Zur Ausgabe
Artikel 35 / 73

DAS GUTE VOLK VON FRANKREICH - EINE LEGENDE

aus DER SPIEGEL 1/1964

Der schweizerische Frankreich-Kenner Armin Mohler, ehemaliger Sekretär Ernst Jüngers und bis Herbst 1961 Pariser Korrespondent der Schweizer »Tat, will das im Ausland gängige liberale Frankreich-Bild korrigieren. In seinem soeben erschienenen Buch »Die Fünfte Republik« deutet Mohler das heutige Frankreich nicht als die nur notdürftig verschleierte Herrschaft eines Quasi-Diktators, sondern als Ausdrucksform eines Bündnisses zwischen »dem Glücksfall« Charles de Gaulle und der das Land seit Jahrhunderten beherrschenden Macht, dem französischen Establishment**:

Die Deutung der Fünften Republik krankt daran, daß die »Grundtatsache« nicht klar genug gesehen wird, die seit anderthalb Jahrhunderten die französische Geschichte und Politik bestimmt. Nicht nur das Verständnis der Fünften Republik, sondern auch schon das aller ihrer Vorgängerinnen wird erschwert durch einen recht hartnäckigen Mythos, der das Zentralstück der französischen Selbstinterpretation bildet.

Es ist der Mythos vom »guten Volk von Frankreich«, das mit beunruhigenden Einzelgängern konfrontiert wird - jenen »prokonsularischen« Gestalten, unter denen (der französische Literat) Albert Thibaudet nicht einfach die außer- und antiparlamentarischen Chefs von der Art des Generals Boulanger, sondern ebensosehr die aus dem Parlamentarismus selbst erwachsenen überragenden Figuren von der Art eines Gambetta (heute etwa eines Mendès-France) verstand.

In der Sicht dieses Mythos haftet den großen Einzelnen immer etwas von einem Verführer und Dompteur an, der die unschuldigen Massen in seinen Griff zu bekommen sucht. Jener Mythos hat sich in erster Linie aus einer Interpretation der Großen Revolution entwickelt. Und von hier aus ist er auch wieder aufgerollt worden.

In dieser aufregenden Auseinandersetzung geht es darum, ob wirklich das Volk der zentrale Handelnde in der französischen Geschichte seit dem Sturz der Könige ist. In der Sicht jenes Mythos hatte das Volk die alte Monarchie gestürzt und den Marsch in die Zukunft begonnen, von dem gefährliche

Einzelne es immer wieder abzulenken suchen.

Die Rolle des bahnbrechenden Widerlegers dieser Deutung der Großen Revolution kommt dem Historiker Augustin Cochin zu, der 1916 mit vierzig Jahren an der Somme gefallen ist.

In minutiöser Analyse der Quellen hat er nachgewiesen, daß die Französische Revolution keineswegs das Werk revoltierender Volksmassen war. Als bewegende Kraft stellte er etwas ins Licht, was weder Volk noch Einzelner ist: kleine Zirkel, die sich im Gegensatz zu der untergehenden Welt des Ancien Regime nicht nach Blut oder Stand, sondern um Ideologien gruppierten.

Die klassischen Analytiker der Republik haben dann geschildert, wie die Gesinnungsgemeinschaften sich schon bald nach der Revolution sozusagen »säkularisiert« haben: Aus von hochfliegenden Ideen befeuerten revolutionären Stoßtrupps wurden allmählich »comites« von Notabeln, deren erstes Ziel die Bewahrung des Status quo ist.

Auch sie sind zahlenmäßig begrenzte Zusammenschlüsse von Personen, die unter Berufung auf allgemeine Prinzipien repräsentativen Rang beanspruchen. Aber das ideologische. Feuer ist aus ihnen entwichen. Es geht nun um handfeste Interessen, vor allem um jene Vermögen, die in der Revolution und der auf sie folgenden Periode der Bändigung der revolutionären Impulse geschaffen worden sind.

Wie diese Führungsschicht sich über anderthalb Jahrhunderte hinweg bis heute behaupten konnte, ist einer der erstaunlichsten Tatbestände in der Geschichte des modernen Frankreichs. Über ihre Homogenität darf man sich

durch die vielen »adeligen« Namen in dieser Großbourgeoisie nicht täuschen lassen.

Alten Adel gibt es in Frankreich nur noch in kärglichen Restbeständen; der heutige französische »Adel« ist überwiegend napoleonischen oder bürgerköniglichen Ursprungs.

Außerdem sind viele Adelsprädikate von ihren Trägern willkürlich zugelegt worden. So waren beispielsweise beim Staatsbesuch der Königin Elisabeth in Paris sowohl der Chef des Protokolls wie auch die offizielle Begleitdame der Königin von selbsterteiltem Adel.

Andererseits hat sich diese Führungsschicht gegenüber den von unten nachdrängenden Kräften stets als sehr assimilationsstark erwiesen. Sie hat es immer wieder verstanden, aus dem Kleinbürgertum heranbrandende Wogen der Empörung durch Assimilation ihrer Spitzen aufzufangen.

Die soziale Homogenität der Führungsschicht geht zusammen mit der geistigen. Die politische Linie der »Komitees« bleibt sich gleich über alle Ereignisse hinweg, weil sie sich aus dem Kräftedreieck notwendig ergibt: Die Führungsschicht muß um jeden Preis verhüten, daß ein Einzelner sich mit den Massen gegeh sie verbündet. Sie muß darum die überragenden Führerpersönlichkeiten verketzern. Und andererseits muß sie sich selbst zum mindesten rhetorisch mit dem »Volk« identifizieren.

Die Herrschaftsform, die auf diese Abwehrhaltung der Führungsschicht zugeschneidert war, ist das hochentwikkelte Repräsentativsystem des französischen Parlamentarismus. Der eigentliche politische Zweck dieses Systems jenseits aller abstrakten Programmatik war ein doppelter: Es sollte eigenwillige Persönlichkeiten »kollegial« binden und die Wählermassen von jeder unmittelbaren Einwirkung auf die Politik fernhalten.

Das erste Ziel wurde erreicht, indem die Exekutive zu einer bloßen »Kommission« des Parlaments gemacht wurde. Als Mittel dienten dazu fluktuierende Mehrheiten, häufiger Regierungssturz, wechselseitiges Sich-Zuschieben der Ministerposten innerhalb eines solidarischen, etwa vierzig Personen selten überschreitenden Kreises.

Die praktische Folge solcher »Parlamentsherrschaft« war, daß die fachlich in Frankreich stets hochqualifizierte Ministerialbürokratie stillschweigend an die Stelle der ausgezehrten Exekutive trat. Oder, wie Herbert Lüthy sagte: »Frankreich wird nicht regiert, sondern verwaltet.«

Der geschilderte Mechanismus darf nun allerdings nicht zu allzu simplen Folgerungen, vor allem nicht zu moralischen Wertungen verleiten.

Jakobinische Gefühlsschablonen und vulgärmarxistisches Schablonendenken haben in diesem Zusammenhang bei der Opposition häufig zur Konstruktion von Unterdrückungstheorien verleitet: Die in den »Komitees« personifizierte Führungsschicht wird in diesen Schemata zu einer bösen Macht, die mit einer skrupellosen Mischung von List, Rhetorik und Macht das gute Volk unter Vormundschaft hält.

In Wirklichkeit jedoch wäre die Herrschaftsstellung der »Komitees« auf die Dauer nicht zu halten gewesen ohne eine Komplizität im Volk. Auch die Fünfte Republik und ihr Funktionieren können nicht begriffen werden, solange über die Mittelschicht zwischen jener geschilderten Führungsschicht und unteren Gruppierungen unzutreffende Vorstellungen bestehen.

Innerhalb der Soziologie gibt es in bezug auf die Mittelstandsmentalität eine gewisse Einigkeit darüber, daß dem Mittelstand ein Sicherheitsbedürfnis eigen sei, das ihn überall zu einem Anhänger des Status quo mache. Im besonderen Falle des »Mittelstandslandes« Frankreich wollten sich allerdings die subtilen Köpfe mit einer so summarischen Charakterisierung nicht zufriedengeben.

.Man stößt darum immer wieder auf die Feststellung, daß sich durch diesen Mittelstand eine »unsichtbare Trennungslinie« ziehe. Links von ihr sei man fortschrittlich, republikanisch und laizistisch gesinnt; rechts von ihr überwiege das Sicherheitsbedürfnis, das für autoritäre Lösungen anfällig mache, wenn dadurch nur, die »Ordnung« garantiert werde.

Aber noch niemandem ist es gelungen, den Verlauf dieser Linie genau nachzuzeichnen, sei es nun geographisch oder sozial. Denn die Trennungslinie zieht sich durch jeden einzelnen Mittelständler hindurch - deshalb ist sie »unsichtbar«.

Das entspricht recht genau dem Wesen jenes vielberufenen »Francais moyen«, des Durchschnittsfranzosen, dessen Masse die »classes moyennes«

ausmacht. Hier sind es zwei Schablonen, die sich widersprüchlich gegenüberstehen.

Die eine zielt auf den »bricoleur«, den Bastler im Franzosen, der sich in der Wirklichkeit, die mit den Augen gesehen, der Hand ertastet und dem Mund geschmeckt werden kann, so gut zu »debrouillieren«, durchzuwursteln, weiß.

Die andere Schablone meint den Franzosen als »Cartesianer«, also als Menschen, der sich nach abstrakten Einteilungsschemata richtet, die mit der Wirklichkeit kaum mehr zur Deckung zu bringen sind.

Dem eigentlichen Geheimnis Frankreichs kommt auf die Spur, wer sieht,

daß beides im gleichen Menschen nebeneinander lebt, und zwar, was das Wesentliche ist, völlig unverbunden. Dieser »Francais moyen« ist nämlich eigenartig zweistöckig gebaut.

Oben ist das Feiertagsstockwerk der

»idées générales«, der Allgemeinheiten; darunter ist das Alltagsstockwerk mit seinen ganz vom Praktischen und Erfahrenen gelenkten Lebensweisheiten. Und diese »zwei Seelen in einer Brust« (die sich aber nicht wie im Ursprungsland dieses Zitates befehden) erklären die geheime Komplizität des »Francais moyen« mit jener in den »Komitees« verkörperten Führungsschicht.

Die eine dieser Seelen verachtet »die Politiker« als »korrupte Parasiten«, und sie spricht das schneidend aus. Die andere jedoch weiß sich mit den »Komitees« im politischen Ziel, nämlich im Willen zur Aufrechterhaltung des Status quo, einig.

Und wo der Status quo sich nicht mehr halten läßt, wo - wie das im verflossenen Jahrzehnt in Übersee so oft der Fall war - eine Position geräumt werden muß, verschafft jene doppelte Angelegenheit die dazu nötige Geschmeidigkeit: Derselbe Mann (de Gaulle), der pathetisch »Niemals!« ruft, bereitet gleichzeitig nüchtern die Absetzbewegung vor. Das ist vielleicht der ausschlaggebende Grund, weswegen es

in den verflossenen Jahren nicht über Algerien zu einem französischen Bürgerkrieg gekommen ist.

Das Zusammenspiel dieser beiden Partner aber, die gleicherweise an der Erhaltung des. Status quo interessiert sind, schafft als Grundform der republikanischen Politik jenen »Immobilismus«, an dem sich so viel Reformwille schon totgelaufen hat. Der »Immobilismus« ist ein Zustand, der dank des außerordentlichen Reichtums Frankreichs viel länger dauern konnte, als die Kassandras so lange schon glauben.

Er entspricht - bei allem Unterschied der Atmosphäre - weitgehend dem »establishment« in England. Auch dessen Herrschaftsgrundlage ist die innere

Übereinstimmung einer breiten Mittelschicht mit der Führungsschicht, die sich schon äußerlich in der Übernahme gewisser Ticks, von bowler hat und Regenschirm angefangen, zeigt.

Was in England Oxford und Cambridge, das sind in Frankreich die École Normale und die École Polytechnique, und dem Geist der englischen Klubs entspricht der Korpsgeist des Conseil d'Etat und der Finanzinspektoren. Bei dem establishment sowohl wie dem établissement öffnen Geld, Leistung und Geburt allein nicht den Zutritt; bei beiden gilt es, in ein ganzes System sozialer Riten hineinzupassen und es anzuerkennen.

In den benachbarten Staaten gibt es nichts Vergleichbares. Das »Revier« an der Ruhr, die Verbindung von Patriziat und Industrie in gewissen Schweizer Städten - das sind Inseln; es fehlt ihnen die Breitenausdehnung über das. ganze Land, und vor allem geht ihnen jener geheimnisvolle consensus mit einer »stilgleichen« Mittelschicht ab.

Diese Herrschaftsstruktur ist wirklich nur den beiden Nationen des Westens eigentümlich, die in eigenartiger. Übereinstimmung beide nur noch in - der Erinnerung - glücklich« sind - auch wenn in der einen Erinnerung die Carmagnole getanzt und in der ändern endlose Fuchsjagden geritten werden.

** Armin Mohler: »Die Fünfte Republik«. R. Piper Verlag, München; 240 Seiten; 7,80 Mark.

Französische Revolution*: Mythos vom Umsturz korrigiert

Debütantinnen-Ball in Versailles: Adelsprädikate selbst erteilt

* Darstellung der Revolutionshymne »Marseillaise« von dem französischen Maler Gustave Doré (1832 bis 1883).

Armin Mohler

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 35 / 73
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten