BERGBAU »Das halten wir nicht aus«
Die Kohle hätte noch für 100 Jahre gereicht«, sagt Manfred Pöhland, der mit 14 Jahren seine Lehre unter Tage begann und heute »in der Anpassung« ist, wie die Arbeitslosigkeit bei Bergleuten heißt.
Deshalb haben der gelernte Schlosser Pöhland und die Kumpel der Zeche »Minister Achenbach« in Lünen auch erst nicht geglaubt, was Ende der achtziger Jahre der DDR-Rundfunk meldete: Die Zeche am nördlichen Rand des Reviers werde dichtgemacht.
Offiziell beteuerten Politiker und Kohlebosse, bis zur Jahrtausendwende könnten die Bergleute weiter in Lünen einfahren, doch dann wurde der Zeitraum immer kürzer - Mitte 1992 war schließlich Schluß für die 2800 Kumpel; »Minister Achenbach« wurde zum bisher letzten Beispiel einer Zechenstillegung an Rhein und Ruhr.
Wenn jetzt nach dem Kompromiß von Bonn in den nächsten drei Jahren 4 von 18 Zechen geschlossen, wenn 48 000 der 85 000 Arbeitsplätze auf lange Sicht »sozialverträglich abgebaut« werden müssen - dann, sagt Pöhland, 52, »werden etliche Kumpel die Unsicherheit ein drittes oder viertes Mal durchmachen«.
Die Erklärungen, daß »die hochqualifizierten Bergleute immer eine Stelle finden«, mag der Leiter des Arbeitsamtes Lünen, Karl-Heinz Schimek, nicht mehr hören. Mit 17,2 Prozent Erwerbslosen steht die Stadt in Nordrhein-Westfalen an zweiter Stelle hinter Gelsenkirchen - die Folgen der Zechenschließung sind auch fast fünf Jahre später zu spüren.
Ein Drittel der Kumpel ging damals in die Anpassung, ein weiteres suchte sich neue Jobs außerhalb des Bergbaus, das letzte wurde auf andere Zechen verteilt. Diese Kumpel, inzwischen im Durchschnitt 38 Jahre alt, werden täglich in die Zechen am Niederrhein gefahren, ein Weg von drei Stunden - und dort droht wieder Arbeitslosigkeit.
Im jetzt zechenfreien Lünen kommen 50 Arbeitslose auf eine offene Stelle, bei den Schlossern bewerben sich gar 65 um einen verfügbaren Job. »Eine Katastrophe für die Stadt«, sagt Schimek, sei zudem der Verlust von 500 Ausbildungsplätzen.
»Rund 150 Millionen Mark jährlich brachte die Zeche nach Lünen«, rechnet Bürgermeisterin Christina Dörr-Schmidt vor. Den Kaufkraftverlust haben Zuweisungen von rund 100 Millionen Mark aus Brüssel, Bonn und Düsseldorf in den letzten fünf Jahren nicht ausgleichen können.
Einen Teil der Hilfe nutzte die Kommune, um die Stadt vor dem Ausbluten zu bewahren. »Die Bergleute mit ihren Familien wären abgewandert, wenn wir uns nicht bemüht hätten, Lünen attraktiver zu machen«, glaubt die Bürgermeisterin. So kaschieren Grünflächen, Baumalleen, stilsicher renovierte Bergarbeitersiedlungen und das Gelände der Landesgartenschau den Eindruck von Tristesse, den viele endgültig geschlossene Rolläden vor Geschäften und Kneipen hinterlassen.
»Mindestens eine Generation braucht der Strukturwandel«, prophezeit Stadtdirektor Hans Wilhelm Stodollick. Um bis dahin durchzuhalten, gaben die Stadtverwalter Geld, um das Kaufhaus Hertie zu halten. Dem Bergbauzulieferer Westfalia kauften sie ein Grundstück ab, um das Überleben der Firma zu sichern. Für Stodollick ist das eine Investition in die Zukunft, »weil ja in den nächsten 25 Jahren weltweit 4000 Milliarden Dollar in Bergbautechnik investiert werden sollen - und da ist Westfalia führend«.
Wie überall, wo Stadtväter nicht weiterwissen, wurden auch in Lünen Gewerbeparks en masse geschaffen. Doch auf dem alten Achenbach-Gelände konnte im vergangenen Jahr gerade mal ein Grundstück verkauft werden.
Die Kommunalpolitiker griffen nach jedem Strohhalm. So versprach der quirlige Selbstdarsteller Luigi Colani der Stadt ein Designstudio, wenn man nur ein gewaltiges, von ihm entworfenes Kunststoff-Ei auf einen Förderturm baue. Die Stadt tat's, doch Colani kam nicht. Erst zwei Jahre später konnte das »Lüntec-Ufo« vermietet werden.
Was in den nächsten Jahren droht, ist für Bürgermeisterin Dörr-Schmidt schlimmer als alles, was man bisher durchgemacht hat: ein Identitätsverlust der Stadt, in der bisher die zehn Prozent ausländischen Bürger als »gut integriert« gelten. Wenn aber als Folge der jetzt vereinbarten Anpassungen die schon lange vor Ort arbeitenden türkischen Kumpel den jüngeren deutschen Kollegen vorgezogen würden, gehe der unter Tage geprägte und über Tage gelebte Zusammenhalt verloren: »Das halten wir dann nicht mehr aus.«