POLEN / ODER-NEISSE-GRENZE Das große Tabu -
Seit 16 Jahren gibt es in Europa kaum eine Grenze, die so scharf bewacht wird, so häufig in den Schlagzeilen der Weltpresse erscheint und so schwierig zu passieren ist wie die 456 Kilometer lange Grenzlinie an Oder und Neiße.
Stacheldrahtzäune, Wachttürme und schwerbewaffnete Grenzpolizisten sichern jene Linie, hinter der die ehemaligen Ostprovinzen des 1945 zerschlagenen Deutschen Reiches liegen; sie beginnt an der Ostsee bei Swinemünde, erreicht südlich von Stettin die Oder, halbiert die Städte Frankfurt, Guben und Görlitz, folgt der Lausitzer Neiße und endet schließlich bei Zittau an der tschechischen Grenze.
Kaum eine Woche verstreicht, ohne daß amerikanische Senatoren, britische Publizisten, französische Parlamentarier oder dunkelhäutige Uno-Diplomaten für den Bestand dieser Grenze plädieren, weil sie auf diese Weise inmitten der Berlin-Krise die politische Spannung in Europa zu mildern hoffen, während Polens Regierung von Zeit zu Zeit verkündet, daß jeder Versuch zur Veränderung der Oder-Neiße -Grenze den Ruf nach Krieg bedeutet«.
Seit den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs haben Millionen Deutsche die Oder-Neiße-Linie als Flüchtlinge, Heimatvertriebene oder Umsiedler auf ihrem Weg nach Westen überquert. In der gleichen Zeit suchten Millionen Polen, die als »Repatrianten« aus den an die Sowjet-Union verlorenen polnischen Ostgebieten kamen, in den vom Kriege verwüsteten, ausgeplünderten Dörfern und Städten Ostdeutschlands eine neue Heimat.
114 296 Quadratkilometer - ein Gebiet doppelt so groß wie die Schweiz - wechselten damals den Besitzer; davon fielen 102 985 Quadratkilometer an Polen, der Rest an die Sowjet-Union. Deutschland büßte ein Viertel seines Bodens ein.
Selten hat ein Landstrich in anderthalb Jahrzehnten solche tiefgreifenden Veränderungen erfahren: 8,8 Millionen-Deutsche wurden vertrieben; 7,7 Millionen Polen traten an ihre Stelle - unter ihnen noch heute 900 000 »Autochthone« (zu deutsch: Ureinwohner), die ihre deutsche Staatsbürgerschaft gegen die polnische eintauschten.
Wo 1945 vier Fünftel der Äcker unbestellt blieben, drei Viertel aller Fabriken zerstört waren, die Hälfte der Wohnhäuser in Trümmern lag und kaum ein Rind oder Schwein, ein Fahrrad oder Klavier dem Russensturm entging, herrscht heute volksdemokratische Ordnung und sogar bescheidener Wohlstand.
Acht polnische Wojewodschaften ersetzten die alte deutsche Verwaltungsgliederung. Über 11 000 Ortschaften, Berge und Flüsse erhielten polnische Namen. Die Geschichte Schlesiens, Pommerns und Ostpreußens wurde von polnischen Historikern neu geschrieben.
Breslau wurde zu Wroclaw, Stettin zu Szczecin, Allenstein zu Olsztyn. Der polnische Teil von Görlitz heißt heute Zgorzelec, und die polnische Hälfte Gubens nennt sich Gubin; dort gibt es allerdings eine Wilhelm-Pieck-Straße, weil Anno 1876 in der damaligen Königstraße 28 der spätere kommunistische Landesvater der DDR geboren wurde.
Heute trennt die Oder-Neiße-Linie zwei verbündete Staaten des sozialistischen Lagers, die »Deutsche Demokratische Republik« Walter Ulbrichts und das Polen Wladyslaw Gomulkas, doch gibt es bislang keinen kleinen Grenzverkehr, keine Freizügigkeit wie zwischen den verbündeten Ländern Westeuropas.
Wer diese Grenze überschreiten will, braucht ein Visum aus Warschau oder Ostberlin, sofern er nicht mit einer offiziellen Partei- oder Gewerkschaftsdelegation reist, die im Nachbarland Besuch macht.
Einmal im Jahr öffnen sich die Schlagbäume zu pompösen »Freundschaftstreffen«. Dann flattern polnische und deutsche Fahnen einträchtig nebeneinander, leuchten rote Spruchbänder, drängen sich die Parteifunktionäre ans Mikrophon, während die Stiefel der DDR-Volksarmee zu Ehren polnischer Gäste auf das Pflaster knallen.
Der 6. Juli, der Jahrestag des Görlitzer Abkommens von 1950, das die Unterschriften des polnischen Regierungschefs Cyrankiewicz sowie des DDR-Ministerpräsidenten Grotewohl trägt und die Oder-Neiße-Linie zur endgültigen Staatsgrenze zwischen Polen und Deutschland« erhebt, wird stets mit gebührendem KP-Zeremoniell gefeiert.
»Aus der Friedenspolitik der DDR ergibt sich«, versicherte Grotewohl bei solchem Anlaß, »daß die Oder-Neiße -Grenze als dauerhafte und unverrückbare Friedensgrenze betrachtet wird.«
Und Polens Parteisekretär Gomulka dankte den Pankower Genossen: »Zum ersten Male haben wir einen deutschen Staat zum Nachbarn, in dem wir keine Bedrohung, sondern im Gegenteil eine der wichtigsten Garantien unserer Freiheit erblicken.«
Trotz solcher Beteuerungen blieb die deutsch-polnische »Friedensgrenze« bis heute militärisch bestückt und völkerrechtlich ein Provisorium, das Polens Chefpolitiker Gomulka durch eine konsequente Polonisierungspolitik in den neuerworbenen Gebieten auszumerzen sucht.
Die Siegermächte - Amerikaner und Briten auf der einen, die Sowjetrussen auf der anderen Seite - hatten 1945 zu Potsdam ihre Uneinigkeit über den Grenzverlauf mit dem Satz kaschiert: »Die Chefs der drei Regierungen bekräftigen ihre Auffassung, daß die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zur Friedenskonferenz zurückgestellt werden soll.«
Die große Friedenskonferenz blieb aus, weil der Kalte Krieg die einstigen Sieger entzweite. Jener eine Satz aber aus Teil IX des Potsdamer Abkommens, an den sich die Rückkehrhoffnungen der Vertriebenen klammerten, wurde seither Angelpunkt und schließlich Bremsklotz westdeutscher Ostpolitik: Er wurde zum großen Tabu, das die Bundesrepublik bis heute daran hinderte, diplomatische Beziehungen zu Polen aufzunehmen.
Mehr noch: Er ermöglichte es den Westmächten, als sie den westdeutschen Teilstaat in ihr Bündnissystem einbezogen, eine höchst unverbindliche, vordergründige Interessengleichheit mit deutschen Revisionswünschen zu demonstrieren.
Das Potsdamer Provisorium wurde Bestandteil des Deutschland-Vertrags von 1954, dessen Artikel 7 besagt: »Die Bundesrepublik und die drei Mächte (USA, Großbritannien, Frankreich) sind darüber einig, daß ... die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zur (frei vereinbarten) friedensvertraglichen Regelung aufgeschoben werden muß.«
Diese Formulierung blieb bis heute offizielle Politik in den Außenministerien der Nato-Mächte, obschon sich Politiker und Publizisten des Westens um so weiter davon entfernten, je mehr Nikita Chruschtschow seit Herbst 1958 die Berlin-Krise anheizte und je düsterer damit die Gefahr eines nuklearen Krieges heraufstieg.
Als Polen Mitte 1960 in gleichlautenden Noten an die Nato-Verbündeten der Bundesrepublik die »verstärkte Revanche-Hetze im Adenauer-Staat« beklagte und eine Garantie der Oder -Neiße-Grenze forderte, antworteten 13 Mächte zwar mit dem stereotypen Hinweis auf das Potsdamer Abkommen.
England aber fügte hinzu, es habe »keine Verpflichtungen zur Unterstützung deutscher (Gebiets-)Ansprüche« übernommen. Und über Frankreichs Antwortnote, die als einzige unveröffentlicht blieb, berichtete Polens Nachrichtenagentur, die französische Regierung habe »an ihre früher eingenommene Haltung erinnert«.
Diese Haltung hatte Charles de Gaulle des Bonner Kanzlers langer Alliierter, bereits im März 1959 vor 600 Journalisten dargelegt, als er davon sprach, daß Deutschland seine »augenblicklichen Grenzen im Westen, Osten, Norden und Süden nicht mehr in Frage stellen« dürfe. Seitdem häuften sich in der gesamten nichtkommunistischen Welt die Stimmen, die für eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze plädierten.
Das Bonner Außenamt ließ 75 im westlichen Ausland gedruckte Atlanten prüfen und stellte fest, daß nur ein einziger, ein schweizerischer Atlas, den provisorischen Charakter der Oder-Neiße-Linie hervorhob.
Es registrierte betroffen die emsige Tätigkeit der französischen »Gesellschaft zur Verteidigung der Oder-Neiße -Grenze«, die von prominenten Politikern, wie Daladier und Mendès-France, unterstützt wird. Und es vernahm aus Brüssel, daß auch der ehemalige Nato -Generalsekretär und jetzige belgische Außenminister Paul-Henri Spaak zu den Befürwortern einer Oder-Neiße-Anerkennung zählt.
In England traten ehrenwerte Unterhausabgeordnete, pensionierte Generale und Professoren für die Oder-Neiße -Linie ein, und der Deutschland-Chef der Rundfunkgesellschaft BBC resümierte: »95 Prozent aller Briten sind überzeugt, daß nur ein Verzicht Deutschlands auf die Ostgebiete ... dieses angeblich schwerste Problem in den Ost-West -Beziehungen bereinigen würde.«
In den USA machte sich Vizepräsident Richard Nixon, damals noch Anwärter auf die Präsidentenwürde, im Oktober 1960 zum prominentesten Sprecher einer Oder-Neiße-Anerkennung, weil »Polen der größte natürliche Verbündete des Westens unter den kommunistisch beherrschten Nationen ist«.
Über die Haltung des neugewählten US-Präsidenten informierte sich Polens Parteichef Gomulka im Herbst 1960 aus erster Hand, als er in New York an der Uno-Vollversammlung teilnahm.
»Persönlichkeiten, die heute in der Regierung des Präsidenten Kennedy eine hohe Stellung innehaben«, berichtete er einige Monate später über diese Erkundungsgespräche, »erklärten uns damals, Kennedy werde sich ... in der Frage unserer Grenzen ebenso äußern wie de Gaulle das heißt: diese Grenzen endgültig anerkennen.« Gomulka ergänzte: »Bundeskanzler Adenauer weiß über die amerikanische Haltung Bescheid.«
In der Tat hatte die Bundesregierung seit geraumer Zeit »mit Sorge« beobachtet, wie einflußreiche amerikanische Politiker - so der demokratische Senator Hubert Humphrey - öffentlich verkündeten, die USA »prüften wohlwollend« die Anerkennung der Oder-Neiße -Linie.
Die New Yorker Gespräche zwischen US-Außenminister Dean Rusk und seinem sowjetischen Kollegen Andrej Gromyko über die Berlin-Krise lösten schließlich eine solche Welle westlicher Konzessionsfreudigkeit aus, daß Indiens Premier Nehru, prominentester Sprecher der neutralen Mächte, nüchtern konstatierte, die Oder-Neiße-Grenze werde heute »praktisch von jedem anerkannt, einige wollen es nur nicht aussprechen«.
Von dem republikanischen Kongreßabgeordneten Robert F. Ellsworth wurde der Botschafter der Bundesrepublik in Washington, Professor Wilhelm Grewe, Ende September vor Millionen amerikanischer TV-Zuschauer gefragt: »In verschiedenen Kreisen (ist) vorgeschlagen worden, daß wir die De-jure -Anerkennung der Oder-Neiße-Linie (und) die De-facto-Anerkennung Ostdeutschlands ... anbieten, um sowjetische Garantien für die westlichen Rechte in Berlin und den freien Zugang zu erhalten. Wie denken Sie und Ihre Regierung darüber?«
Grewe erwiderte: »Man sollte daran denken, daß diese Konzessionen, oder wie immer man es nennen mag, grundsätzliche Elemente unserer Politik sind und viele Jahre lang gewesen sind. Ich meine die Nichtanerkennung der gegenwärtigen Grenzen Deutschlands, die Nichtanerkennung Ostdeutschlands als eines separaten Staates. Das war nicht nur deutsche Politik, das war die gemeinsame Politik des Westens.«
»Wenn man nun diese beiden Punkte als Konzession in künftigen Verhandlungen anbietet«, präzisierte der Botschafter, »dann muß man sich bewußt sein, daß man damit etwas anbietet, was in unseren Abmachungen über die Allianz des Jahres 1954 sehr fundamental war.«
Das Fernsehgespräch Grewes mit dem republikanischen Kongreßabgeordneten ließ keinen Zweifel daran, daß Bonn der Ansicht war, die politische Entwicklung habe nun einen Punkt erreicht, an dem die Bundesregierung an die Vertragstreue ihrer westlichen Bündnispartner appellieren müsse.
Mit anderen Worten: Nicht nur die De-facto-Anerkennung der DDR, auch die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die drei Westmächte oder die Bundesrepublik - vor Abschluß eines Friedensvertrags für ganz Deutschland - setzt eine Revision der Pariser Verträge von 1954 voraus.
Diese Revision ist - laut Artikel 10 des Deutschland-Vertrags - nur möglich im Falle der deutschen Wiedervereinigung oder der Bildung einer europäischen Föderation oder aber »irgendeines anderen Ereignisses, das nach Auffassung aller Unterzeichnerstaaten von ähnlich grundlegendem Charakter ist«.
Der Vertragstext legt also die formelle Entscheidung in die Hand der Bonner Regierung - da die Bündnispartner Westdeutschlands eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze mehr oder weniger offen befürworten -, ob die Berlin-Krise ein »Ereignis von grundlegendem Charakter« ist, das Vertragsrevision und Grenzanerkennung rechtfertigt.
Als Gomulka diese juristischen Komplikationen erkannte, änderte er seine Taktik. Er wollte die Oder-Neiße-Anerkennung nicht als Zugabe eines west östlichen Berlin-Kompromisses einhandeln. Er wünschte auch nicht, den Westdeutschen ihr - in diesem Falle wertloses - Ja zu Polens Westgrenze unter dem Alpdruck eines Atomkriegs abzupressen, der sich an Berlin zu entzünden drohte.
»In unseren Augen ist die Anerkennung der polnischen Grenzen nicht so wichtig«, versicherte der Parteichef Mitte Oktober in einem Interview mit dem Pariser Weltblatt »Le Monde«, »weil niemand in der Lage ist, sie zu verändern; sie werden vom sozialistischen Lager eindeutig garantiert.«
Gomulka ergänzte: »Wenn wir trotzdem um die Anerkennung dieser Grenzen kämpfen dann um den Chauvinisten in der Bundesrepublik die Möglichkeit zu nehmen, unter der deutschen Bevölkerung den Revanchegeist zu schüren.«
Für die Deutschen hielt Polens Chefpolitiker einen indirekten Trost parat: »Ein Drittel des ehemals polnischen Territoriums ist zugunsten Weißrußlands und der Ukraine abgetrennt worden, doch niemand in Polen macht sich um dies Problem Sorgen ... Das polnische Volk ist der Meinung, daß dies eine gerechte Lösung ist.«
Das ist es: Wladyslaw Gomulka, 56, Erster Parteisekretär und seit 1956 anerkannter Führer Polens, der seinen Widerstand gegen den Stalin-Kurs mit vier harten Kerkerjahren bezahlte (siehe Kasten Seite 57), möchte den Deutschen suggerieren, ihre territorialen Verluste, die historisch unauflöslich mit den polnischen verbunden sind seien »gerecht« und »unvermeidlich«.
Gomulka hofft, die völkerrechtliche Anerkennung der umstrittenen Grenzen werde am Ende doch das Resultat eines allmählichen politischen Umdenkens in der Bundesrepublik sein.
Der Parteichef will von den Westdeutschen keine zweite Kapitulation. Im Gegenteil, er glaubt an eine Aussöhhung, an einen freiwilligen Verzicht - und sei es auch erst in der nächsten Generation -, weil das Land im Osten für die Deutschen ohnehin unwiederbringlich verloren ist. Aber er weiß, daß ein solcher Prozeß seine Zeit braucht.
1946 zitierte Gomulka, damals nicht nur Erster Parteisekretär und stellvertretender Ministerpräsident, sondern auch »Minister für die wiedergewonnenen Gebiete«, noch das Stalin-Wort: »Die Geschichte lehrt, daß die Deutschen es verstehen, ihre Kräfte rasch wieder zu regenerieren. Zwanzig Jahre genügen, um Deutschland von neuem stark zu machen, so daß es uns mit Krieg bedroht.«
Damals fühlte sich Gomulka im Wettlauf mit der Zeit, denn die Polonisierung der neuerworbenen Gebiete mußte abgeschlossen werden, ehe sich in Deutschland der Geist der Revanche erhob, den er heute in der zu einer führenden Wirtschaftsmacht aufgestiegenen und wiederbewaffneten Bundesrepublik am Werke sieht. Deshalb forderte er von den Siegermächten, alles zu tun, »was zur Schwächung der besiegten Deutschen beiträgt, (denn das) erhöht die Beständigkeit des Friedens«.
Heute ist die Polonisierung nahezu vollendet; heute ist Breslau tatsächlich Wroclaw und das ehemals ostpreußische Allenstein das polnische Olsztyn. Wenn es den Deutschen jetzt gelingt, ihren eigenen Chauvinisten den Mund zu stopfen, ist - wie Gomulka meint - der Weg, für eine Versöhnung frei.
Gomulka hat es verstanden, die Erschließung des früheren deutschen Ostens, der durch die Laune der Siegermächte zum polnischen Westen werde, zur großen nationalen Aufgabe der polnischen Nation zu machen, mit der er sein eigenes Prestige verband und mit der er von den noch größeren verlorenen polnischen Gebieten im Osten ablenkte.
»Vor unserer Generation stehen jetzt Aufgaben, die für ganze Jahrhunderte das Schicksal unseres Vaterlandes ... entscheiden werden« spornte er 1945 seine Landsleute an. Unsere Zukunft liegt in den Westgebieten!«
Der Mann, der pünktlich die Züge mit deutschen Vertriebenen in das geteilte Deutschland rollen ließ, der Millionen seiner Volksgenossen aus den von der Sowjet-Union okkupierten Gebieten in die zertrümmerten ostdeutschen Städte hineinpreßte und Hunderttausende dumpfer Bauern, Altpolens mit Weib, Roß und Wagen nach Westen ziehen hieß, wußte genau: Diese Aufgabe ist nicht mit marxistischen Lehrsätzen zu meistern, nicht mit schematischer Kollektivierung der Landwirtschaft, nicht malt grimmigem Kirchenkampf, nicht mit der Ausschaltung der bourgeoisen Intelligenz.
Drei Jahre ließ man Gomulka gewähren, dann wurde er der Moskauer Zentrale zu unabhängig und den Stalinisten im eigenen Lande verdächtig, weil er mehr Nationalist als Kommunist zu sein schien. 1948 wurde er seiner Parteiämter enthoben, 1949 aus der Regierung entfernt und schließlich 1951 verhaftet.
Die Verurteilung seiner die kommunistische Doktrin mißachtenden Polonisierungspolitik in ehemals deutschen Osten sprach Polens damaliger stellvertretender Ministerpräsident Dworakowski aus: »Voll Haß gegenüber der Sowjet-Union leitete er (Gomulka) eine Aktion, durch die unsere Arbeitermassen für die Bourgeoisie und die Großgrundbesitzer gewonnen werden sollten.«
Den Männern, die nach ihm acht Jahre lang in Polens Westgebieten kommandierten, schien das halb menschenleere Land ein ideales Feld für kommunistische Experimente zu sein.
Der zentrale, in Warschau ausgearbeitete Plan begünstigte einige riesige schwerindustrielle Kombinate und einige zu Renommierzwecken im alten Stil wiederaufgebaute Städte wie Breslau oder Danzig. Die Masse der Neubauern wurde, kaum des eigenen Besitzes froh, in 5033 Kolchosen gezwängt, während die Zahl der ständig mit Verlusten arbeitenden Staatsgüter auf 4189 anschwoll.
Die Wirkung dieser Politik konnte nicht ausbleiben: Zehntausende von Neubauern ließen ihre von den Deutschen übernommenen Höfe im Stich und suchten in den zerstörten Städten Unterschlupf.
Die kaum besiedelten Dörfer leerten sich. In den überfüllten Städten aber verfielen Tausende von Wohnhäusern, Werkstätten und Kleinbetrieben, weil die Planbürokratie sie vergessen hatte.
Das riesige Planungsamt in Warschau, mit Scharen von Wirtschaftlern und Beamten in Stärke von etwa zwei Infanteriedivisionen, setzte zwar die Produktionsziffern der Landwirtschaft und aller Industriezweige fest, schrieb den Fabrik- und Grubendirektoren, den Leitern der Staatsgüter und Traktorenstationen vor, was sie zu tun hätten, aber die Planer dachten kaum an die Dachziegel, die Bretter und Schraubenz die nötig gewesen wären, um in den Gebieten an Oder und Neiße Wohnungen auszubessern und verwahrloste Mittel- oder Kleinbetriebe wieder in Gang zu bringen.
In jenen Jahren entstanden die zahllosen Berichte und Bücher, die bis heute die Vorstellungen des bundesdeutschen Durchschnittsbürgers vom verlorenen Land im Osten beherrschen. »Polen hat dieses wundervolle Land nicht voll genutzt«, schrieb damals der britische »Guardian«. »Es kann diese Gebiete nicht bevölkern.«
Und Charles Wassermann, in Kanada ansässiger Sohn des Dichters Jakob Wassermann, klagte noch 1957 nach einer langen Sommerreise durch den früheren deutschen Osten: »Dieses Land sinkt wieder in seinen Urzustand zurück. Weit, wahrhaftig weit ist dieser Verfall schon fortgeschritten.«
Triste Berichte polnischer Zeitungen, die in Westdeutschland eifrig gesammelt und publiziert wurden, verstärkten noch das düster Bild von der Versteppung und Verwahrlosung der Ostgebiete. Das trug nicht wenig dazu bei,
die Rückkehrhoffnungen eines Teils der Heimatvertriebenen zu konservieren.
Von späteren Veränderungen nahm die westdeutsche Öffentlichkeit so wenig Notiz, daß noch vor wenigen Wochen ein ehemaliger deutscher Gutsbesitzer, der seinen früheren Besitz in Schlesien besucht hatte, der »Frankfurter Allgemeinen« voller Überraschung schrieb: Ich hatte mir verkommene Äcker vorgestellt, Felder, auf denen sich Unkraut und Unterholz angesammelt hat, wie ich das mehrfach in Berichten las. Aber die Felder stehen gut, und jedes Fleckchen Erde ist ausgenutzt.«
Diese Wandlung in den verlorenen deutschen Ostgebieten - Polens Wirtschaftswunder - ist das Werk Gomulkas, der drei Jahre nach Stalins Tod rehabilitiert wurde und im Herbst 1956 zum zweiten Male die Macht übernahm.
Polens Parteichef, vor 25 Jahren auf der Moskauer Komintern-Hochschule zum orthodoxen Kommunisten gedrillt, wandte dabei Methoden an, die östliche Beobachter schockierten.
- Gomulka benutzte das zum erstenmal ungeteilt unter polnischer Hand vereinte Industrierevier zwischen Breslau, Oppeln, Kattowitz und Krakau, um Polen über die Schwelle vom Agrar- zum Industriestaat zu stoßen.
- Er gab Polens Bauern ihr Eigentum
an Grund und Boden zurück, hob damit ihre Arbeitsfreude und zugleich die landwirtschaftliche Produktion.
- Sein Dezentralisierungsgesetz zerstörte die Vorherrschaft der Planbürokratie und verschaffte in Kreisen, Städten und Dörfern der Privatinitiative freien Spielraum.
- Er gewann die katholische Kirche
Polens, der 96 Prozent der Bevölkerung angehören, für die große Landnahme im Westen und beseitigte damit das Gefühl der Unsicherheit und Unrechtmäßigkeit, das viele polnische Neusiedler jahrelang belastet hatte.
- Der Parteichef demokratisierte das Regime, beseitigte den Polizeiterror und vergrößerte das Maß persönlicher Freiheit, so daß Polens Bevölkerung neue Hoffnung schöpfte Resultat: ein Baby -Boom, der es aussichtslos erscheinen läßt, die Polonisierung des früheren deutschen Ostens jemals rückgängig zu machen.
Die Erfolge dieser Politik, von denen in der Bundesrepublik kaum berichtet wurde, sprechen für sich: Das südpolnische Industrierevier zwischen Breslau und Krakau mit seinen neun Millionen Einwohnern, die etwa einem Drittel der polnischen Bevölkerung
(29,7 Millionen) entsprechen, hat den Ehrgeiz, dem westdeutschen Ruhrgebiet ebenbürtig zu werden.
Schon heute wird dort Polens gesamte Steinkohle gefördert (1960: 104,4 Millionen Tonnen) und 90 Prozent seines Rohstahls (6,7 Millionen Tonnen) produziert. Fast die Hälfte aller polnischen Industriearbeiter ist im Revier beschäftigt**.
Gemessen an polnischen Vorkriegszahlen hat sich die Industrieproduktion Polens dank der Angliederung Schlesiens nahezu verachtfacht***, während die landwirtschaftliche Erzeugung nur um ein Viertel zunahm.
In den früheren deutschen Ostgebieten hat die Industrieproduktion 1959 zum ersten Male den deutschen Vorkriegsstand erheblich überschritten, die Hektar-Erträge der Landwirtschaft haben etwa Vorkriegshöhe erreicht (siehe Graphik Seite 64).
Zwischen 1956 und 1960 stieg die polnische Agrarproduktion um insgesamt 20 Prozent. Dieser Fortschritt wäre kaum möglich gewesen, hätte nicht Gomulka die Kollektivierung der Landwirtschaft rückgängig gemacht und den bäuerlichen Privatbesitz wiederhergestellt, denn im gleichen Zeitraum - so meldete das polnische Wirtschaftsblatt »Zycie Gospodarcze« - errechneten die subventionierten Staatsgüter nur einen Produktionszuwachs von 10,3 Prozent.
Von den 4942 Kolchosen Altpolens überstand nur jede vierte den revolutionären Herbst des Jahres 1956; in den Gebieten an Oder und Neiße blieben von 5033 Kolchosen gar nur 219 übrig.
Heute werden 86,8 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche wieder von Einzelbauern bewirtschaftet, 12 Prozent von den Staatsgütern und nur 1,2 Prozent von Kolchosen.
Heute haben die polnischen Oder -Neiße-Kolonisatoren auch die Gewißheit, Herr auf eigenem Boden zu sein. Der Parteichef verfügte die Eintragung des neuen Besitzstandes in die Grundbücher, die in Polen »Ewige Bücher« heißen. Damit garantiert der kommunistische Staat das bäuerliche Eigentum.
Seitdem entstehen in den Dörfern wieder neue Scheunen, Ställe und Silos ohne staatliches Zutun, ja sogar der Viehbestand wächst.
Bürgermeister und Landräte sorgten gleichzeitig dafür, daß Hunderte von stillgelegten und verwahrlosten, ehemals deutschen Betrieben wieder flott wurden. Seit Gomulkas Dezentralisierungsgesetz erging, unterstehen die Konsumgüter-, die Lebensmittel- und die Bauindustrie nicht mehr dem zentralen Planungsamt, sondern den lokalen Behörden.
Solche Erfolge wären freilich unmöglich gewesen, hätte Gomulka nicht seinen Frieden mit der Kirche gemacht, deren nationalbewußter Klerus die polnische Landnahme im Westen guthieß und nach Kräften unterstützte.
»Unsere Rückkehr in die Westgebiete ist ein Akt historischer Gerechtigkeit«, versicherte die mit bischöflichem Imprimatur erscheinende Warschauer Theologenzeitschrift »Homo Dei«. »Die Oder-Neiße-Grenze ist endgültig und unverletzlich.«
Und Polens katholischer Primas Stefan Kardinal Wyszynski predigte Ende September 1960 höchst erzürnt gegen »den feindseligen Menschen (Adenauer), der aus dem fernen Westen Drohungen gegen unsere Heimaterde und unsere Freiheit schleudert«.
Der katholische Kanzler hatte kurz zuvor, bereits auf Stimmenfang bedacht, den protestantischen Ostpreußen mit rheinischem Zungenschlag versprochen, ihnen würde eines Tages »ihr schönes Heimatland wiedergegeben (werden), wenn wir treu und fest zu unseren Verbündeten stehen«.
Polens Kardinal aber wetterte vor seinen Gläubigen: »Schaut nur ... Es blieb keine Spur von ihnen (den Deutschen), und auf der Erde unserer Vorväter, die uns mit Gewalt entrissen worden war, hat Gott den goldenen Weizen eurer Herzen gesät.«
Solchen goldenen Worten vermochte Gomulka nur beizupflichten. »Es würde Adenauer leichter fallen zu beantworten, welchem Geschlecht die Engel angehören«, spöttelte er vor der Uno -Vollversammlung, »als eine Antwort auf die Frage zu finden, wie er glaubt, Polen ohne ein Messer abstechen zu können.«
Trotz dieser nationalen Übereinstimmung zwischen KP-Chef und Kardinal gelang es allerdings bisher weder der polnischen Regierung noch dem Primas von Polen, den Vatikan umzustimmen, der bis heute - jahrhundertelanger Übung folgend - die Grenzverlegung im Osten ignoriert und an den alten Bistumsgrenzen festhält, wie auch das »Päpstliche Jahrbuch« für 1960 beweist.
Allerdings entschloß sich der Heilige Stuhl 1956 zu einem bemerkenswerten Kompromiß, um den von Gomulka aus der Haft befreiten Kardinal bei seinem Arrangement mit dem KP-Regime zu stützen
Der Papst ernannte fünf polnische Weihbischöfe, die seitdem in Danzig, Breslau, Allenstein, Oppeln und Landsberg amtieren, erklärte jedoch ausdrücklich, daß dies »nicht als ein Schritt, auch nicht als ein erster Schritt zur Anerkennung der polnischen Souveränität« über die ehemals deutschen Ostprovinzen anzusehen sei.
Zuvor hatten apostolische Administratoren in den verwaisten Bischofssitzen residiert. Auch die jetzigen Oberhirten sind nach kirchlichem Recht nichts anderes, aber sie führen wenigstens den Bischofstitel, ohne es de jure zu sein.
Den polnischen Gläubigen, die endlich Mitra und Krummstab in Ihren Kathedralen sehen, mag solche Spitzfindigkeit gleichgültig sein. Ein polnischer Bischof in Breslau gilt ihnen ebensoviel wie ein Bischof von Breslau.
Gomulkas Arrangement mit dem Primas der polnischen Kirche, die an der
Polonisierung des einstigen deutschen Ostens ihr Wohlgefallen hatte, weil damit zugleich die protestantische Ketzerei an Boden verlor, war für den Erfolg des KP-Chefs an Oder und Neiße ebenso entscheidend wie die bedingte Rückkehr zum Privateigentum und die Beseitigung des Terrors: Es gab den Untertanen Gomulkas, die ja zugleich Wyszynskis Kirchgänger sind, das Gefühl der Rechtschaffenheit.
Was die Kirche billigte, konnte nicht falsch sein, mochten auch die kapitalistischen Mächte des Westens im Bunde mit den Deutschen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze bisher verweigern.
Dieses Gefühl spiegelt sich auch in den Geburtenziffern, die heute in den neuerworbenen Gebieten weit höher sind als in Altpolen*. Täglich werden an Oder und Neiße 500 polnische Kinder geboren. Schon heute, 16 Jahre nach der Grenzänderung, macht die im früheren deutschen Osten geborene Nachkriegsgeneration 36,4 Prozent der Bevölkerung in diesen Gebieten aus.
Polens Statistiker beweisen das. Nach ihren Zahlen lebten 1960 in den westlichen, ehemals deutschen Gebieten:
- 2,8 Millionen nach 1945 dort geborene polnische Kinder,
- 2,18 Millionen Neusiedler aus Altpolen,
- 1,45 Millionen Umsiedler aus den an die Sowjet-Union abgetretenen ostpolnischen Gebieten,
- 900 000 Autochthone,
- 200 000 zwischen 1955 und 1958 aus
Rußland repatriierte Polen,
- 170 000 Polen, die nach 1945 aus dem Westen nach Polen zurückkehrten.
Von diesen insgesamt 7,7 Millionen Menschen gehören also nur noch 11,7 Prozent zur ursprünglich ortsansässigen Bevölkerung - die 900 000 Autochthonen. Nach polnischer Sprachregelung handelt es sich dabei um die in Oberschlesien und im südlichen Ostpreußen lebende polnische Minderheit im einstigen Deutschen Reich**, nach Ansicht westdeutscher Experten um Deutsche, die freiwillig oder unter Zwang die polnische Staatsbürgerschaft annahmen.
Wie fragwürdig die wirkliche Volkszugehörigkeit dieser Autochthonen ist, zeigt eine polnische Statistik aus dem Jahre 1946. Damals gab es in den Ostgebieten noch 2,1 Millionen Deutsche, die bald darauf ausgesiedelt wurden, aber auch 1,2 Millionen Autochthone. Fast ein Drittel dieser »Ureinwohner«, deren Kinder im Gegensatz zur anerkannten deutschen Minderheit keine deutsche Schule besuchen dürfen, benutzten jedoch die sogenannte Familienzusammenführung, um in den Jahren 1956 bis 1958 ebenfalls nach Deutschland abzuwandern.
Die Flut dieser Aussiedlungsanträge, die auch heute noch nicht alle erledigt sind, überraschte damals die polnischen Behörden und führte zu lebhaften Klagen in der polnischen Presse, weil es sich bei den Abwanderern meist um wertvolle Arbeitskräfte handelte.
»Der Terror gegenüber den Autochthonen«, klagte die Zeitschritt »Nowa Kultura« im Herbst 1956, »wurde begünstigt durch die 'ideelle' Abneigung der zugezogenen Bevölkerung gegenüber den 'Schwaben' sowie das weniger ideelle Interesse vieler Siedler am rücksichtslosen Hinauswerfen der Einheimischen aus ihren Häusern und Höfen.«
Die schwindende (oder bereits geschwundene) deutsche Minderheit stellt jedoch für das Gomulka-Regime kein Problem mehr dar, denn in wenigen Jahren werden in Schlesien, Pommern und Ostpreußen bereits Kinder zur Welt kommen, deren polnische Eltern ebenfalls im früheren deutschen Osten geboren wurden.
Damit wird das »Recht auf Heimat«, das in der »Charta der Heimatvertriebenen« im August 1950 feierlich verkündet wurde, zu einem Bumrang: Bald werden mehr junge Polen als alte Deutsche in ihren Personalausweisen als Geburtsort Stettin, Allenstein oder Breslau stehen haben.
Bald werden auch, so haben polnische Statistiker aufgrund des großen Geburtenüberschusses errechnet, der Polens Bevölkerung jährlich um 500 000 Köpfe zunehmen läßt, mehr Polen im früheren deutschen Osten wohnen, als jemals Deutsche dort gelebt haben.
Heute siedeln an Oder und Neiße 76 Menschen auf dem Quadratkilometer (Altpolen: 96), wo früher 84 lebten. Für 1975 aber erwarten die Statistiker 10,3 Millionen Menschen anstelle der 8,8 Millionen unter deutscher Herrschaft.
Ist das erreicht, hat Wladyslaw Gomulka dem kleineren Polen (311 730 Quadratkilometer statt der 388 634 der Vorkriegszeit) eine große Zukunft erschlossen: Der deutsche Osten wurde polnisch. Altpolen und das einstige Neuland bilden ein untrennbares Ganzes. Durch diese Entwicklung wurde Polen zugleich »verwestlicht«, es liegt nun fast zur Hälfte auf dem Boden des alten Deutschen Reiches von 1914.
Parallel dazu verläuft die Entwicklung in der Bundesrepublik: Die Schlesier, Pommern und Ostpreußen sind in die westdeutsche Bevölkerung eingegliedert; auch ihre Kinder sind bereits zu einem großen Teil im Westen geboren. Wirtschaftliche, soziale, landsmannschaftliche Unterschiede zwischen Einheimischen und Vertriebenen haben sich abgeschliffen. Schon 1958 wählten 66 Prozent aller Vertriebenen Einheimische zu Ehegatten. Die Vertriebenenpartei (DP/BHE) errang bei den letzten Bundestagswahlen kein einziges Mandat. Der Bonner Vertriebenenminister wird bald der letzte Berufs-Vertriebene in Westdeutschland sein.
Das »Recht auf Heimat« ist längst bloße Deklamation geworden: Höchstens eine Million Menschen, so schätzen Experten, wären tatsächlich bereit, in den Osten zurückzukehren. Täten sie das, so hätte eine solche Abwanderung
böse Folgen für den deutschen Arbeitsmarkt. Was übrigbleibt, ist demnach ein theoretischer Gebietsanspruch, der von Jahr zu Jahr völkerrechtlich fragwürdiger werden muß.
Nur einer hat dies bei Kriegsende so brutal und nüchtern vorausgesehen, ja, vorausgeplant - Josef W. Stalin, Rußlands toter und nach dem Tode gestürzter Diktator. Aber auch er erwartete nicht, daß Polens roter Nationalist Gomulka andere, völlig unstalinistische Methoden anwenden würde, um das 1945 im Kreml anvisierte Ziel zu erreichen und zu umgehen.
Das Polen-Konzept, das Stalin seinen westlichen Alliierten bei Kriegsende aufzwang, war recht einfach:
- Die Sowjet-Union behielt jene 180 000
Quadratkilometer ostpolnischen Bodens, die ihr Hitler und Ribbentrop zugestanden hatten, weil Stalin - wie er sagte - »die ethnographisch richtigen Grenzen von 1939« nicht aufgeben wollte; das wurde von US-Präsident Roosevelt und Briten-Premier Churchill bereits im Februar 1945 in Jalta zugestanden.
- Polen sollte mit Zustimmung der
Westmächte auf Kosten des besiegten Deutschen Reiches territorial entschädigt werden; Stalins Vorschlag, die Oder-Neiße-Linie als neue polnische Westgrenze festzusetzen, wurde von den Westmächten zunächst als zu weitgehend abgelehnt, jedoch schließlich in Potsdam »provisorisch« akzeptiert. Nur Polens einflußloser Exil-Ministerpräsident Arciszewski wehrte sich: »Wir wollen weder Breslau noch Stettin.«
- Die Westverschiebung Polens sollte
- ebenfalls mit westlicher Billigung - durch die Umsiedlung mehrerer Millionen Polen und die Vertreibung der Deutschen zu einer Dauerlösung werden. Dazu Churchill 1944 im Unterhaus: »Die Vertreibung ist, soweit wir das übersehen können, das befriedigendste und dauerhafteste Mittel.«
In Potsdam kamen dem britischen Kriegspremier allerdings gegen die Ausweisung höchst reale, wirtschaftliche Bedenken, als er erfuhr, daß Stalin durch ein Abkommen mit der von den Sowjets installierten polnischen Regierung bereits am 21. April 1945 vollendete Tatsachen geschaffen hatte: Alles deutsche Gebiet ostwärts der Oder und Lausitzer Neiße befand sich schon unter provisorischer polnischer Verwaltung, ehe die Konferenz der »Großen Drei« (Stalin, Churchill, Truman) überhaupt begann.
Churchill protestierte: »Die Verpflanzung von 8 250 000 (deutschen) Menschen geht weit über das hinaus, was ich vertreten kann.« Und: »Wir haben nicht den geringsten Wunsch, uns mit einem übervölkerten Rumpfdeutschland belastet zu sehen, das von seiner Ernährungsbasis (im Osten) abgeschnitten ist.«
Ähnliche mehr technisch-administrative denn humanitäre Sorgen hinsichtlich des Bevölkerungstransfers hatten Churchill bereits gequält, als auf der Jalta-Konferenz die Diskussion über
- die Frage entbrannte, ob die Polen nur
bis zur östlichen Glatzer Neiße oder über Niederschlesien hinweg bis zur
westlichen Lausitzer Neiße vorrücken sollten (siehe Karte Seite 64).
Nicht sprachliche Schwierigkeiten, die
- wie eine zählebige Fabel besagt - zu
einer Verwechslung der beiden gleichnamigen deutschen Flüsse geführt hätten, verursachten diesen Disput, sondern allein die Sorge, in den westlichen Besatzungszonen künftig zu viele hungrige Mäuler zu haben.
Um diese Besorgnisse zu zerstreuen, ließ Stalin, der selbst behauptet hatte, es gebe hinter Oder und Neiße gar keine Deutschen mehr, den provisorischen Staatspräsidenten Polens, Boleslaw Bierut, in Potsdam anreisen.
Bierut versicherte Churchill, es müßten nur noch 1,5 Millionen Deutsche ausgesiedelt, aber vier Millionen Polen aus den polnischen Ostgebieten und drei Millionen Auslandspolen untergebracht werden.
Der Briten-Premier gab nach. Und in Teil XIII des Potsdamer Abkommens wurde »die Überführung der deutschen Bevölkerung ... in ordnungsgemäßer und humaner Weise« beschlossen. Damit hatte der in Teil IX über Polen formulierte Beschluß, »daß die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zur Friedenskonferenz zurückgestellt werden soll«, nur mehr papierne Bedeutung.
Ein Jahr darauf zeigte sich, daß sowohl Stalin als auch Bierut in Potsdam gelogen hatten: Es gab noch 3,5 Millionen Deutsche, die umzusiedeln waren, wie Stalins Außenminister Molotow im September 1946 feststellte. Doch die Umsiedlerzüge rollten längst.
Der von Stalin zweimal übertölpelte Winston Churchill, im britischen Unterhaus auf die Oppositionsbank verbannt, grollte: »Die Polen zugestandene provisorische Westgrenze ist kein gutes Vorzeichen für die künftige Karte Europas.«
Inzwischen hatte sich an eben dieser Frage der Kalte Krieg zwischen West und Ost entzündet, denn die Sowjets waren in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs in Europa weiter vorgeprellt, als die Westmächte zunächst hinnehmen wollten.
Churchill hatte geglaubt, den Kommunismus an der Ostgrenze Polens aufhalten zu können. Stalin aber hatte Polen seinen westlichen Alliierten entwunden und überdies die Hälfte Deutschlands eingesackt.
In diesem neuen Konflikt mußten die besiegten Deutschen die natürlichen Bundesgenossen ihrer jeweiligen Besatzer sein. Das stellte US-Außenminister James Byrnes bereits in Rechnung, als er im September 1946 in Stuttgart verkündete: »Was Schlesien und andere östliche Provinzen Deutschlands betrifft, so ... geht aus dem Protokoll des Potsdamer Abkommens klar hervor, daß die Regierungschefs sich nicht verpflichtet haben, auf der Friedenskonferenz die Überlassung eines dieser Gebiete (an Polen) zu unterstützen.«
Molotow ging sofort zum Gegenangriff über: »Wem könnte der Gedanke kommen, daß diese Aussiedlung der Deutschen nur als zeitweiliges Experiment vorgenommen wurde? Diejenigen, die den Beschluß gefaßt haben ..., können nicht nach einiger Zeit vorschlagen, entgegengesetzte Maßnahmen auszuführen. Schon der Gedanke an derartige Experimente mit Millionen Menschen ist unfaßbar.«
Dann kam seine Schlußfolgerung: »All das zeugt davon, daß der von Truman, Attlee und Stalin unterzeichnete Beschluß der Potsdamer Konferenz die Westgrenzen Polens bereits festgelegt hat.«
Dieser sowjetischen Logik war wenig entgegenzusetzen, wenn auch zunächst sogar die Kommunisten der sowjetischen Besatzungszone dagegen aufbegehrten. »Die SED wird sich jeder Verkleinerung deutschen Gebiets entgegenstellen«, schrieb Spitzenfunktionär Max Fechner 1946 im »Neuen Deutschland«. »Die Ostgrenze ist nur provisorisch.«
Vier Jahre später, am 6. Juli 1950, bei der Unterzeichnung des Görlitzer Grenzabkommens, war von solcher Auflehnung nichts mehr zu spüren. Die DDR war der gefügigste Satellit der Sowjet-Union geworden.
Für Polen dagegen hatte Wladyslaw Gomulka einen Pfad aus eben diesem Satellitendasein gefunden: den Weg nach Westen. Obgleich Gomulka durch eine tief eingefressene Abneigung gegen alles Deutsche gehemmt ist, versucht er ihn als erster zu gehen.
Nur eine deutsch-polnische Verständigung könnte allmählich - das ist auch die Hoffnung des amerikanischen State Department - das außenpolitische Manövrierfeld Polens erweitern, dessen Regierung ihren territorialen Besitzstand seit Kriegsende ausschließlich durch sowjetische Besatzungstruppen und die Grenzgarantien der kommunistischen Nachbarstaaten gesichert sieht.
Die Stalinsche Westverschiebung Polens hat - das weiß Gomulka - die polnische Mittellage zwischen Deutschland und Rußland noch um einiges gefährlicher gemacht, als sie bereits in den vergangenen Jahrhunderten war:
- Der Landgewinn im Westen belastet
Polen mit einer Erbfeindschaft gegen Deutschland, die es - das hatte Stalin vorausgesehen - in ein permanentes Bündnis mit dem übermächtigen sowjetischen Nachbarn hineinzwingt.
- Der Landverlust im Osten schließt
gleichzeitig jede Grenzänderung im Westen aus, die eine Verständigung mit den Deutschen erleichtern könnte, weil eine solche Korrektur zu einer lebensgefährlichen Operation für den neuen polnischen Staat werden müßte.
- Ein Polen, das zwar gelegentlich antisowjetische Ressentiments äußert, aber nach wie vor russische Truppen im Lande hat, rund 65 Prozent seines Außenhandels mit der Sowjet -Union und den übrigen Ostblockländern abwickelt und überdies eine kommunistische Regierung besitzt, wird niemals »revisionistischen« Tendenzen gegenüber der Sowjet-Union Raum geben; es kann nicht mit territorialen Forderungen gegen die einzige Atommacht auftreten, die seine Westgrenze garantiert.
Gomulka: »Wenn in Polen eine andere Partei ... an die Regierung gekommen wäre, dann hätte sie im Bewußtsein der Bevölkerung den Chauvinismus säen und eine Kampagne zur Wiedergewinnung der (ostpolnischen) Territorien führen können.«
Polens Parteichef möchte, daß man in der Bundesrepublik endlich diese Realitäten der polnischen Situation begreift. An hoffnungsvollen, freilich vergeblichen Bemühungen um eine entsprechende Neuorientierung der Bonner Ostpolitik hat es in den letzten Jahren nicht gefehlt.
So bekannte sich der Bundesaußenminister von Brentano im Mai 1956 in London zu der Ansicht, man werde »eines Tages wählen müssen zwischen der Wiedervereinigung mit 17 Millionen Deutschen in der Sowjetzone und dem Beharren auf Gebieten hinter der Oder -Neiße-Linie«.
Dieser Brentano-Überlegung hat allerdings die von Gomulka forcierte Polonisierung der Ostgebiete inzwischen die Voraussetzung entzogen. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze kann nicht mehr als echte Konzession gelten; sie hat, sollte es noch einmal zu einem Handel um die Wiedervereinigung kommen, ihr politisches Gewicht längst eingebüßt.
Im Gegenteil: Die Nichtanerkennung wird allmählich zu einem gefährlichen Ballast, weil sie die Bundesregierung zwingt, in einer unglaubwürdigen revisionistischen Pose zu verharren und auf jede aktive Ostpolitik zu verzichten.
Dies hatte Carlo Schmid, Polen-Reisender und SPD-Vizepräsident des Bundestages, vorausgesehen, als er - ebenfalls 1956 - verlangte: »Das Tabu der Oder-Neiße-Frage muß gebrochen werden, sonst wird es eines Tages Herr über uns. Es wird uns verhexen!«
Gegen dieses Tabu stritt 1957 auch Hamburgs CDU-Bürgermeister Dr. Sieveking, damals zugleich Präsident des Bundesrates. Sieveking forderte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Polen und fügte hinzu, daß man zuvor hinsichtlich der Grenzziehung im Osten »manchen Illusionen in Deutschland den Abschied geben« müsse. Worauf das »Ostpreußenblatt« grollte: Dies sei ein »Tiefpunkt all der Verzichterklärungen, die wir bisher schon über uns ergehen lassen mußten«.
Brentanos Kollege Ernst Lemmer, gesamtdeutscher Minister, beschränkte 1958 das deutsche Gebiet mutig auf die Landschaft »zwischen Rhein und Oder -Neiße« und verlangte »Beweglichkeit in Ostfragen«, während Lemmers Staatssekretär Thedieck 1959 der Oberschlesischen Landsmannschaft die ungeschminkte »polnische Wirklichkeit« in den Ostgebieten vor Augen hielt und davor warnte, »wirklichkeitsfremden Wunschbildern nachzurennen«.
Die Streiter gegen das Oder-Neiße -Tabu, das von seinen Anhängern aus dem Potsdamer Abkommen in den Deutschland-Vertrag hinübergerettet worden war, scheiterten jedoch sämtlich an der Intransigenz der Vertriebenen -Funktionäre, die jeden zum »Verzichtpolitiker« stempelten, der aus nüchternen politischen Erwägungen eine Anerkennung der Grenze in Betracht zog.
Die Vertriebenen-Funktionäre fanden stets Rückendeckung bei den bundesdeutschen Parteiführern - Kanzler Adenauer an ihrer Spitze -, die sich aus Wahlrücksichten geflissentlich hüteten, das Thema aufzurollen.
Der Außenpolitische Ausschuß des Bundestages kam bei seinen Beratungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Polen zu keinem Ergebnis. Zwar reiste im August 1958 eine Handelsdelegation nach Warschau, aber die gleichzeitig angedeutete Errichtung einer Handelsmission mit diplomatischem Status blieb aus.
Polens stellvertretender Verteidigungsminister Generalmajor Zarzycki hatte mit der Erklärung, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze sei die »unerläßliche Voraussetzung diplomatischer Beziehungen«, alle Hoffnungen zunichte gemacht, die Warschauer Regierung werde sich - so hatte noch wenige Monate zuvor der Polen-Reisende Carlo Schmid erfahren - mit einem schriftlichen Grenzvorbehalt abfinden, wie 1955 noch die Sowjet-Union.
Bei den Moskauer Verhandlungen hatte Bundeskanzler Adenauer an den damaligen sowjetischen Regierungschef Bulganin geschrieben: »Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen ... stellt keine Anerkennung des derzeitigen beiderseitigen territorialen Besitzstandes dar. Die endgültige Festsetzung der Grenzen Deutschlands bleibt dem Friedensvertrag vorbehalten.«
Von einem ähnlichen Vorbehalt wollte Gomulka nichts wissen; eine solche Formel hätte auch jedes deutsch-polnische Dokument gegenüber der Sowjetregierung entwertet, die von Zeit zu Zeit - so im November 1958 - Gerüchte lancierte, sie erwäge an Oder und Neiße Grenzkorrekturen zugunsten der DDR, falls Polen »durch seine Experimente weiterhin die Einheit des sozialistischen Lagers bedrohe«.
So bleiben die freundlich-unverbindlichen Gespräche, die der Krupp-Bevollmächtigte Berthold Beitz mit dem polnischen Parteichef im vergangenen Sommer führte, der vorerst letzte Versuch, eine »Verständigung mit dem ganzen deutschen Volk« (Gomulka) vorzubereiten.
Der Versuch verrät jedoch deutlich den Wunsch Gomulkas, über Handelskontakte und diplomatische Beziehungen allmählich zu einer deutsch-polnischen Aussöhnung zu gelangen, zu einer freiwilligen Anerkennung jener Grenzen, die weder Polen noch Deutsche gezogen haben, sondern die von den Großmächten beiden Völkern auferlegt worden sind.
Solange freilich in der Bundesrepublik das große Tabu aufrechterhalten wird, das bisher jede Diskussion über die Oder-Neiße-Grenze erstickt hat, besteht dafür wenig Hoffnung. »Die Aufgabe, Polen in der Bundesrepublik zu vertreten«, kommentierte die »Süddeutsche Zeitung«, »fällt weiter allein den polnischen Gänsen zu.«
** 1960 förderte das Ruhrgebiet 115,4 Millionen Tonnen Steinkohle und produzierte 27 Millionen Tonnen Rohstahl.
*** Indexstand 1960: 755 gegenüber 1937 = 100.
* 1959 registrierte Polen 24,9 Geburten pro Tausend, ebensoviel wie 1937; in den Oder -Neiße-Gebieten dagegen etwa 33 pro Tausend. Die Bundesrepublik mit Westberlin (17,6) und die DDR (16,9) verzeichneten wesentlich niedrigere Geburtenziffern; im Deutschen Reich (1937) wurden 19,6 Geburten pro Tausend gezählt
** Nach deutscher Statistik gab es 1925 im Reichsgebiet 700 000 Polen.
Danzig (1945): Deutschland büßte ...
... mit einem Viertel seines Bodens: Gdansk (1961)
Polonisator Gomulka (M.) in Breslau: Heimatrecht durch Baby-Boom
Polens Premier Cyrankiewicz
Stacheldraht an der Friedensgrenze
Vertriebenen-Treck (1945): Nur jeder neunte ...
... will wieder zurück: Vertriebenien-Treffen (1961)
Potsdamer Konferenz (1945)*: Welche Neiße?
Polnischer Kardinal Wyszynski (mit Mitra) in Breslau: Mit Gott und Gomulka
Nachbarn Gomulka, Ulbricht: Freundschaft einmal im Jahr
V. l. n. r.: Churchill, Truman, Stalin.