Verblüffung war Ende vorletzter Woche in der Hall of Justice zu Los Angeles aufgekommen. Jedermann hatte von der Jury einen fixen, glatten Schuldspruch gegen Charles Manson und die drei mit ihm angeklagten jungen Frauen erwartet. Die Jury, die seit dem Juli 1970 im Ambassador-Hotel in Klausur lebt, so sagte man sich, will heim.
Daran, daß die Jury-Mitglieder zu Ihren Familien, In Ihre Nachbarschaften und Ihre Berufe nur nach einem »Schuldig« friedlich und in der Glorie »erfüllter Bürgerpflicht« zurückkehren konnten, hatte ohnehin niemand gezweifelt.
Doch Tag für Tag war ohne ein Verdikt, ohne Anzeichen für das Bevorstehen eines Verdikts der Jury vergangen. Ende vorletzter Woche hatten die in der Hall of Justice wartenden Journalisten den Punkt erreicht, an dem ihnen nichts anderes mehr blieb, als über einander zu schreiben.
Zuletzt kamen sogar Spekulationen auf, deren tollkühnste besagte, die Jury sei in Zweifel gefallen und nach wochenlangem Ringen werde sie mit der Meldung erscheinen, sie habe die erforderliche Einstimmigkeit nicht erreichen können.
Doch am Samstagmittag vorletzter Woche kam die Jury vom Mittagessen im Statler-Hilton-Hotel in die Hall of Justice zurück, um noch einmal ein Stündchen zu beraten, bevor sie sich ins Wochenende im Ambassador-Hotel begab -- und die meisten Jury-Mitglieder trugen Clownsmasken, die sie auf der Rückseite des Kinder-Menüs im Statler-Hilton gefunden hatten. Ein köstlicher Einfall In einem Prozeß über sieben ermordete Menschen, die
so Ankläger Vincent T. Bugliosi in seinem Plädoyer à la Verdi -- die Jury aus ihren Gräbern zur Vergeltung aufrufen.
Die Jury hat nur den Schein gewahrt, als sie fast 43 Stunden beriet, bevor sie am Montag letzter Woche um 11.42 Uhr ihr »Schuldig« verkündete; den Schein, es sei tatsächlich ernsthaft beraten und gerungen worden.
Hermann C. Tubick, der Obmann der Jury, gab das »Schuldig« bekannt. Er ist Bestattungsunternehmer von Beruf und fraglos für Stimmen aus Gräbern kompetent. Richter Older ließ sich das »Schuldig« von jedem Mitglied der Jury aus fünf Frauen und sieben Männern bestätigen. Danach -- brach ein uramerikanisches Ballyhoo aus, ein tosender Rummel, dessen Resultate anschließend die Gazetten, die Bildschirme und die Wellen überfüllten und jede Kritik, jedes Bedenken und allen Takt hinwegschwemmten.
Es brachen Jene Vereinigten Staaten aus, die man zu fürchten gelernt hat, eine Tollheit, in deren Überfall man nicht mehr wußte, ob man sich In einem Gerichtsgebäude befand oder am Rand des Boxrings, In dem soeben Clay über Frazier oder Frazier über Clay gesiegt hat. Sieben tote Menschen, vier Menschen, die zum Tode oder zu lebenslanger Haft verurteilt werden müssen, nachdem das »Schuldig« der Jury ergangen ist: und der Rummelplatz öffnete seine Schleusen.
Blitzlicht und Scheinwerfer, Gebrüll, Schreie, Prügelei um den nächsten Platz zum Ankläger, zu den Verteidigern. Mikrophone in Händen, die sich aus Strudeln recken, und Kommentare, »erste Stellungnahmen« von einer brutalen Durchsichtigkeit, als wären diese epileptischen Ausbrüche des American Way of Life nicht längst derart Literatur, daß man sie nicht mehr beschreiben kann.
Die Rundfunkwelle« die ohne Pause Nachrichten sendet, machte das Rennen, sie lag konkurrenzlos vorn. Unter den Gazetten schlug der »Herald-Examiner« die »Los Angeles Times« um Stunden mit seiner »Extra«-Ausgabe. Die »Los Angeles Times« schluckte die Schlappe -- und machte die Vorausgabe für den Dienstag am Montagabend mit »Mutter berichtet über Mansons Leben als Kind« auf. Die Fernsehstationen wiederum, gehandikapt dadurch, daß ihre Nachrichtensendungen erst um 18 Uhr beginnen, hatten ihrerseits ein unschlagbares Extra gefunden: die Eltern Sharon Tates, zu Hause zu ihrer Meinung zum Prozeß, zum Urteil und danach befragt, ob dem »Schuldig« die Todesstrafe oder lebenslange Haft folgen solle.
Die Kollegen, die meldeten und kommentierten, die befragten und berichteten, nicht wenige von ihnen hatten während der vergangenen Monate Bedenken in und zwischen den Zeilen spüren lassen. Doch nunmehr traten sie zum großen Schulterklopfen an. »Das Ist ein großer Erfolg für Staatsanwalt Vincent Bugliosi«, schmetterte man kommentierend zum Film, der Bugliosi in einem American-football-Gedränge von Journalisten zeigte.
Der billige Schuldapruch fegte hinweg, was sieben Prozeßmonate an Beunruhigung gesät, ja aufgezwungen hatten. Und so konnte Ankläger Bugliosi, immerhin noch befragt, ob die Erklärung Präsident Nixons zu Beginn des Prozesses, er halte Manson für überführt und schuldig, irgendeinen Einfluß auf den Spruch der Jury gehabt habe, antworten, die gekränkte Gerechtigkeit in Person, schließlich habe Manson selbst die Zeitung mit der Schlagzeile »Manson schuldig« in der Sitzung zu Augen der Jury hochgehalten.
Daß Mitglieder der Jury seinerzeit auf Befragen von Richter Older mitteilen mußten, sie hätten diese Schlagzeile bereits am Tag, bevor Manson sie in der Sitzung hochhielt, vom Bus aus in der Hand von Zeitungsverkäufern auf der Straße gesehen: an diese Tatsache erinnerte nach dem »Schuldig« der Jury niemand mehr den Ankläger Bugliosi, der einen so großen Erfolg errungen hat. Der »Erfolg« ist noch Immer der Popanz, der alle zum Schweigen bringt.
Wer sein Ziel erreicht, hat gesiegt. Das ist weiterhin amerikanische Realitat. Der Weg, auf dem ein Lorbeer erstritten wurde, dahin, vorbei, uninteressant. Die Jury hat gesprochen, und es mag getrost dicke Bände und eine Legion von Aufsätzen und Artikeln darüber geben, daß diese amerikanische Jury schon lange keine Rechtsgarantie mehr ist, sondern eher Gefährdung der rechtsstaatlichen Garantien: Dahin ist das, vorbei und uninteressant in dem Augenblick, in dem die Jury ihren verehrungswürdigen Spruch verkündet hat. Während die Manson-Jury beriet und wußte, was das Ergebnis ihrer Beratung sein würde -- wurden in den Vereinigten Staaten zum Ende der vorletzten Woche die drei letzten Verfahren gegen Soldaten eingestellt, gegen die wegen ihrer Beteiligung am Massaker von My Lai ermittelt worden war, Die Einstellung der Verfahren erfolge »im wohlverstandenen Interesse der Gerechtigkeit«, teilte ein Sprecher der U.S. Army aus diesem Anlaß mit. Nicht am Kopf, sondern in den Gerichtssälen beginnt der Fisch zu stinken.
Und da ist das amerikanische Phänomen der unüberbietbaren Versorgung mit Nachrichten über alles und von jedem: dieses Phänomen, das einen mit dem Überblick darüber belädt, was alles zur gleichen Stunde hier und dort geschieht.
Man weiß, daß die Manson-Jury über das Schicksal von vier Angeklagten berät, man weiß zugleich, daß Hunderte von Menschen an den Stränden von San Francisco um das Leben von Vögeln kämpfen, die nach der Kollision von zwei Tankern von der Ölpest bedroht werden -- und man weiß auch, in diesem einen, demselben Augenblick, daß die Entscheidung gefallen ist, die Verfahren gegen die letzten drei wegen My Lai verfolgten Soldaten der U.S. Army einzustellen.
Es drängen sich Beziehungen zwischen den Ereignissen auf; zwischen Ereignissen, die so, wie sie zu einer Stunde auf einen eindringen, plötzlich in unheimlichem Zusammenhang stehen. Lassen wir die Tierliebe beiseite, die schon immer der Hintergrund unmenschlichen Umgangs von Menschen mit Menschen gewesen ist. Sprechen wir ein weiteres Mal von Manson und My Lai, von Verbrechen, die zwei verschiedenen Welten zugehören sollen.
Das Material über My Lai ist erdrückend, Zweifel daran, daß dort ein Massaker verübt wurde, sind nicht mehr möglich. Die Beschuldigten, die Angeklagten, äußern sich teilweise offen, bekennen, was sie getan haben (gegen ihre Überzeugung, doch es war nun einmal befohlen) -- und es wird freigesprochen beziehungsweise eingestellt.
Der Befehl ist heilig, wird verteidigt, er hat zu gelten. Gleichzeitig aber konstruiert man im Manson-Prozeß ein hexerisches Befehls. und Abhängigkeitsverhältnis, welches Charles Manson dazu befähigt haben soll, siebenfachen Mord so unausweichlich zu befehlen -- daß auch er ein Mörder ist, obwohl ihm nicht vorgeworfen werden kann, er habe eigenhändig gemordet.
Im Fall La Bianca soll Charles Manson immerhin so weit persönlich beteiligt gewesen sein, daß er die Opfer, das Ehepaar La Bianca, eigenhändig fesselte, bevor er das Haus verließ und seinen Komplicen den Mordbefehl gab: Doch diese Behauptung steht allein auf der Aussage der Kronzeugin Linda Kasabian. Werkzeuge von Charles Manson sollen die Mörder gewesen sein und willenlose Befehlsempfänger, die zu strafen sind genauso wie Charles Manson. In My Lai andererseits waren die Befehle militärische Realitäten für die Befehlsempfänger. Diese tödlichen Befehle, darauf laufen die drei verbliebenen Verfahren gegen Offiziere im Zusammenhang mit My Lal hinaus, sollen »falscher Einschätzung der Lage« entsprungen sein, bedauerlich zwar, doch einfühlbar.
Charles Manson, so die Anklage, wollte die Macht in den Staaten (im Anschluß an ein Gemetzel zwischen Schwarz und Weiß) übernehmen. Jürgen Leinemann hat als dpa-Korrespondent im Manson-Prozeß 1970 (für »Publik") die Situation unübertrefflich formuliert: »Vor dem Hintergrund der wirren Ideen von einer anschließenden Machtübernahme durch Charles Manson ist der gesellschaftsrealistische Kern verlorengegangen. Das »Volk von Kalifornien' (wir ergänzen heute: der Vereinigten Staaten) starrt nicht auf das, was es mit Manson und seiner Familie verbindet, sondern auf das, was es trennt.«
Niemand bemerkt die Beziehung zwischen Manson und My Lai, sieht den Schnittpunkt korrespondierender Entwicklungen, in dem die Gesellschaft den einen Befehl zu heiligen und um seinetwillen freizusprechen sucht, während sie einen anderen Befehl konstruiert, um zu verurteilen. Eines haben nämlich der Befehl, der entlastet und der (konstruierte) Befehl, der die Verurteilung legitimiert, gemeinsam: Sie befreien die Gesellschaft von ihrer Verantwortung für die militärische Notwendigkeit
Es versteht sich, daß die von der »Los Angeles Times« auf getane Mutter von Charles Manson darüber berichtete, daß ihr Sohn »ein Kind wie jedes andere«, sie selbst niemals eine Prostituierte gewesen und alles einfach unfaßlich sei. Daß die Gesellschaft es so haben möchte, leuchtet ein. Sie braucht das Tier in Menschengestalt namens Charles Manson, um nicht in Anfechtung zu fallen. (Nicht ohne Ironie: der uneheliche Vater von Charles Manson war, seiner Mutter zufolge: ein Colonel.)
Zwischen Manson und My Lal häufen sich die Beziehungen, so man sich einmal auf ihre Spur begibt. Captain Medina, Chef der »Charlie Company«, die in My Lai mordete: unehelich geboren, die Mutter starb, als er ein Kind war. Medina wuchs, zu harter Arbeit angehalten, in Gemeinschaftserziehung auf. Mit 15 ging er zur Nationalgarde, dann zur Army. Nach sieben Jahren machte man Ihn zum Offizier und zum Ausbilder, Er wurde gut beurteilt. Trotzdem ist er, nach seiner Meinung, unverdient spät Major geworden, weil er »zuwenig Erziehung« gehabt hatte. Vietnam war eine Chance für seine Karriere. Bei der Truppe galt er als hart (doch auch »gerecht«, man kennt das Klischee). Mit Medina diskutierte kein Dienstgrad vor versammelter Mannschaft.
Das nahm man sich dem First Lieutenant Calley gegenüber heraus. Der kam aus einer Familie, in der es kalt, ohne Gefühle herging. »Rusty« war sein Spitzname unter seinen Altersgenossen, die sich auch erinnern, daß Rusty niemals entspannt, nie locker war. Mit 19 bekam er, er rauchte vier Packungen Zigaretten am Tag, ein Magengeschwür. Sein Schicksal interessierte seine Angehörigen nicht. Hotelboy, Tischwäscher, Eisenbahnangestellter war er nacheinander. Er zog eine Weile herum, niemand wußte etwas von ihm, man hielt ihn für tot. 1966 ging er schließlich zur Army. »Er hat immer den großen Mann markiert«, sagen Soldaten, die in Vietnam unter seinem Befehl standen. Ein anderer: »Er war wie ein Kind, das versucht, Krieg zu spielen.« Als Calleys stehende Wendung wird berichtet: »Ich bin der Chef.«
Für Calley wie Medina war das Militär der Versuch, den Hypotheken ihrer Biographie zu entrinnen; der Versuch, doch noch eine Chance zu haben, zu einem Platz in der Gesellschaft, zu Aufstieg und Anerkennung zu kommen. Calley und Medina wollten sich in die Gesellschaft hineinzwingen -- wo Charles Manson resignierte und seine Außenseiterposition zu einer Rolle gegen die Gesellschaft machte.
Die Anklage hat Charles Manson zum Dämon stilisiert. In First Lieutenant Calley hingegen sieht die überwiegende Mehrheit in den Vereinigten Staaten ein Opfer notwendigen militärischen Gehorsams. Daß der eine wie der andere, beide von kleiner Gestalt und der eine so forciert entspannt wie der andere forciert stramm, das Produkt von Anpassungsversuchen sind (denn auch eine erklärte Außenseiterrolle wie die Mansons unterwirft sich Zwängen), sucht man zu ignorieren. Vor Calley stellt man sich, denn Calley hat, so meint man, für seine Mitbürger eingestanden. Manson möchte man dem Abgrund überantworten, dessen Ausgeburt er scheint.
Manson gegenüber ist es notwendig, von Tex Watson zu schweigen; von jenem hochintelligenten College-Mitglied, das aus unerklärlichen Gründen in die Manson-Familie geriet. Tex Watson war zusammen mit den drei mit Manson angeklagten und für »schuldig« befundenen jungen Frauen im Sharon-Tate-Haus und im Haus der La Biancas. Tex Watson, der sich über den Beginn des Manson-Prozesses hinaus in Texas gegen seine Auslieferung an den Staat Kalifornien wehren konnte, ist inzwischen ausgeliefert worden. Nur hat man ihn für geisteskrank befunden und außer Verfolgung gesetzt. Darüber, ob nicht Tex Watson -- ohne Irgendeinen »Befehl« von Manson -- die Einbrüche In die Häuser Sharon Tate und La Bianca zu Blutbädern machte, wird nicht gesprochen, obwohl die Psychose, an der Watson offenbar leidet, eine solche Möglichkeit nahelegt.
Man will auch nicht hören, was Dr. Roger Smith, Mansons letzter Bewährungshelfer, »Life« gesagt bat: daß es viele »Charlies« gibt und Manson nur einer »von Hunderttausenden ist, die aus der seelenzerstörenden Erfahrung des Gefängnisses entlassen werden, auf nichts anderes vorbereitet als darauf, auf die Straße zurückzukehren und die gleichen Verbrechen, nur in größerer Dimension, zu wiederholen«.
Warren Burger, der Chef des Obersten US-Bundesgerichts, hat im vergangenen Jahr von der Katastrophe des amerikanischen Strafvollzugs in einer Weise gesprochen, die wenige von diesem konservativen Mann erwartet hatten. »Laßt uns aufhören, Sonntagschristen zu sein«, appellierte Warren Burger und forderte einen Strafvollzug, der nicht mehr das Rekrutierungsbüro der amerikanischen Kriminalstatistik ist. Die Zeitungen und Zeitschriften der Staaten haben diesen Appell aufgegriffen, Selbstkritik ist ohne Schonung geübt worden.
Was davon jedoch schlägt durch, dringt ein und setzt etwas in Bewegung? Etwa im März wird in San Rafael, im Norden von San Francisco, die Hauptverhandlung gegen Angela Davis beginnen, gegen die farbige Philosophie-Dozentin, die dieser Tage 27 Jahre alt wurde. Neben ihr wird sich Ruchell Magee zu verantworten haben, jener farbige 31jährige Insasse des Zuchthauses San Quentin, der als einziger Gefangener den Befreiungsversuch am 7. August 1970 überlebte, bei dem der Farbige Jonathan Peter Jackson in eine Gerichtssitzung eindrang -- mit Waffen, die mit Hilfe von Angela Davis beschafft worden sein sollen,
Amerikas weiße Mehrheit ist davon überzeugt, daß Angela Davis in aller Welt für das verurteilt würde, was die Anklage ihr vorwirft. Für die Farbigen der Staaten ist Angela Davis die Heilige Johanna Ihres Freiheitskampfes. Während die einen davon sprechen, es werde nichts als die strengste Gerechtigkeit walten, wird für die anderen ein Schauprozeß vorbereitet.
Es beunruhigt hinsichtlich des bevorstehenden Prozesses gegen Angela
* Aus »L"Express«.
Davis wiederum die Manier, in der in Los Angeles Charles Manson und seine Mitangeklagten juristisch exekutiert wurden, und die Verdrängungsaktion, mit der sich das amerikanische Bewußtsein My Lais zu entledigen im Begriff steht. Was einen angeklagten Tatbestand und Täter mit der Nation verbindet, die über ihn richtet, wird derzeit in den Vereinigten Staaten vom Strafprozeß so gründlich abgedeckt, daß nur sichtbar bleibt, was die Nation von der angeklagten Tat und dem angeklagten, mutmaßlichen Täter trennt: was die Nation Ihrer Mitverantwortung entledigt.
Wer nicht sehen will, daß ein Offizier wie Calley genauso das Ergebnis von kapitalen Defekten des Systems sein kann wie ein Charles Manson, wer den einen entlasten muß, um den anderen als Ausgeburt hinwegfegen zu können: Wie soll der etwa der Tatsache Rechnung tragen, daß die Katastrophe des amerikanischen Strafvollzugs seit Menschengedenken und weiterhin niemand so unbarmherzig trifft -- wie Amerikas farbige Bevölkerung?
Der Versuch vom August vergangenen Jahres, aus dem »Mann County Courthouse« von San Rafael farbige Delinquenten mit Gewalt zu befreien, war ein blutiger Gewaltakt, der vier Tote forderte. Doch er war auch eine Explosion, die Generationen von weißen Amerikanern mit Brutalität, Rassendünkel und Unmenschlichkeit vorbereitet hatten. Von der Chancenlosigkeit der Mehrheit der farbigen Bevölkerung, ihrer Armut, von all dem, was sie in einen Teufelskreis, in die Kriminalität und damit in den Strafvollzug und aus diesem heraus wieder in die Kriminalität und also meist endgültig in den Strafvollzug bringt: Wird davon auch im Prozeß gegen Angela Davis und Ruchell Magee die Rede sein? Es gibt Taten, die nicht als Taten schlechthin abgeurteilt werden können; Taten, die in ihrem sozialen Zusammenhang gesehen werden müssen, wenn gerecht über sie geurteilt werden soll.
Im Manson-Prozeß In Los Angeles geht es jetzt noch um das Strafmaß, um Todesstrafe oder lebenslange Haft. Die Anklage wird Zeugen und Vorwürfe nachschieben, und sie kann das nach Verfahrensregeln, die nur noch den Staat, nicht aber mehr das Recht garantieren. Noch einmal wird die Jury sprechen. Daß sie sich für die Gaskammer entscheidet, wer wagt daran zu zweifeln?
Über das Volksgericht In der Nationalversammlung von Conakry hat man sich auch in den Staaten entrüstet, genauso wie man derzeit die Judenverfolgung in der Sowjet-Union in Diskussionen, Artikeln und Aufrufen behandelt. Wir, die wir gegen die Mörder von Lebach in einer Kongreßhalle verhandelten, sollten uns nicht darüber erheben. Die Krise, die im amerikanischen Strafprozeß sichtbar wird, ist auch anderer Leute Krise: die Krise einer ganzen Welt, die darauf besteht, hinter ihrer Erkenntnis zurückzubleiben und ihre Mitverantwortung für alles und jedes, für Mord vor allem, hartnäckig weiter zu leugnen.