Die Antwort der Patienten: Jeder dritte Bundesbürger ist mit der ärztlichen Versorgung unzufrieden; nahezu jeder zweite hält den Neubau und die Verbesserung der Kliniken für das innenpolitische Thema Nummer eins. Jeder vierte Patient zweifelt daran, daß er mit den modernsten Mitteln der ärztlichen Kunst behandelt wird.
Immer rascher sind während der letzten zehn Jahre die Kosten für das Gesundheitswesen angestiegen: Zwischen 1963 und 1968 haben sich laut »Sozialbericht 1970« der Bundesregierung die Sachleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) fast verdoppelt.
Noch im Jahre 1963 wurden in der Bundesrepublik für Medikamente 1,8 Milliarden Mark ausgegeben. Zehn Jahre später, 1973, werden es nach Schätzungen der Experten 7,3 Milliarden Mark sein -- ein Zuwachs um 300 Prozent.
1953 machte ein westdeutscher Kassenarzt mit der Behandlung seiner Krankenschein-Patienten durchschnittlich einen Umsatz von 20 000 Mark im Jahr -- 1971 waren es, nach einer Aufstellung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, schon 148 000 Mark, mehr als das Siebenfache.
Sein durchschnittliches Jahreseinkommen von den Kassen vor Besteuerung, Honorare von Privatpatienten nicht gerechnet und alle Praxisunkosten abgezogen -- stieg von damals 12 000 auf nunmehr 100 000 Mark (während sich Löhne und Gehälter in der gleichen Zeit durchschnittlich nur vervierfacht haben). Einschließlich der Einnahmen aus der Privatpraxis betrug 1971 (wie der Essener Wirtschaftswissenschaftler Dietrich von Leszczynski errechnete) das zu versteuernde Einkommen des freipraktizierenden Arztes in der Bundesrepublik durchschnittlich 125 034 Mark (siehe Graphik).
Westdeutsche Kranke liegen länger.
Den leidenden Laien, der in guten und schlimmen Tagen den aufwendigen Gesundheitsdienst durch Kassenbeiträge und Steueraufkommen finanziert, muß der kostenverschlingende Apparat wie Franz Kafkas düsteres Schloß anmuten -- als unüberschaubarer Riesenbau, überwuchert vom Gestrüpp der Bürokratie, unangreifbar in seiner furchteinflößenden Größe, bewacht und erhalten von respektheischenden Turhütern: autoritären Chefärzten und Professoren, hoheitsvollen Oberschwestern, Ärztebünden, Pharma-Firmen, Ordensgemeinschaften, Kassen-Vertretern, Apothekern und Amtspersonen aller Gattungen.
Wehrlos diesem System ausgeliefert und als einzige Gruppe unter den Beteiligten ohne Lobby und organisierte Interessenvertretung, mußten die westdeutschen Patienten in den letzten Jahrzehnten hinnehmen, daß die Kosten für das Gesundheitswesen zwar unablässig stiegen, seine gravierenden Mängel aber fortdauerten.
Wer in Westdeutschland krank wird,
* muß in Arztpraxen lange warten (durchschnittliche Wartezeit für Kassenpatienten: 77 Minuten; für Privatpatienten: 47 Minuten);
* wird vom Praktiker meist im Schnellverfahren abgefertigt (durchschnittliche Beratungsdauer: zwei bis drei Minuten);
* wird von einem Praktiker untersucht, der im Durchschnitt 55 Jahre alt ist, sein Examen vor einem Vierteljahrhundert gemacht hat und -- nach Angaben der Bundesärztekammer -- jährlich 9,3 Tage der beruflichen Fortbildung widmet;
* findet in ländlichen Gebieten der BRD immer schwerer einen Arzt (in den Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern wohnen 22 Prozent der westdeutschen Bevölkerung, aber nur sieben Prozent der Ärzte);
* findet nachts und an Wochenenden nur mit Mühe ärztliche Hilfe -- 4er Hausarzt alten Typs gehört weithin der Vergangenheit an, der ärztliche Notdienst funktioniert selbst in den meisten Großstädten nur mangelhaft;
* wird von Praktikern behandelt, die sich überlastet fühlen und klagen -- von 100 niedergelassenen Ärzten sind 56 mit ihrer Arbeit nicht zufrieden, die zu etwa 30 Prozent dem Ausstellen von Rezepten, dem Signieren von Formularen und der kassenärztlichen Abrechnung gewidmet ist.
Unter den Mängeln des Systems leidet aber auch, wer in eine Klinik eingeliefert wird. In Westdeutschlands Krankenhäusern
* herrscht Bettenmangel -- in vielen Kliniken liegen Kranke zeitweilig in Behelfsbetten auf dem Korridor;
* fehlt es -- obwohl sich ihre Zahl seit 1960 verdoppelt hat -- an Ärzten, aber auch an Hilfspersonal und Verwaltungsfachleuten (wegen steigenden Bedarfs und kürzerer Arbeitszeiten nimmt der Mangel an Krankenhausärzten zu; gegenwärtiger Fehlbestand: 3000; an Pflegekräften: 30 000; an Krankenhaus-Verwaltern: 6000);
* werden die Patienten länger behandelt als in den Kliniken der meisten anderen Industrieländer (durchschnittliche Verweildauer in der BRD: 19 Tage; in Schweden: 14; in den USA: 8 Tage);
* droht der bauliche Verfall -- jedes dritte Krankenbett steht in einer Klinik, die älter ist als 50 Jahre;
* geht der Abbau überlieferter hierarchischer Strukturen nur langsam voran -- noch immer fühlen sich, wie eine Umfrage ergab, zwölf Prozent der Patienten »wie in einer Kaserne«.
200 000 Mark jährlich mit 18 Wochenstunden.
Zwar gibt es die ultramoderne Superklinik, wie sie für 150 Millionen Mark in Hamburg-Othmarschen oder für 300 Millionen in Berlin-Steglitz errichtet wurden -- mit Kobaltbombe, Computer-Datei und vollautomatischer Laborstraße.
Aber noch immer gibt es in der Bundesrepublik auch Dutzende, wenn nicht Hunderte kleiner Entbindungskliniken, in denen Patientinnen und Neugeborene einem unverantwortlichen Risiko ausgesetzt sind, weil der einzige Arzt nicht greifbar, die technische Ausrüstung mangelhaft ist.
Zwar gibt es noch die überlasteten Stationsärzte, zumal in den chirurgischen Abteilungen der Krankenhäuser, die mitunter 40 Stunden hintereinander Dienst tun, vielleicht auch noch den unermüdlichen Landarzt, der mit seinem Mercedes-Diesel von Hof zu Hof rumpelt, auch nachts, wenn es sein muß, und an Feiertagen.
Aber da ist auch der flotte Facharzt für Augenheilkunde aus Düsseldorf, zwölf Wochen Ferien im Jahr, der auf Sylt mit 500-Mark-Scheinen die Runde freihalt: Mit 18 Arbeitsstunden je Woche verdient er nach eigenem Bekunden 200 000 Mark jährlich; die durchschnittliche ärztliche Behandlungszeit in seiner Praxis beziffert er mit etwas mehr als einer Minute pro Patient.
Oder es gibt den Facharzt für Labordiagnostik am West-Berliner Klinikum Steglitz, der für drei Monate zu einer Expedition in die Anden fuhr -- und bei der Rückkehr 400 000 Mark auf seinem Konto fand, die ihm sein selbstrotierendes Laborgeschäft inzwischen eingebracht hatte.
An 16 Kliniken in der Bundesrepublik stehen Spezialisten und Teams bereit, auch die schwierigsten Eingriffe am offenen Herzen vorzunehmen (wobei freilich wegen mangelnder Kooperation der Herzzentren noch immer einige tausend Patienten auf den Wartelisten stehen).
Aber eine Umfrage in den Bezirken Stuttgart und Koblenz ergab auch, daß nicht einmal 30 Prozent der dort niedergelassenen Ärzte sich durchweg an die Methoden der Schulmedizin halten (bei den praktischen Ärzten war es sogar nur jeder neunte); die meisten doktern. mindestens nebenher, mit Ho
* Oben: Patienten auf dem Flur eines Münchner Krankenhauses; rechts: Klinisches Labor in Freiburg
möopathie, Neuralpathie. Anthroposophie oder der sogenannten Erfahrungsheilkunde (Volksheilkunde).
Auch sonst hat das westdeutsche Gesundheitssystem, an traditionellen Mängeln reich, den medizinischen Fortschritt in den letzten Jahrzehnten nur zögernd mitvollzogen.
Elektronische Datenverarbeitung zum Beispiel, in Verwaltung und Industrie längst alltäglich, hat sich in Kliniken und Praxen noch kaum in Ansätzen durchgesetzt: »Es gibt kein Teilgebiet der Datenverarbeitung in der Medizin«, so konstatierte die Deutsche Forschungsgemeinschaft letztes Jahr in einer Denkschrift, »auf dem in Deutschland eine eigene Leistung vorgewiesen werden könnte« -- »das ärztliche Denken in Deutschland« sei hier »auf der Ebene der Nachkriegszeit« stehengeblieben.
Überdies sind ganze Kontinente auf dem Globus des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik bislang weiße Flächen geblieben: Die Entwicklung einer umfassenden Vorsorgemedizin hat eben erst begonnen, Altersmedizin (Geriatrie) findet praktisch nicht statt.
Betriebs- und Arbeitsmedizin dämmern dahin, es fehlt an Rehabilitationszentren, etwa für die jährlich 1000 neu hinzukommenden Querschnittgelähmten -- überwiegend Unfallopfer im Straßenverkehr. Im argen liegt schließlich auch die Behandlung der psychisch Kranken in Kliniken und Heilstätten (SPIEGEL 31/1971).
»Stimmung wie im Sportpalast.«
Aber trotz des immer stärker lastenden Kostendrucks, trotz zäh fortbestehender Unzulänglichkeiten, trotz offensichtlicher Stagnation -- bis in die jüngste Zeit gab es kaum Ansätze zu einer grundlegenden Reform des kranken Gesundheitswesens.
Vor allem die -- in Deutschland traditionell konservative -- Ärzteschaft hat bislang Reformen oder auch nur Analysen des maroden Systems zu verhindern versucht, weithin mit Erfolg.
Vor allem Ärzte (und Zahnärzte) konnten bisher im westdeutschen Gesundheitssystem, neben Pharma-Industrie und Apotheken, überdurchschnittlich wachsenden Profit verbuchen. Folgerichtig kalkulieren sie: Bei jeder Reform, wie maßvoll auch immer deren Ziele abgesteckt sein mögen, laufen sie Gefahr, das eine oder andere ihrer Privilegien einzubüßen.
Vokabular und Methoden, mit denen die Ärzte, vertreten durch die rührigen Spitzenfunktionäre ihrer Standesorganisationen, ihre Domäne zu verteidigen suchen, erinnern fast stets an kriegerische Auseinandersetzungen: eine Mischung aus heuchlerischem Pathos und massiver Drohung.
»Stimmung wie im Sportpalast« so meldete Ende letzten Jahres das »Berliner Ärztebtatt«, sei in der West-Berliner Kongreßhalle aufgekommen (als die neugegründete »Interessengemeinschaft Berliner Kassenärzte« neue Geldforderungen an die örtliche AOK stellte). Das Standesblatt berichtete von »,Totaler Krieg'-Atmosphäre«, »alte Kämpfer erinnern sich« (an einen früheren Honorarstreit dieser Art), es gelte »den Feind dort ins Visier zu nehmen, wo er steht« (im Verwaltungsgebäude der Berliner AOK) und ihm »schlagend (zu) beweisen«, daß die »geballte Erbitterung der Berliner Kassenärzte« begründet sei.
Die Krankenkassen schlugen Alarm.
Mit »detaillierten Kampfmaßnahmen« drohte in einer Großveranstaltung in Köln der Vorsitzende des Verbandes der niedergelassenen Ärzte Deutschlands (NAV), Kaspar Roos.
Die »Kampfstrategie« sei darauf abgestellt, daß »zu jeder Zeit örtlich oder regional losgeschlagen werden kann«, und zwar, wie Roos formulierte, für »die Stunde X« -- für den Fall nämlich, daß der Gesetzgeber es wagen sollte, angesichts der offenkundigen Mängel des bestehenden Gesundheitswesens über Reformen auch nur nachzudenken.
Diese Chance, immerhin, zeichnet sich ab.
Nach einer mehr als 20jährigen Epoche der Restauration, der Zementierung ärztlicher Standesvorrechte, ist die Reform des Gesundheitswesens zum gesellschaftspolitischen Thema aufgerückt. Und immer häufiger unternehmen in den letzten Monaten sozialliberale Politiker und Gewerkschaften, Jungdemokraten und Jusos, Krankenkassen und kritische Mediziner, aber auch die katholischen Arbeitnehmer-Organisationen den Versuch, die Mißstände offen darzulegen und erste Leitlinien einer Reform abzustecken.
* Im Dezember 1970 legte die sozialliberale Regierung einen ersten »Gesundheitsbericht« vor, der nicht ein »Leistungsbericht« sein, sondern »eine Darstellung der augenblicklichen Situation« im Gesundheitswesen vermitteln sollte.
* Auf einer »Gesundheitspolitischen Konferenz der SPD« in Travemünde diskutierten und formulierten Sozialdemokraten im April letzten Jahres Programmschwerpunkte einer Reformpolitik.
* Im Oktober erschien eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften (WWI), die das Gesundheitssystem kritisch durchleuchtet*. Zugleich veröffentlichten einzelne Autoren, so der hessische Landarzt Paul Lüth und der Publizist und Mediziner Joseph Scholmer, Kritik am westdeutschen Medizinwesen**.
* Auf dem Krankenkassentag in Köln im November letzten Jahres beklagten Spitzenfunktionäre der Ortskrankenkassen die enorm angestiegenen Honorarforderungen der Ärzte (Honorarzuwachs im ersten Quartal 1971 gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres: 25 bis 38 Prozent) und forderten, daß künftig die Krankenhäuser, eventuell auch Krankenkassen in eigener Regie zur ambulanten Versorgung von Kassenpatienten beitragen sollten.
Noch in diesem Jahr. auf dem nächsten ordentlichen Parteitag im Herbst, will die SPD ein umfassendes gesundheitspolitisches Programm verabschieden, zugleich als Bestandteil der Wahlplattform für die Bundestagswahl 1973.
Aber schon jetzt, da sich alle Reformbestrebungen noch im Vorfeld der Analyse, allenfalls der tastenden Diskussion bewegen, blasen die Ärzte-Funktionäre zur großen Abwehrschlacht, planen Deutschlands Medizin-Männer die große Verweigerung.
Schon auf dem letzten Deutschen Ärztetag in Mainz im Mai 1971 sagte KV-Vorsitzender Muschallik allen den erbitterten Kampf an, die erwägen könnten, die »freipraktizierende Ärzteschaft in die moderne Gesellschaft (zu) integrieren«.
»Von feindlicher Seite ein Stollen vorgetrieben.«
Das »Deutsche Ärzteblatt«, offizielles Standesorgan der westdeutschen Mediziner, erging sich (in einem Leitartikel) wieder in Kriegserinnerungen: Wer »aufmerksam zu lesen und zu hören versteht«, der müsse »sich als Arzt etwa so fühlen, wie es von den Soldaten des Ersten Weltkrieges in den Schützengräben der Westfront berichtet wird, die fühlten beziehungsweise hörten, wie tief in der Erde unter ihnen von feindlicher Seite Stollen vorgetrieben wurden in der höchst unlauteren Absicht, sie eines Tages mittels dort angebrachter Minen in die Luft gehen zu lassen«.
»So ernst (wie) kaum jemals zuvor«, hieß es im »Deutschen Ärzteblatt«. wurde auch auf der Tagung des »Präsidiums des Deutschen Ärztetages« in Köln, Anfang Dezember letzten Jahres, »zur Wachsamkeit der Ärzteschaft aufgefordert«.
»Ein politischer Wind«, mahnten die Standesoberen, sei zu verspüren, der
* »Die Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik Deutschland -- Analyse und vorschläge zur Reform, herausgegeben vom Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Gewerkschaften GmbH. Bund-verlag, Köln; 128 Seiten: 9.80 Mark.
** Joseph Scholmer: »Die Krankheit der Medizin«, Luchterhand Verlag, Neuwied; 204 Seiten; 7,80 Mark. -- Paul Lüth: »Ansichten einer künftigen Medizin. Hanser Verlag, München; 136 Seiten; 7,80 Mark.
»offenbar in Zukunft schärfer und kälter wehen wird«. Vor allem seit die Gewerkschaften sich eingeschaltet hätten, klagte Professor Ernst Fromm, Präsident des Deutschen Ärztetages und der Bundesärztekammer, habe das Thema Gesundheit »gesellschaftspolitisch eine sehr viel größere Kraft im Sinne des Bedrohlichen erhalten«.
»In geschlossener, gemeinsamer, notfalls auch in kämpferischer Abwehr«, so wieder Muschallik in Köln, müsse sich »die gesamte Ärzteschaft« dieser »offensive gegen das bewährte System entgegenstellen«. Die gemeinsame Aktion hat schon begonnen.
Anfang letzten Monats erschien die erste Nummer einer -- von sieben führenden Pharma-Firmen finanzierten, von der Bundesärztekammer und den großen Ärzteverbänden gesteuerten -- Wartezimmer-Zeitung »Praxis-Spiegel« (Auflage: vierteljährlich 1,5 Millionen Exemplare), in der vor »übersturztem Eifer« bei Reformen gewarnt wird.
Kurz zuvor hatte NAV-Präsident Roos dazu aufgerufen, einen neuen Kampffonds ("Aktion 1972") einzurichten, mit dessen Hilfe der Standpunkt der Ärzte in Wartezimmerzeitungen und Zeitungsanzeigen, auf Flugblättern und Plakaten propagiert werden soll.
Dabei gibt es schon seit 1960, aus der Zeit erster, gescheiterter Reformbestrebungen des damaligen Arbeitsministers Theodor Blank, einen solchen Mediziner-Kampffonds« dessen Höhe (unwidersprochene Schätzung: 15 Millionen Mark) Ärztefunktionär Josef Stockhausen als »eines der bestgehuteten Geheimnisse« bezeichnete.
Kein Zweifel: Der Druck der Gesellschaft, der auf Veränderungen im verkrusteten System des westdeutschen Gesundheitswesens hinwirkt, wird stärker. Immer krasser empfindet auch das Millionenheer der Kassenpatienten die Diskrepanz zwischen dem finanziellen Aufwand und dem autoritären, selbstherrlichen Auftreten der Ärzte einerseits und der oft flüchtigen, mangelhaften, die Patienten entwürdigenden ärztlichen Behandlung andererseits.
Doch das bestehende Gesundheitswesen in der Bundesrepublik, aufgehängt zwischen auseinanderstrebenden Pfeilern -- hier den Krankenkassen, dort den ärztlichen Standesorganisationen und Vereinen -, notdürftig überwacht vom Bundesgesundheitsministerium, gezerrt vom unkontrollierten Einfluß der Pharma- und Geräteindustrie, erscheint unfähig. sich den erforderlichen Reformen zu öffnen.
Dieses System, in seinen Grundzügen last hundert Jahre alt, konserviert hartnäckig Organisationsformen, die auf die Verhältnisse der Gründerzeit zugeschnitten waren.
Kein anderer Berufsstand hat es vermocht, in den neun Jahrzehnten seit den Anfängen einer Sozialversicherung in Deutschland so viele Standesvorteile und -vorrechte einzuhandeln -- bis hin zu einer Situation, die sogar in dem CDU-nahen Pressedienst »Wirtschaftsbild« gelegentlich als eine Art Naturschutzpark eines »staatlich geordneten Marktes mit Absatz- und Inkasso-Garantie« gekennzeichnet wurde.
Bei diesem Kampf um Macht und Privilegien war den ärztlichen Standespolitikern jedes Mittel recht, von der Streikandrohung (so im Oktober 1913, als es um den allgemeinen Zugang zum Honorartopf der Krankenkassen ging) über den Pakt mit den Nationalsozialisten (die sich nach 1933 mit der Gründung einer überregionalen »Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands« und einer für die Mediziner profitablen Reichsärzteordnung erkenntlich zeigten) bis hin zur direkten, den zuständigen Minister überspielenden Intervention des Ärztepräsidenten Fromm bei Konrad Adenauer (als der damalige Arbeitsminister Theodor Blank eine für die Ärzte eventuell abträgliche Reform der Versicherungsordnung plante).
Von den Hirten des
Konkurrenzkampfes befreit.
Ziel der ärztlichen Standespolitiker in den jahrzehntelangen berufspolitischen Kämpfen war,
* das Berufsbild des ·im Solo-Betrieb frei praktizierenden Arztes vor Veränderungen zu bewahren,
* Einfluß auf die Honorargestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewinnen,
* den Ärzten, entgegen früherer Gesetzgebung, ein Behandlungsmonopol zu verschaffen und
* eine mächtige Standesorganisation zu schaffen, die als politisches Instrument derartige Privilegien durchsetzen und verteidigen kann. De facto hat die Ärzte-Lobby alle ihre Ziele innerhalb der letzten 70 Jahre erreicht. Schlußstein in diesem Gebäude war das Kassenarztgesetz von 1955, das den Monopolbetrieb der kassenärztlichen Praxis gesetzlich verankerte.
Schon mit der Reichsärzteordnung von 1935 war -- Grundsatzentscheidung über spätere Honorar-Millionen -- per Gesetz festgelegt worden, der Arzt-Beruf sei »kein Gewerbe«, sondern »dem Wesen nach ein freier Beruf«.
Damit hatten die Ärzte ihren Stand endgültig zur Elite hochstilisiert -- ein gewaltiger Sprung gegenüber vergangenen Jahrhunderten. Noch gegen Ende des Mittelalters beispielsweise hatte ein frommer Chronist, Berthold von Regensburg, in seinem Hierarchie-Gemälde der menschlichen Gesellschaft die Heilkundigen auf der vorletzten (neunten) Stufe angesiedelt, noch hinter den Bauarbeitern, Bäckern und Bauern. Die Chirurgen gar, damals noch Bader und Barbiere, rangierten zusammen mit »Singern, Springern und Gauklern«, kurz: mit den »unehrlichen« Leuten, auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter.
Nun aber, im Jahrhundert von Ferdinand Sauerbruch, im Gefolge von Robert Koch und Ignaz Semmelweis, gelang es den Medizinern unversehens, ihr soziales Image aufzuputzen -- und ihren Beruf dem wirtschaftlichen Eidstenzkampf weithin zu entziehen.
Einerseits »kein Gewerbe«, also kein primär auf Gewinn zielendes Unternehmen, andererseits aber
Wirtschaftsbetrieb eines freien Unternehmers -- im Dienst an der Volksgemeinschaft -, stellt die Arztpraxis einen ökonomischen Zwitter dar, der seinem Inhaber eine Reihe von scheinbar nachteiligen Verpflichtungen aufbürdet: Der freie, gleichwohl nicht gewerbetreibende Arzt
* darf keine Werbung treiben,
* darf keine Filial-Praxen eröffnen,
* muß seine Preise aufgrund einer
Gebührenordnung festsetzen,
* muß seine Praxis selber führen (darf also nicht nur als stiller Teilhaber daran verdienen),
* darf als Kassenarzt, seine Angebote und seinen Service nicht beliebig erweitern (nur im Rahmen der Kassenleistungen).
Zu alledem untersteht er, dem Buchstaben der Standesordnung nach, einer doppelten Gerichtsbarkeit (der gesetzlichen und der disziplinarischen), haftet wie ein freier Unternehmer, hat aber, qua Ausbildung, keinerlei wirtschaftliche oder juristische Kenntnisse mit auf den Berufsweg bekommen.
Daneben ist er, mit der Approbation, Zwangsmitglied der Ärztekammer und, mit der Kassenzulassung, Zwangsmitglied der Kassenärztlichen Vereinigung. Von beiden Organisationen ist er weitgehend abhängig.
Doch für das Joch der Pflichten, die er zu tragen hat, wird der Arzt reich entschädigt. Denn diese Pflichten sind, bei Lichte besehen, eher Privilegien: Sie reinigen die ökonomische Existenz der Mediziner von den Härten des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes.
Seit ihnen, durch die Reichsversicherungsordnung von 1911, die Konkurrenz von Quacksalbern und Heilkundigen per Gesetz vom Hals geschafft wur-
* Oben: Dieter Borsche als »Dr. Holl«; r.: Ewald Baiser in »Sauerbruch -- Das war mein Leben«; unten: Paul Hartmann (r.) in »Ich klage an«.
de, genießen die Ärzte ihr Behandlungsmonopol, dazu aber noch den Schutz vor Kollegen-Konkurrenz. also ein Quasi-Preiskartell, und schließlich den Vorteil standeseigener Inkasso-Büros in Gestalt der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV), die ihnen Unabhängigkeit von ihren Kunden sichern.
Von den Versicherten und den Versicherungen halten die Mediziner vornehm Abstand -- sie haben nur zu tun mit ihrer KV, die in ihrem Auftrag Preise mit den Kassen aushandelt, das Geld hereinholt und verteilt.
Vollends sicher konnten sich die Ärzte in ihrer windgeschützten ökonomischen Nische einrichten, seit 1955 die Neufassung des Paragraphen 368 der alten Reichsversicherungsordnung, nunmehr als »Gesetz über das Kassenarztrecht«, in Kraft trat. Darin heißt es: Die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung haben die ... den Krankenkassen obliegende ärztliche Versorgung sicherzustellen und den Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber Gewähr dafür zu übernehmen, daß die kassenärztliche Verseinigung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht.
Dieser wortreiche, auf den ersten Blick wenig brisant klingende Gesetzestext, mi Standesjargon kurz
»Sicherstellungsauftrag an die deutsche Ärzteschaft« genannt, ist gleichsam die staatliche Garantie auf Eigenheim und Ferienkreuzfahrt, auf Zweitwagen und Investmentzertifikate für jeden auch nur durchschnittlich befähigten Dr. med., nach spätestens drei Praxisjahren.
Mehr noch: Mit diesem ausschließlichen Recht auf Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung können die Ärzte darauf pochen, daß allein sie es seien, die darüber zu entscheiden haben, wie diese Versorgung organisiert werden soll.
Mit diesem Anspruch üben die freipraktizierenden Ärzte, wie es Standeskritiker Scholmer formulierte, »über ihre Berufsverbände einen beherrschenden Einfluß auf die Entwicklung des Gesundheitswesens aus«, und sie haben. so Scholmer weiter, »diesen Einfluß benutzt ... um gegen die Interessen der Sozialversicherten jede durchgreifende Reform zu verhindern«.
In den gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen gleichen die ärztlichen Berufsverbände kompakten Bataillonen einer gut gedrillten Armee. die gegen eine zersplitterte Front von Gegnern leichtes Spiel haben.
Die Ärzte-Armee besteht aus einer Truppe von Reichswehr-Größe (rund 100 000 Mann), die sich in mehr als zwei Dutzend Einheiten gliedert, darunter Spezialeinheiten -- vom Ärztinnenbund über Facharztvereinigungen, Chefarztverband, Beamten- und Werkärztebünde bis zu konfessionellen Vereinigungen -- und Massenregimenter wie etwa die Kassenarztverbände (siehe Graphik).
Hohe Kampfmoral, Disziplin und straffe Organisation zeichnen den wehrhaften Kampf-Bund aus, darüber hinaus noch eine taktisch überaus effektvolle Gliederung. Die Kerntruppe besteht aus zwei Marschsäulen, den Ärztekammern und den Kassenärztlichen Vereinigungen; beide Einheiten mit ihren übergeordneten Stäben auf Bundesebene üben, gleichsam als Elite-Verbände, »mittelbare Staatsverwaltung« aus, so Ärztekritiker Lüth, also sozusagen Hoheitsfunktion.
Dabei fällt den Kassenarzt-Vereinigungen die Aufgabe zu, die wirtschaftlichen Belange der Ärzte zu sichern; wo sie -- als staatserhaltende Organe -- das nicht rabiat genug durchsetzen können, werden sie von den übrigen sogenannten freien Verbänden unterstützt. etwa vom Hartmannbund oder dem Verband der niedergelassenen Ärzte.
Dabei ist stets auch feinsinnige Personalunion im Spiel: Die Funktionäre wirken einerseits in der Spitze der ärztlichen »Körperschaften des Öffentlichen Rechts«, der Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen, und mischen zugleich mit an den Vorstandstischen der Kampfbünde, vom Verband der niedergelassenen Ärzte über den Kassenarzt-Verband bis hin zum Marburger Bund, dem Verband der angestellten und beamteten Ärzte.
Die Ärztekammern, voran die Bundesärztekammer, vertreten demgegenüber die ideellen Belange des Ärzte-Korps. Sie formulieren, tradieren und tremolieren eine Standesideologie, die (neben den Wirtschaftsinteressen der Ärzte) das westdeutsche Gesundheitswesen entscheidend geprägt hat.
Anders als die berufspolitischen Interessenverbände der Ärzte sollen die Ärztekammern bei ihren öffentlichen Auseinandersetzungen »die Reinheit des ständischen Anliegens nicht mit finanziellen Kämpfen belasten (Lüth). Während die freien Ärzteverbände und die kassenärztlichen Vereinigungen hart um Honorare und Gebühren feilschen. pflegen die Ärztekammern hochgemut den offiziellen Mythos. wonach »ärztliche Leistung ihrer ganzen Natur nach »unbezahlbar'« ist (so der Militärmediziner und -historiker Kurt Pollak).
»Der Arzt steht dem Künstler nahe.«
»Nach ärztlicher Ideologie«, so umschreibt Insider Lüth das herrschende Standesethos der Mediziner. »geht ärztliche Leistung im Cash down nicht auf« -- vielmehr werde »auf einer Bezahlung insistiert, die mehr als Bezahlung ist, nämlich Honorar, Ehrensold«.
Es versteht sich, daß eine Leistung. die mit Geld nicht aufzuwiegen ist, auch nicht auf dem Markt gehandelt werden kann: und zugleich ist klar, daß sie vor allem nicht ohne weiteres mit dem Hinweis aufs gebündelte Bare angefordert werden darf,
So gehört denn auch zur ärztlichen Ideologie die Unterstellung, daß die Leistung des Arztes immer eine Art freiwilliger Nothilfe sei, die der Kranke. noch bevor er die Rechnung begleicht. mit Dankbarkeit zu vergelten habe, »Ärztliche Leistung«, so umschrieb Lüth diese Samariter-Moral, sei »in jedem Fall Liebeswerk«.
Im Lichte solcher Anschauung wiederum wird der Arzt notwendig verklärt zum permanenten Wohltäter, der mit fast priesterlicher Autorität ausgestattet ist und gleichsam einem Orden angehört -- der Arztberuf wird zur Berufung: »Nur ein guter Mensch kann ein guter Arzt sein«, behauptete der deutsche Mediziner Hermann Nothnagel schon im 19. Jahrhundert; und noch vor zwei Jahren schrieb der Nothnagel-Kollege Otto Lippross: »Eine Tauglichkeitsprüfung für den Arzt ist kaum denkbar; denn die wichtigsten Eigenschaften, die ein Arzt besitzen muß, sind irrational, also nicht meßbar.«
Das Bild des so begnadeten Arztes ist nicht zufällig -- etwa in Gestalt des frühen Dieter Borsche -- zum Kino-Kulturgut geworden. »Nach meiner Überzeugung«, so schrieb vor fünf Jahren der Hamburger Mediziner und Ärztefunktionär Friedrich Thieding, »steht der Arzt dem Künstler nahe.«
Thiedings unter Ärzten verbreitete Überzeugung hat jedoch auch standespolitische Konsequenzen. Der Arzt, als eine Art Künstler verstanden, »braucht ... Unabhängigkeit und Freiheit des Handelns, das nicht durch gesetzliche Bestimmung eingeschränkt wird, sondern nur durch eine bewußt geförderte Eigenverantwortung« (Thieding) -- seine Arbeit darf also, wie die eines Poeten, auf keinen Fall kontrolliert werden.
Ein Gespenst geht um: Sozialisierung der Medizin.
Und wie ein Poet stets allein, nie im Team wirkt, so fühlt sich auch der Arzt grundsätzlich als Einzelarbeiter: »Arzttum«, glaubt Thieding, sei »individualisierte Tätigkeit«, die sich Immer nur zwischen zwei Menschen, Arzt und Patient, abspielen könne. Die »ärztliche Berufsausübung« ist laut Thieding »ein vertrautes Gespräch zweier Menschen«.
Das »Vertrauensverhältnis Arzt -- Patient« gehört deshalb zu den Stützen der ärztlichen Standesideologie, die den Arzt immer noch als imponierenden Magier vorstellt, gütig und weise und überlegen: »Der in Not geratene, aber unwissende Mensch sucht Rat bei einem anderen Menschen, der um die Leiden weiß und die Kenntnisse besitzt, die Leiden im einzelnen zu erforschen und zu beseitigen« (Thieding).
Der Arzt als Quasi-Künstler, als besonders gediegene Einzelpersönlichkeit, unkontrollierbar, gestrichen voll von hoher Verantwortung, die außer ihm niemand tragen kann, als Mitglied eines Elite-Standes, bei dem Wissen und Gesinnung aus einem Guß sind, dieser überlebensgroße Dr. Seltsam vermag sich nach offizieller Ärzte-Ideologie vor allem in einer Existenzform rein zu verwirklichen, die aus der Zeit des Biedermeier stammt: Damals, im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, konstituierte sich der Beruf des freipraktizierenden Arztes, der im Ordinationszimmer in seiner Wohnung Sprechstunde hielt und nachmittags mit der voluminösen Instrumenten-Tasche in der Hand auf Krankenbesuch ging.
Obwohl es den ärztlichen Ideologen seit Jahrzehnten immer mühsamer wird, ihr Scherenschnitt-Ideal aus dem Biedermeier mit der gesundheitspolitischen Realität des 20. Jahrhunderts in Einklang zu bringen, sind sie in ihrem erbitterten Kampf gegen jeden Wandel nicht müde geworden.
Dabei hat auch die Erfahrung einer »Medizin der Unmenschlichkeit« (Mit. scherlich), wie sie in deutschen Konzentrationslagern praktiziert wurde, die Standesvertreter nicht veranlassen können, aus ihren Argumenten den berufstypischen ethischen Dampf abzulassen.
Mit dröhnendem Wortschwall, oft mit der moralisierenden Suada eines Abraham à Santa Clara wettern Ärzte-Funktionäre auf Kongressen und in Standesblättern gegen ihre Widersacher, die, nach Lage der Dinge, nur von links kommen können. Für die Ärzte-Ideologen geht seit 100 Jahren ein Gespenst um in Europa -- es heißt: Sozialisierung der Medizin.
Friedrich Thieding, der praktische Arzt aus Hamburg, Ärzte-Funktionär seit 1922, jahrelang Erster Vorsitzender des Hartmannbunds, hat in einer programmatischen Schrift -- »Der Arzt in den Fesseln der Sozialpolitik« -- die Einstellung der deutschen Ärzte zu diesem Schreckgespenst dargelegt.
Unverhüllter als in den meisten berufspolitischen Tagesreden wird in der Broschüre, die Thieding 1966 gleichsam als Vermächtnis eines Standeskämpfers hinterließ, die Schizophrenie deutlich, die das Denken und Handeln der deutschen Ärzte gegenüber der sozialen Krankenversicherung bestimmt.
Einerseits fürchten die Ärzte, daß die Krankenkassen -- im Interesse ihrer geschröpften Mitglieder -- eines Tages das Recht zurückerobern könnten, mitzubestimmen oder auch nur zu kontrollieren, was mit den alljährlichen Beitragsmilliarden geschieht.
Solche Furcht macht begreiflich, daß Ärzte immer noch dem Wunschdenken nachhängen, wie schön es wohl hätte sein können, wenn das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik nach 1945 »reprivatisiert« worden wäre.
Wille zur Gesundheit durch Versicherung gelähmt?
Um die wahren Beweggrunde zu verschleiern oder zu verklären, wird freilich die Sozialversicherung mit einem eher moralpädagogischen Argument diffamiert. Thieding: »Die menschliche Aktivität, für sich in erster Linie selbst zu sorgen, wird durch die Passivität der Fürsorge gehemmt.« (Lapidarer noch hatte das 1927 der Danziger Mediziner Erwin Liek in seinem Buch »Die Schäden der sozialen Versicherungen« formuliert: »Die Krankenversicherung lähmt den Willen zur Gesundheit.")
Nicht wenige Mediziner reden sich noch ein, wie sehr sie unter der Rolle des »Sozialsklaven« (Thieding) leiden.
»Der niedergelassene Arzt von heute«, so formulierte ein westfälischer Kassenarzt in einer Leserzuschrift an eine Tageszeitung, »ist kein Herr mehr, er ist ein Scheinesammler. Unsere famose Bundesregierung hat uns die Privatpraxis zerstört, und unsere Praxen sind zu Ramschbuden mit Fließbandcharakter geworden. Es läßt sich bei einigem Geschick mit diesem System ganz gut Geld verdienen, aber unseren hippokratischen Eid haben wir verraten.«
Der vorlaute Berufskollege wurde für dieses Eingesandt von »der ärztlichen Standesjustiz, dem Landesberufungsgericht für Heilberufe in Münster, mit einem Verweis getadelt. Mit seiner Wortwahl hatte er die Standeswürde verletzt, denn als »Scheinesammler« und Eidbrüchige wollen sich Deutschlands Ärzte keinesfalls geschmäht sehen.
Andererseits: So sehr sie auch gegen »Vermassung und Entpersönlichung« und angebliche Vormachtstellung der Krankenkassen wettern, so wenig wollen Deutschlands Mediziner am bestehenden System mit seinem gewinnträchtigen »Sicherstellungsauftrag« rütteln lassen.
Dabei ist es gerade dieser »Sicherstellungsauftrag«. der jede Reform der Krankenversorgung entscheidend hemmt. Und daß solche Reform nötig wäre -- zu diesem Ergebnis kamen übereinstimmend alle kritischen Analysen, die in den letzten Monaten erschienen sind.
Nicht nur, daß bei dem alljährlichen Honorargezerre zwischen Ärzten und Krankenkassen die Kosten ins Astronomische zu wachsen beginnen: Schon im Jahre 1970 wurde in der Bundesrepublik für Krankheit und Gesunderhaltung allwöchentlich mehr als eine Milliarde Mark aufgewendet -- einschließlich Lohn- und Gehaltsfortzahlung sowie Mediziner-Ausbildung, aber ohne die 20 Milliarden Mark Produktionsausfall durch Krankheit.
Schwerpunkte der Medizin verlagern?
Angesichts solcher Ziffern hatte sogar das Deutsche Industrieinstitut, stets im Dienste der Arbeitgeber. in seinem Sozialbericht 1970 »das immer größer werdende Mißverhältnis zwischen Gesundheitsaufwand und gesundheitspolitischer Effizienz« gerügt.
Doch über diesen Kosten-Nutzen-Vergleich hinaus markierte beispielsweise der Gesundheitsbericht der Bundesregierung vom Dezember 1970 auch schon erste »Schwerpunkte moderner Gesundheitspolitik«, die an den medizinischen Erfordernissen im letzten Drittel dieses Jahrhunderts orientiert sind.
Danach müßten vor allem Gesundheitsvorsorge, Früherkennung von Krankheiten und gesundheitliche Aufklärung »gegenüber der kurativen (nur Krankheiten behandelnden) Medizin immer mehr an Bedeutung« gewinnen.
Doch gerade an diesem Ziel gemessen, klafft zwischen der Wirklichkeit westdeutscher Medizin und den gesundheitspolitischen Notwendigkeiten. wie der Bericht ausweist, eine breite Lücke.
* Etwa 1,2 Millionen Zuckerkranke gibt es in der Bundesrepublik, noch einmal eine Million Menschen sind zuckerkrank, ohne es zu wissen -- doch großangelegte Diabetes- Voruntersuchungen gab es bislang nur vereinzelt.
* Jeder fünfte Bundesbürger stirbt an Krebs (rund 140 000 Todesfälle jährlich) -- eine bundesweite Statistik der registrierten Krebsfälle aber wird nicht geführt, Maßnahmen zur Früherkennung sind erst vereinzelt angelaufen.
* Trotz der immer noch hohen Zahl von Tuberkulosekranken und Tbc-Neuerkrankungen sind Reihenuntersuchungen zur Frühdiagnose nur in wenigen Bundesländern und nur für einzelne Personengruppen gesetzlich vorgeschrieben.
Fünf Prozent aller Neugeborenen in Westdeutschland (jährlich rund 40 000 Kinder) kommen mit angeborenen Schäden zur Welt (Blindheit, Taubheit, Hirnschäden) -- aber die Maßnahmen zur Früherkennung, oft einzige Chance zur Heilung oder Besserung, fehlen.
Ärztliche Selbstkritik, formuliert im Sprechzimmer-Blatt »Du und die Welt«, das im Auftrag der Bundesärztekammer redigiert wird: »Viele Kinder, die heute noch in Sonderschulen sind, brauchten dort nicht zu sein, wenn ihre Behinderungen und Krankheiten rechtzeitig erkannt worden waren.
Die Ursachen all solcher Mißstände zeigte nun vor allem die »WWI-Studie« auf, die im Auftrag der Gewerkschaften von Soziologen, Ärzten und Volkswirten -- unter Vorsitz von Professor Erwin Jahn, dem Vizepräsidenten des Bundesgesundheitsamts -- erarbeitet worden ist.
Noch vor seinem offiziellen Erscheinen versetzte das WWI-Papier, von den Ärzten »nicht nur der Einbandfarbe wegen »Rote Studie' genannt«, die Standesgremien in höchsten Alarmzustand. Es sei »selbstmörderisch«, teilte das »Deutsche Ärzteblatt« seinen 117 800 Zwangsbeziehern -- allen approbierten Ärzten -- mit, diese Studie nicht zu kennen und sie nicht »entsprechend zu würdigen«. »Alles in allem«, so das Ärzte-Blatt, »ein dicker Hund.«
Zweieinhalb Jahre Arbeit hatten die Gewerkschaftsforscher aufgewandt, um die Unzulänglichkeiten des westdeutschen Gesundheitswesens und deren Ursachen aufzuspüren.
Das Behandlungsmonopol muß aufgelockert werden.
Und wo sie auch ansetzten, ob bei der mangelnden Früherkennung und Vorsorge oder beim unterentwickelten werksärztlichen Dienst, bei der schlechten Nachsorge für Krankenhauspatienten oder bei der mangelnden Nutzung von Krankenhaus-Apparaturen zu rechtzeitiger Diagnose -- stets kamen sie zu demselben Fazit: Reformen sind nur möglich, wenn das Behandlungsmonopol der niedergelassenen Ärzte für ambulante Patienten aufgelockert wird.
So stellt die WWI-Studie unter anderem fest:
* Die »Qualität« der Behandlung beim niedergelassenen Arzt sei mit »Mängeln« behaftet -- sie sei »überwiegend orientiert an medizinischtechnischen Verrichtungen. Laboruntersuchungen, Verordnung von Medikamenten«, der notwendigen »individuellen Beratung« werde »viel zu geringe Bedeutung beigemessen«.
* Wegen der hohen Investitionskosten könnten die freipraktizierenden Ärzte der technischen Entwicklung in der Ausrüstung kaum nachkommen; sie arbeiteten viel zu lange mit veraltetem Gerät.
* Den immer häufiger vorkommenden psychisch bedingten Leiden ihrer Patienten stünden die meisten Praxis-Ärzte ohne ausreichende Fachkenntnisse gegenüber.
* Die Zahl der praktischen Ärzte nehme ab, weil immer mehr Mediziner danach trachteten, Facharzt zu werden (Fachärzte haben höheres Prestige -- 68 Prozent der Patienten haben mehr Vertrauen zu ihnen -- und verdienen im Durchschnitt 30 Prozent mehr als die Praktiker).
* Die regionale Verteilung der freipraktizierenden Ärzte lasse zu wünschen übrig; vor allem auf dem Land und in den Randzonen der Städte und Ballungsgebiete fehlen Praxen -- insgesamt seien vier Prozent aller Kassenarztstellen unbesetzt.
Den hauptsächlichen Grund für diese Übel sehen die WWI-Kritiker in der »Honorargestaltung« für die niedergelassenen Ärzte -- und damit freilich erklärt sich auch die aufbrausende Reaktion bei den Gralshütern ärztlicher Standesinteressen: Der Nervus rerum, der Nerv aller Dinge, war getroffen. Als erster rüstete der Hartmannbund zum Gegenschlag. »Im Krieg schweigen die Musen«, hieß es unter der Überschrift »Konzentrierte Aktion« in einer Sondernummer (Titel: »Ärzte in Gefahr") des Hartmannbund-Sprachrohrs »Der deutsche Arzt«. »Wenn die Freiheit der Therapie in Gefahr ist, verlieren ärztliche Fortbildung und aktuelle medizinische Berichterstattung ihren Vorrang« -- deshalb gebe es für das Sonderheft nur ein Thema: die WWI-Studie. Außerdem erscheint in diesen Tagen ein »Weißbuch«
des Verbandes, das Kritik und Reformvorschläge der Gewerkschaftler konterkarieren soll. Der Hartmannbund, 29430 Mitglieder, repräsentiert vornehmlich jene Gruppe von Medizinern. die am Geschäft mit der Krankheit in der Bundesrepublik mit am meisten profitiert hat: die niedergelassenen Ärzte.
Benannt haben sie ihren Verband nach dem sächsischen Kassenarzt Hermann Hartmann. Seine einzige denkwürdige Leistung bestand darin, im Jahr 1900 den Kampfbund gegründet zu haben. Damals hieß er noch -- freimütig -- »Verband der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen«. Im nächsten Heft
Der Kassenarzt als »Schlüsselfigur« -- Streikdrohung am Krankenbett -- »Arzt sein ist ein Priesteramt« -- Fortbildung nur freiwillig -- Während der Grippe-Welle in Urlaub -- Zum Notdienst nicht bereit -- In Kleinstädten Ärztemangel.