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Das himmlische Kind

Er war ein Genie, das die Sterne berührte, und ein schweinigelnder Zappelphilipp mit Tourette-Syndrom. Der erste Komponist mit Popstar-Qualitäten und ein Zocker, der sein Vermögen verspielte. Heute ist seine Musik Weltmusik.
Von Matthias Matussek, Johannes Saltzwedel und Klaus Umbach
aus DER SPIEGEL 51/2005

Nur ein paar Takte genügen, und sofort leuchtet ein, warum auf U-Bahnhöfen, die mit Mozarts Musik beschallt werden, die Verbrechensrate sinkt. Mozart ist so. Er entwaffnet.

Dass die Klänge dieser Musik den Ungeborenen im Mutterleib die Ohren öffnen sollen, glaubt man sofort. Und dass die »Kleine Nachtmusik« die Milchproduktion von Kühen steigert. Und dass das »Credo« aus der »Missa Solemnis« von 1780 im Stande ist, auch den Hartgesottensten den

Glauben an den lieben Gott zurückzugeben, ja sogar den Glauben daran, dass er tatsächlich lieb ist.

Jeder kann das hören.

Mozarts Musik ist schön und oft ganz einfach. Das heißt: Sie ist eine entsetzliche Provokation für alle, die Schwierigkeiten mit Schönheit haben, und mit Einfachheit.

Das sind heutzutage eine ganze Menge, und sie sind kaum zu tadeln. Natürlich ist es der schiere Wahnsinn, in Zeiten der Bombenexplosionen die Arglosigkeit zu feiern. Natürlich ist es kaum zu vermitteln, in Zeiten der Radikalisierungen das »Mittelding« zu wollen. Wahrscheinlich ist es albern, angesichts von Terroropfern zu singen: »Nichts ist so hä-ä-äßlich als die Ra-a-che!«

Es dürfte durchaus spannend werden, wie es mit diesem Mozart durchs kommende Jahr gehen soll, durchs Mozartjahr.

Er ist zweifellos das größte Geschenk, das die deutsche Kultur der Welt gemacht hat, und die Welt feiert nun seinen 250. Geburtstag, feiert Joannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus ("Amadé") Mozart (27. Januar 1756 bis 5. Dezember 1791).

Es wird Hunderte von Aufführungen geben, Symposien, Spektakel, und den geschätzten 20 000 Büchern über den Komponisten werden sich weitere hinzugesellen. Und wieder einmal werden sich die Marzipanverkäufer gegen die Rebellen in Stellung bringen und umgekehrt, wobei sich wohl herumgesprochen haben dürfte, dass der Kitsch der Mozart-Zertrümmerer mittlerweile weit langweiliger ist als der der Anbeter. Don Giovanni als Rauschgift-Dealer, »Figaros Hochzeit« im Trump Tower? Gähn!

Die einen also werden Mozart wieder unter Sahnebergen ersticken, die anderen werden ihn in die Tonne treten. Und beiden Seiten wird entgehen, dass mit Mozart, einfach gesagt, die Verbrechensrate sinkt und das Schwere leicht wird und

das Leben zu glänzen beginnt.

Wenn wir Mozart angemessen feiern, feiern wir pure Musik. Wir feiern mit einer gewissen Wehmut über die Verluste seither, denn Mozarts Epoche war die letzte, für die Schönheit und Kunst Synonyme waren. Und dann feiern wir das Gute in uns.

Wir feiern aber auch den pockennarbigen Kobold, aus dem diese Musik gesprudelt ist. Wir feiern eine Außenseiterseele, den ersten modernen Künstler, einen hochfahrenden und gebrochenen, obszönen und strahlenden Menschen, ein zartes Heldenleben, die Kometenkarriere, den Vaterfluch, die moderne Künstlerjagd nach Geld, Geld, Geld, nach Ruhm, die Triumphe, die Niederlagen.

Er nahm sich mehr, als man ihm geben wollte. Dann sein jäher Tod, zu früh wie bei allen Unsterblichen. Der frühe Tod ist wichtig, denn unter den Popmatrizen in unseren Köpfen wirkt er wie ein Rebellentod, wie ein Opfergang in feindlicher Umwelt, und so hat er sich in die Imagination gebrannt - für immer.

Vollkommener ist nie ein Klassiker in die Populärkultur eingetaucht.

Wer kann das Klarinettenkonzert hören, ohne die aufsteigenden Flamingoschwärme aus dem Film »Jenseits von Afrika« zu sehen? Film und Ton werden für ewig aneinander pappen, und Mozart hätte nichts dagegen. Nichts hat er sich so sehr herbeigesehnt wie Popularisierungen. Dass auf Prags Straßen sein »Figaro« gepfiffen wurde, fand er toll.

Natürlich ist dieses Abenteuerleben in Rokoko-Kutschen Kinostoff, am gelungensten wohl in Milos Formans »Amadeus«, dem seinerseits der Reißer von Peter Shaffer zu Grunde liegt. Vielleicht hat Mozart in Wirklichkeit nicht so oft gekichert, sicher war er weniger hübsch, Constanze möglicherweise biestiger. Ganz sicher ist er nicht vergiftet worden, und der geheimnisvolle Fremde, der ihm den Auftrag zum Requiem gab, war nicht Salieri.

Kleinkram, denn die Grundierungen im »Amadeus« stimmen. Natürlich war Mozart trotz aller Anflüge von Trostlosigkeit und Leere ein göttliches Kind, und selbstverständlich hat sein übermütiges Genie provoziert. Es kann keine wahrere Szene geben als diese erfundene: In Gegenwart Josephs II. spielt er dem hoch gehandelten Salieri dessen eigene, hart erschuftete Komposition vor, und er verbessert sie im Spiel, klimpert sie ihm buchstäblich um die Ohren und lässt den Rivalen pulverisiert zurück.

Es gab ähnliche Kraftmeiereien, ähnliche Showstücke. Wer wissen will, wie un-

sere Konzertmusik entstand, sollte Mo-

zarts Leben auswendig lernen, denn es macht klar, wie nahe die Klassik einst beim

Vaudeville lag, wie eng Trivialität und Ewigkeit verschwistert waren und wie sehr das Genie in der Tretmühle geformt wird.

Kindliches Kunststück

Sonate C-Dur KV 19d**

Legen wir also Mozart auf, schauen wir uns die Kompositionen dieses Lebens an. Wir sollten mit dieser hier beginnen, der vierhändigen Sonate in C-dur KV 19d, obwohl deren Echtheit nicht unumstritten ist.

Das heißt, beginnen wir 1765 in der englischen Kneipe »Swan and Harp Tavern«.

Da ist Mozart fast zehn, schon kein Wunderkind mehr, sondern einer, der um sein Publikum kämpfen muss.

Die ersten Jahre waren leichter. Sein Vater Leopold, ein Aufsteiger aus dem Augsburger Handwerkermilieu, hatte ihm früh die Grammatik und das Vokabular der Musik eingehaucht, denn er war selbst durchaus beseelter Musiker.

Und dann hatte er seine Kinder zu Schaustücken gemacht, das heißt, die beiden, die ihm nicht weggestorben waren wie die übrigen fünf: Amadeus und die vier Jahre ältere Schwester Nannerl. Als sein von Gott »geliehenes Gut« hat er sie den Potentaten Europas vorspielen lassen und dabei, niedlich, jaja, Berge an Dukaten und goldenen Schnupftabakdosen eingesammelt.

Kaiserin Maria Theresia hat gelächelt, König George war entzückt, und Goethe erinnert sich, wie er als Teenager den »kleinen Mann in seiner Frisur und Degen« bewunderte. Mozart, der Kinderstar.

Doch mit fast zehn war man kein Kind mehr. Der Niedlichkeitsvorteil ist weg. Diese Tournee war mühsamer als die vorangegangenen, und nun, am Schluss, geht es noch einmal um Kleingeld. Sein Vater hatte mit dem klassischen Trick klammer Schausteller geworben: »Auf öffentlichen Wunsch« seien die beiden Sensationskinder doch noch in England geblieben; für zwei Schilling und Sixpence könne man sie in der »Swan and Harp Tavern«, Cornhill, besichtigen.

Hatte Leopold die Abreise zu lange hinausgeschoben? Bislang waren die Mozarts selten mehr als ein paar Wochen am selben Ort geblieben. Süddeutschlands Höfe, Amsterdam, Brüssel, glanzvolle Tage in Paris, all das hatten die Wunderkinder seit 1763 schon absolviert.

Das hier war die eine Abräumer-Nummer zu viel, denn sie sprach sich herum an den europäischen Höfen, die den Musikern doch noble Geschenke gemacht hatten. Man war pikiert. Musik in der Kneipe, täglich von 12 bis 3! Noch Jahre später riet Maria Theresia ihrem Sohn Erzherzog Ferdinand davon ab, Mozart in seine Dienste zu nehmen, da diese Leute »courent le monde comme des gueux« - wie Bettler durch die Welt ziehen.

Das Konzert im Pub war Mozarts Sündenfall in den freien Markt, bevor es den freien Markt eigentlich gab. Dieser Auftritt stellte die Weichen.

Ganz bewusst wird sich Mozart später in die Freiheit tingeln, wird seine Konzerte verkaufen und versuchen, sein Publikum mit der austarierten Balance aus Tradition und Innovation zu gewinnen. Das Publikum ist sein Fürst. Im Pub lernt Mozart, was ankommt.

Was damals besonders ankam, waren Stücke wie diese dreisätzige C-Dur-Sonate. Vater Leopold platzte vor Stolz. »Wolfgangerl«, schrieb er nach Hause, habe just »sein erstes Stück für vier Hände gemacht«. Nie zuvor sei Derartiges versucht worden.

Stimmt nicht, meinen Mozart-Forscher wie Alfred Einstein: Sonaten dieses Typs habe es schon vor 1765 gegeben. Na, und wenn schon: Die Sonate war trotzdem schön. Sie hat konzertanten Gestus im Allegro, im Trio des Menuetts hinreißende schöpferische Unschuld und schließlich im finalen Rondo eine Demonstration des Klaviervirtuosen, im alternierenden Wettstreit mit Nannerl: Da setzt sich die linke Hand der Schwester über die rechte Hand des Bruders.

Die Biergläser wurden geschwenkt, man paffte und johlte vergnügt, und Mozart hatte sein Publikum im Kneipendunst um alle zehn Finger gewickelt.

Jetzt wird systematisch am Komponistenruhm gearbeitet. Als Rampenkünstler sind die Teenager nicht mehr ganz so gefragt. Der Schmelz ist dahin, zumal da ihnen bald eine Pockenerkrankung die Gesichter zernarbt. Als sie gesunden, lässt Vater Leopold sechs Dankmessen für Wolfgang lesen. Für Schwester Nannerl nur zwei. Das ist die Verteilung der Gewichte zwischen den beiden. Nannerl wird sich mit bösem Klatsch rächen.

Mit elf hat Wolfgang bereits rund 50 Kompositionen geschrieben, Symphonien, Konzerte, Sonaten und Geistliches. Mit zwölf folgt die erste Oper, »La finta semplice«, allerbeste Ware. Allerdings wird sie, so zumindest schreibt Leopold, durch das Betreiben Willibald Glucks und anderer Neider sabotiert.

Das Orchester rebelliert dagegen, sich von einem ehrgeizigen zwölfjährigen Jüngelchen dirigieren zu lassen. Jeder Zwölfjährige, der schon mal eine Oper komponiert hat, kann Mozarts Enttäuschung über diese Abfuhr nachempfinden. Wir Übrigen, wir Mittelmäßigen, haben ein bisschen Verständnis für das Orchester.

Ende 1769, Wolfgang Amadeus ist 13, bricht er mit seinem Vater auf nach Italien. Der Komponistenstar wird geformt. Das erste reale Operndebüt folgt am zweiten Weihnachtstag 1770 in Mailand. Ein »erstaunliches Händeklatschen und Viva il Maestro, viva il Maestrino ruffen« habe es gegeben, meldete der Vater stolz nach Salzburg.

Die Karriere rollt.

Zu Hause hat ein neuer Fürsterzbischof das Amt angetreten, Hieronymus Graf Colloredo, und bei ihm ergibt sich die erste, mäßig besoldete Anstellung.

Ein Kunstschwelger ist der Kirchenherrscher nicht. Er hat seine Grundsätze: Komplette Messen zum Beispiel dürfen nicht länger als eine Dreiviertelstunde dauern. Eine Devise, die für Routine-Kirchgänger unbestreitbare Vorteile hat, nicht allerdings für geniale junge Komponisten, die viel zu sagen haben. »Ich lebe in einem Land, wo die Musik nur sehr geringes Glück hat«, schmollte Mozart im

Brief an Padre Martini in Bologna.

Gleichzeitig ist er wohl froh, dass er überhaupt eine Anstellung hat. Zumindest sein Vater ist es. Komponisten können kaum vom Markt leben. Jenseits der Auftragshonorare werfen die Werke nichts ab; Urheberrecht und damit Tantiemen gibt es noch nicht.

Und die Musik? Sie wird außerhalb der Kirche nicht gerade in andächtiger Stille genossen. Am lautesten geht es in den Opernhäusern zu, in die man sich begibt, um zu feiern und zu trinken und bisweilen die Vorhänge der Logen zuzuziehen und zu juchzen.

Man hört Opern so, wie man heute Radio hört, zerstreut. Man gibt sich zwanglos. Die Logeninhaber bringen ihre Lakaien kostenlos mit hinein, die »ihre Notdurft überall verrichteten«, wie Piero Melograni in seiner lesenswerten Biografie schreibt. Auch ist das Opernpublikum in Parteien gespalten wie bei einem Fußballspiel. Jeder hat seine Favoriten, seinen Tenor, seine Ballerina, und brüllt die der anderen nieder.

Seither hat die Oper, hat die klassische Musik insgesamt einen interessanten Zivilisierungsprozess durchgemacht. Vom Rummelplatz mit Pauken und Trompeten in den Kunsttempel, vom lärmenden Musikspaß zum ausgedünnten Avantgardekonzert für zehn Schweiger und eine Luftpumpe, bei dem schon ein Hüsteln als Akt der Barbarei gilt.

Seliger Absturz

Symphonie g-moll KV 183

Damals aber galt es, mit dem Lärm fertig zu werden und gegen ihn anzuspielen und sich zu behaupten, und Mozart tat es mit einer ganzen Serie von Meisterwerken. Seine Symphonien zum Beispiel. Die erste schrieb er vermutlich mit acht, und viele Generationen später überfällt Dirigent Nikolaus Harnoncourt beim Gedanken daran »eine Gänsehaut«, denn es ist eigentlich doch klar, »dass ein Kind rein philosophisch gar nicht so weit sein kann, um (diese) Einsichten zu vermitteln«.

Legen wir Mozart, den Symphoniker, auf, die Symphonie in g-Moll KV 183, die mit einem Schlag alle Galanterien vom Tisch fegt und nach dem Herzen greift. Mozart komponiert sie 1773, und kein Mensch weiß heute, wie dieses Meer an Verzweiflung zustande kam. Dieser gezackte Aufruhr in der Auftakt-Septime, die Synkopen im Kopfsatz, die Abstürze - was macht den so traurig, fragt man sich, was wühlt da dem 17-Jährigen die Brust auf?

Mozart-Biograf Hermann Abert meint, ein »Selbstbekenntnis« herauszuhören, und vermutet, Mozart habe die Moll-Symphonie in einer trüben Stunde geschrieben. Berufliche Enttäuschung, Liebeskummer? Nichts ist belegbar. Auch in Zukunft wird seine Musik nur selten biografische Einblicke geben. Sie läuft als durchgeformte, klassische Tonspur neben dem Leben her.

Das ist das »Gläserne« (Joachim Fest) und Rätselhafte an diesem Klassiker: Af-

fekte werden sublimiert. »Das Mittelding -

das Wahre in allen Sachen« ist und bleibt

sein Ideal. »Musik muss allzeit Musik bleiben.« Ein im Übrigen doppeldeutiger Satz, der einerseits nach unpolitischen Bücklingen vor einem unpolitischen Publikum klingt und gleichzeitig wie ein Avantgarde-Manifest für Neue Musik.

Mit Mozart schieben sich die Instrumentalstücke mehr und mehr in den Vordergrund des europäischen Musiklebens. Bis dahin war Musik kaum mehr als Gesangsbegleitung. Nun löst sie sich und will die Bühne für sich.

In den viereinhalb Jahren, die er überwiegend in Salzburg verbringt - von 1773 bis 1777 -, entstehen über hundert Titel.

Mozart hat eine paradoxe Kampfposition. Er ist ein Umstürzler, der gegen sich selbst loszugehen hätte, denn er ist durchaus im traditionellen Kunstgeschmack verankert. Er mag den Adel zwar nicht besonders, aber er wünscht sich nichts sehnlicher, als von ihm geehrt zu werden, zu leben wie er.

Tiefenträumerei

Klavierkonzert Nr. 9 Es-Dur ("Jeunehomme") KV 271

Vor allem in seinen Klavierkonzerten betritt er Terrain, das nie zuvor betreten wurde. Da er einer der größten Klaviervirtuosen seiner Zeit ist, kann er auch als Komponist an neue Grenzen vorstoßen. Am eigenwilligsten wohl das Klavierkonzert Nr. 9 Es-Dur KV 271, früher »Jeunehomme« genannt und vergangenes Jahr als Konzert für die Pianistin Victoire Jenamy identifiziert.

In seinem Andantino, zwischen zwei hellen Dur-Sätzen, sackt es plötzlich in Tiefen, von denen man nicht wusste, dass es sie geben könnte. Dort träumt das Klavier in Moll, in einem weltabgewandten Dialog mit dem dunkel antwortenden Tutti.

Dieses Konzert, schrieb Mozart-Biograf Einstein, habe Mozart »nie übertroffen«.

Derart vollendete Kunststücke waren für Erzbischof Colloredos Salzburger Mief zu schade; selbst Vater Leopold sah das schließlich ein. Nach mehreren vergeblichen Reiseanträgen formulierte er für den Sohn Anfang August 1777 einen Bittbrief um Dienstentlassung, in dem er dem geistlichen Herrn sogar »das Evangelium« vorhielt. Barsch gab der Regent zurück, »dass Vater und Sohn nach dem Evangelio die Erlaubniß haben ihr Glück weiter zu suchen«.

Wolfgang stürmt los, in die Freiheit. Mit dem klaren Ziel, einen besseren Posten zu ergattern, schickt Leopold den 21-Jährigen in Begleitung der Mutter nach Westen. Für den Lebensunterhalt kam dabei nicht viel heraus. In München, meldet Wolfgang in Briefen, gab es »keine vacatur«, in Mannheim »ist es dermalen nichts mit dem Kurfürsten«.

Er nimmt die Absagen leicht. Er genießt - Bekanntschaften, Liebschaften, Zeitvertreib. Der Vater schickt Brandbriefe. »Ihr müsst nach Geld trachten«, schreibt er. So nackt hat man selten nach Zaster rufen hören. Und wieder: der Auftrag sei, »Geld zu erwerben«. Und da es nicht klappt, sieht Vater Leopold alle »im Dreck sitzen«.

Wenn der Vater dem Sohn schreibt, macht er Vorhaltungen. Der Sohn antwortet mit frommen Verstellungen. Der Vater fordert musikalische »Gefälligkeit« und Sittsamkeit. Der Sohn wird dann behaupten, er bete den Rosenkranz. Der Vater fordert Festanstellungen und Höflichkeit der Herrschaft gegenüber. Der Sohn antwortet mit geheucheltem Interesse am musikalischen Lakaientum und denkt doch längst das Gegenteil.

Er lebt sich aus. Seine Briefe an das »Bäsle« Maria Anna Thekla sind verwirrende erotisch-obszöne Ausbrüche, die lange vor der Nachwelt verborgen in Giftschränken herumlagen.

Er schreibt: » ... dreck! dreck! O dreck! O süßes wort! dreck! schmeck! auch schön! dreck, schmeck! dreck! leck! o charmante! dreck, leck! Das freüet mich! dreck,

schmeck und leck ...« So läuft das noch einige Zeilen weiter, seltsame Zeilen, die er 1778 aus Mannheim ans Bäsle schreibt.

Erst vor 40 Jahren sind diese Passagen der deutschen Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Heute gelten sie als einer von vielen Hinweisen darauf, dass Mozart am Tourette-Syndrom gelitten haben soll, einer psychischen Störung mit einer ganzen Reihe von Tics, wie dem Grimassenschneiden, dem Grunzen, dem Ausstoßen schmutziger Worte.

Längst bestätigt ist ja der Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und Kreativität, so dass das Tourette-Syndrom, nach Meinung des Dresdner Psychiatrie-Professors Werner Felber, Mozarts enorme Auffassungsschnelligkeit und seine Zuckungen erklärt. Sowie die große Ruhe, die er am Klavier fand, denn Tourette-Patienten können ihre Tics bei automatisierten Bewegungen gut unterdrücken.

Damals jedoch fiel Mozart mit seinen Derbheiten nicht weiter auf. Sie wurden unter überschäumender Lebensfreude verbucht. Das Rokoko war trotz seiner Perückentürme ein reichlich wildes Zeitalter, und Fäkalsprache war durchaus Mozartscher Familienspaß.

Sauerei im Sopran

Kanon »Leck mich im Arsch« KV 231

So beugt sich Mozart also nicht immer nur über Himmelswerke wie »Idomeneo« oder die »Entführung aus dem Serail«, sondern auch über Kanons wie »Leck mich im Arsch« KV 231, der mit seinen zarten Sopranen geradezu für Kirchenschiffe geschrieben ist. Der Kanon »Difficile lectu mihi mars« KV 559 ist leicht zu übersetzen mit »Schwer, mich am Arsch zu lecken«. Dann ist da noch »O du eselhafter Martin« mit der nicht mehr überraschenden Zeile: »oh leck mich doch geschwind im Arsch«.

Auf der Suche nach Festanstellungen fährt der ausgelassene Wolfgang Amadeus mit der Mutter nach Paris. Es ist eine weitere mörderische Kutschenfahrt, weitere Stunden und Tage aus Rütteln und Schaukeln und brechenden Rädern, aus verlausten Gasthöfen, schlechter Verpflegung und dann wieder Rumpeln und Schunkeln.

Viele Tausende Kilometer hat Mozart in seinem Leben in Kutschen zurückgelegt. Er war der am weitesten gereiste Komponist seiner Tage, was in den radio- und internetlosen Zeiten immer noch die wirkungsvollste Art war, seinen Namen unter die Leute zu bringen.

Das Reisen ist eine Tortur, die er sich mit Komponieren vertreibt. Er arbeitet im Kopf. Abends wird er fertige Partien dort abrufen und niederschreiben, auch wenn er längst mit Neuem beschäftigt ist.

Zwölf Jahre vor der Revolution und Jahrzehnte vor Haussmanns prächtigen Begradigungen ist Paris ein verwinkelter, verdreckter Alptraum. Die Seine ist eine Kloake, trotzdem trinken alle daraus, und sie mischen viel Wein in das Wasser, um den üblen Gestank zu vertreiben. Alle werden davon krank, auch Mozarts.

Sie leben zunächst in einer schmalen Stube in einem Mietshaus, und sie lassen den Wasserkrug über Nacht stehen, damit wenigstens die gröberen Schmutzpartikel sich absenken können. Es sind frustrierende Wochen. Ein Leben hinter der Bühne. Anstellungen gibt es nicht, und die Pariser sind kunstlose Snobs, wie Mozart enttäuscht nach Hause berichtet.

Und dann wird die Mutter richtig krank. Sie wird sich nicht mehr erholen, wie könnte sie auch, denn in jenen Tagen öffnen die Kurpfuscher die Adern und schwächen die Patienten bis auf den Tod.

Mozart berichtet dem Vater, und der ist außer sich, rätselhaft wirr. Er warnt seinen Sohn davor, sich bei den »Begrabniß- unkösten« nicht übers Ohr hauen zu lassen. Wolfgang schreibt einen langen, abgeklärten Brief über den Tod, das unvermeidliche Schicksal aller Menschen, er sucht nach Worten des Trostes.

Der Vater ist schrill. Er beschuldigt seinen Sohn, den Tod der Mutter verursacht zu haben. Hätte er sich früher und besser um eine Anstellung gekümmert, wäre es nicht zu dieser Reise gekommen. »Ich hoffe, dass du, nachdem deine Mutter mal à propos in Paris hat sterben müssen, du dir nicht auch die Beförderung des Todes deines Vatters über dein Gewissen ziehen willst.«

Der Mann ist, psychodynamisch gesehen, eine Katastrophe, das absolute Belastungs- und Vernichtungsprogramm. In diesen Briefen ist genug Clinch und Manipulation und Schulddruck für ein ganzes Orchester an Psychoanalytikern.

»Niemand kann mich vom Tode erretten als Du«, schreibt er. Der Vater hat Wolfgang »gemacht«. Nun will er nicht loslassen. Er kann es nicht.

Frommer Jubel

»Missa Solemnis« C-Dur KV 337

Die Pariser Zeit gilt als die unglücklichste in Wolfgang Mozarts Leben. Er kehrt als Geschlagener zurück, kehrt heim in den Dienst des Erzbischofs, in die Fänge des düsteren Vaters, und er schreibt hier die jubelnde »Missa Solemnis« KV 337, die zu Unrecht im Schatten der zeitlich benachbarten »Krönungsmesse« steht.

Neben dem himmlischen »Credo« bietet die Messe ein handwerklich ausgepichtes herbes »Benedictus« in a-Moll, das in seiner kontrapunktischen Struktur kaum dem Geschmack von Magnifizenz entsprochen haben kann - Protest als musikalisches Kassiber.

Es spricht einiges dafür, dass Mozart seinen Rausschmiss kurz darauf provoziert hat, doch Colloredos Behandlung hilft dabei ganz erheblich. Der Bischof ließ ihn zu sich nach Wien kommen, wo er gerade weilte, offenbar hauptsächlich, um ihm Unterordnung beizubringen.

Er ist Asket, kein Verschwender wie andere barocke Mäzene. Beurlaubungen vom Dienst kommen bei ihm nicht in Frage. Und bestimmt nicht für Mozart, denn Colloredo hält nur die italienische Oper in Ehren und für den Gipfel der Kunst.

Mozart ist kein Italiener. Er ist 25, und nur er selbst glaubt, dass er der Größte ist. Er sieht nicht gerade imposant aus, gerade mal 1,60 klein, blass und dünn, und ständig in Bewegung und in seiner Virtuosität unheimlich. Colloredo weiß nichts mit ihm anzufangen. Er lässt ihn mit dem Gesinde in der Küche essen.

Der Fürstbischof, der letzte in Salzburg, das zum Flickenteppich des deutschen Reiches gehört, will nicht wahrhaben, was sich in Mozart andeutet: dass es eine andere Aristokratie geben wird, dass Ruhm und Genie die festgefügten Sozialpyramiden durcheinander wirbeln werden. Dabei verhält

er sich durchaus rollenkonform. Mozarts Tragik, schrieb Philosoph Norbert Elias, bestand darin, dass er als Genie in eine Gesellschaft geboren wurde, die den romantischen Genie-Begriff noch nicht kannte. Eine Gesellschaft, »deren sozialer Kanon dem hochindividualisierten genialen Künstler noch keinen legitimen Platz in ihrer Mitte bot«.

Während sich heute die Menge vor jedem D-Prominenten verneigt, schimpfte Colloredo damals seinen Mozart »Bube, schurcke, Pursche, liederlicher kerl«, auch »Flegel« und »Fex«. Mozart seinerseits muss klargemacht haben, wie sehr er den Bischof verachtet. Als der ruft: »Scherr er sich weiter, wenn er mir nicht recht dienen will«, nimmt Mozart dankend an und kündigt.

Graf Arco will vermitteln, doch am 8. Juni 1781 reißt auch ihm die Geduld. »Bey der thüre durch einen tritt im arsch hinaus« sei er geworfen worden, berichtet Mozart erregt seinem Vater.

Dieser Tritt war der wichtigste der abendländischen Musikgeschichte. Er war der Beginn von Mozarts freier Künstlerkarriere. Endlich kann das Genie im eigenen Rhythmus leben, im prächtigen Wien, der Metropole mit ihren 50 000 Einwohnern, die über Oper und Theater und sogar erste Konzerthallen verfügte.

Nach Kinderruhm und Teenagerwirbel beginnt für Mozart also die dritte Karriere: die als freier Künstler. Es hilft, zum Start, dass sein liberaler Monarch Josef II. ein deutsches Singspiel bei ihm bestellt.

Mozart nimmt begeistert an. »Von Liebe verstehen nur wir Deutschen etwas«, ruft er Salieri im Film »Amadeus« zu. »Was ihr euch unter Liebe vorstellt, alle eure krähenden männlichen Soprane und die fetten augenrollenden Pärchen, das ist ... das ist Quatsch.« So ähnlich denkt er wirklich. Er mag weder den italienischen Opernbetrieb noch die französische Lebensweise.

In seinen Briefen beteuert er immer wieder, ein »ehrlicher Teutscher« zu sein, wahlweise auch ein »geschickter Teutscher«, und sein Gefühl der »Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« erwies sich, so Musikwissenschaftler Ulrich Konrad, sein Leben lang als »konstant«.

So komponierte er also zu einem deutschen Libretto die »Entführung aus dem Serail«, ein absurdes übermütiges Haremsmärchen, in dem sich am Schluss alle kriegen und den aufgeklärten Pascha Selim hochleben lassen.

Ein Bombenerfolg. Mozart hatte Wien im Sturm genommen. Auf seinen langen Konzertabenden, Akademien genannt, verblüfft er die Platzhirsche, von Antonio Salieri bis zum Opernmatador Vicente Martín y Soler, mit eigenen neuen Werken. Er tritt zum öffentlichen Wettstreit gegen den Tastenakrobaten Muzio Clementi an und spielt ihn in Grund und Boden.

Schwarze Nachtmusik

Bläserserenade c-moll KV 388

Adlige Schülerinnen reißen sich um ihn. Er hat seine Robbie-Williams-Momente. Und wenn Alois Joseph Fürst Liechtenstein eine Bläserserenade bestellt, dann liefert er eine Bläserserenade, innerhalb von nur 48 Stunden. Und eine ganz außergewöhnliche dazu!

Die Bläserserenade in c-moll KV 388 für je zwei Oboen, Klarinetten, Hörner und Fagotte ist der reinste Temperatursturz. Keine Hintergrundmusik für irgendeine beschwingte Soiree, sondern nachtschwarzer Ernst, düster, hoffnungslos.

Weiß er nicht, was er da liefert? Warum zieht er seine Hörer bei dieser unbeschwerten Gelegenheit hinab in ein jähes, privates Seelentief? Er lässt sich nicht in die Karten gucken. Erst ganz zum Schluss, bevor das finale Allegro ganz verschwindet, fährt C-Dur in das schwarze Gespinst wie eine Erlösung, und schafft eine Art Happy End. Zurück bleibt ein Frösteln.

In Briefen spricht Mozart des Öfteren von einer inneren Kälte und Leere, von einer kaum überbrückbaren Distanz zu den Menschen. Allerdings nutzt er die Musik weit weniger als seine romantischen Nachfolger zu persönlichen Bekenntnissen.

Auf die Emanzipation von Colloredo folgt die wohl schwierigere vom Vater. Der wütet, als sein Sohn ihm den Entschluss mitteilt, Constanze Weber zu heiraten. Er hatte standesgemäßere, wohl auch lukrativere Partien im Auge.

In jenen Zeiten war der Vater »pater potestas«, unbedingte Autoritätsperson. Väterliche Machtworte, auch spät im Leben noch, waren üblich. Es gibt diesen Witz aus jenen Tagen, nach dem ein Sohn seinen Vater ängstlich fragt, ob er ihn wirklich über seinen Kopf hinweg verheiraten will, worauf er die barsche Antwort erhält: »Kümmert Euch um Eure eigenen Angelegenheiten«.

Constanze Weber also ist ein Affront, vielleicht sogar ein beabsichtigter. Sie heiraten am 4. August 1782, der Vater ist gar nicht erst eingeladen.

Ob Mozart seine Constanze liebte? Wahrscheinlich. Sie sei zwar nicht schön, schrieb er seinem Vater einmal, aber sie habe ein gutes Wesen. Auf alle Fälle half sie ihm, eine eigene Familie zu gründen, sich zu etablieren.

Im darauffolgenden Jahr gebärt Constanze den Sohn Raimund, der aber die ersten Wochen nicht überlebt. Drei weitere Kinder werden den Mozarts sterben, in jenen Tagen ist der Tod ein ständiger Gast in den Familien.

Die jungen Brautleute leben auf großem Fuße: Kleiderpracht und Dienstboten, Zofen für Constanze, eigenes Reitpferd, eigener Billardtisch, später eine riesige Wohnung in allerbester Lage. Sie sind angekommen, und sie verausgaben sich, um mit Wiens High Society Schritt zu halten.

Auf seinen Akademien trifft sich die feine Gesellschaft, und Mozart weiß: All den Glanz, den andere von Geburt haben, verdankt er seinem Talent. 1784 legt er selbstbewusst ein »Verzeichnüß aller meiner Werke« an, das er fortan immer mit sich trägt. Er klammert sich an sein Genie. Er ist stolz auf sich, und das Verzeichnis hat genug leere Seiten, um ein doppelt so langes Schaffen zu fassen.

Er hat noch sieben Jahre vor sich.

Mozart, der Aufsteiger, lebt nach seiner Façon. Er trinkt bisweilen, randaliert bisweilen, spielt bisweilen. Es gab damals noch keine Fernseher, die man aus einem Hotelzimmer schmeißen konnte, aber es gab die Opernhäuser, die Kaschemmen und das Spiel um immer höhere Einsätze.

Mozart spielt wahrscheinlich öfter und mit größeren Verlusten als bisher bekannt, und die Vergnügungswelt des Rokoko bietet da allerhand: Billard, Kegel, Karten, Brett- und Pfänderspiele sowieso, selbst Lotto. Mozart, ein Zocker? Anders können sich manche Mozart-Forscher heute nicht erklären, warum er angesichts seiner beträchtlichen Einnahmen selbst in guten Jahren ständig neue Schulden macht.

Früher wären solche Vermutungen als Denkmalschändung gewertet worden. Heute

nicht. Heute sind wir daran gewöhnt, dass kreative Stars die merkwürdigsten Hobbys haben, um sich abzureagieren, und Spielsucht gehört dazu. Die hedonistische Untergangswelt des Rokoko ist gar nicht so weit entfernt von der unseren - und Mozart führt ein Pop-Leben, bevor es Pop gibt.

Elegante Revolte

»Die Hochzeit des Figaro« KV 492

Er will dem Adel auf Augenhöhe begegnen, und er interessiert sich sehr für dieses Skandalstück von Beaumarchais, das nach mehreren Verboten 1784 in Paris uraufgeführt wurde. Schauspieler Emanuel Schikaneder hatte es bereits für sein Kärntnertor-Theater auf dem Spielplan, als auch bei den Habsburgern die Zensur zuschlägt.

Fünf Jahre vor dem Sturm auf die Bastille zeigt das Stück den Adel von seiner verkommensten Seite, als dümmlichen, geilen Haufen. Graf Almaviva hat sich in Susanna, die Braut des kleinen Figaro, vergafft und besteht auf seinem Recht der ersten Nacht. Figaro ersinnt Listen, die Gräfin hilft, alles gerät durcheinander, viele Verwechslungen und knallende Türen später hat sich alles eingerenkt, der Graf bereut, die Gräfin verzeiht, und Figaro heiratet. Eine Skandal-Komödie.

Mozart ist kein Revolutionär. Er ist durch und durch katholisch, und er wird über die Gottlosigkeiten der Französischen Revolution den Kopf schütteln und den Tod des Kirchenkritikers Voltaire befriedigt kommentieren. Aber er ist fortschrittlich gesinnt, er liebt die Gleichheitsideen, er ist sogar in die Freimaurerloge »Zur Wohltätigkeit« eingetreten, denn dort wird ohne Rücksicht auf ständische Unterschiede verkehrt.

Er ist kein politischer Kopf, aber das Stück ist nach seinem Geschmack. Trotz des Verbots beginnt Mozart, es nach einem eilends angefertigten Libretto durch Da Ponte zu vertonen: »Die Hochzeit des Figaro« KV 492.

Ermuntert wird er in seiner Arbeit erstaunlicherweise durch den Monarchen, der selber ein Reformer ist. Es ist wohl so, dass das Ancien Régime unbewusst schon seit längerer Zeit seiner eigenen Abschaffung applaudiert.

In ganzen sechs Wochen soll Mozart eine der vollkommensten Opern der Musikgeschichte geschaffen haben, voll melodischen Reichtums, verblüffender Tempowechsel, dramatischer Effekte, mit dieser ensembletechnischen Höchstleistung am Ende des zweiten Aktes, wenn in einem scheinbar endlosen Crescendo schließlich acht Personen durcheinander singen, und zwar so, dass es harmonisch aufgeht und auch noch Spaß macht.

In Wien ist sie ein Reinfall. Möglich, dass Mozart den örtlichen Adel nervös gemacht hat und dieser nun gegen die Aufführung intrigiert und den bezahlten Pöbel losschickt.

Wahrscheinlicher aber, dass Mozart sein Publikum musikalisch einfach überfordert.

Interessanterweise wird sie ein Jahr später in Monza angesetzt - hier wird für die beiden letzten Akte die Vertonung durch einen gewissen Angelo Tarchi bevorzugt. Auch Lübeck versucht es. Diesmal hat Adolph Knigge, der mit dem Benimmbuch, eine höfliche deutsche Fassung angefertigt.

Man gibt sich also alle Mühe, Mozarts Meisterwerk zu verbessern. Die Wiener Meute beißt nicht an. Und das ist die Dialektik der neuen Zeit: Die Masse ist wesentlich bornierter, als es ein Aristokrat sein könnte.

Das Publikum sortiert Mozart aus. Die Mode hat sich gedreht. Seine Konzerte finden keine Abonnenten mehr. Und er setzt sich hin und schreibt das herzzerreißendste Quintett seines Lebens, und wiederum ist höchst zweifelhaft, ob es mit seiner gegenwärtigen Lage auch nur das Geringste zu tun hat. Streichquintett g-Moll KV 516.

Es rührt wie kaum ein anderes Werk des Komponisten. Mozart-Biograf Hermann Abert sieht »schneidenden Schmerz« in

Töne gefasst, und selbst der Skeptiker Wolfgang Hildesheimer gibt zu, »dass hier etwas mit uns geschieht«. Solche Musik komponiert man nicht, weil die Kasse klamm ist. Es sind Klänge aus dem Abgrund, verzweifelte Gesten gleich über zwei langsame Sätze hinweg, und die Sätze sind zehrend, ausgreifend wie nie zuvor.

Mozart-Biograf Alfred Einstein hört das »Gebet eines Einsamen« heraus, und er scheint recht zu haben, was die Publikumsresonanz angeht. Niemand meldet sich, um eine »Subskripzion« zu erwerben, die Mozart in der Zeitung auf das Werk anbietet.

Zehrender Schmerz

Streichquintett g-moll KV 516

Mozarts ziehen um, in eine kleinere Wohnung. Die Schulden drücken. Der Vater hat grimmig recht behalten, wie er in einem Brief bemerkt. Drei Wochen später ist er tot, und nur ein paar Tage später schreibt Mozart seinen »Musikalischen Spaß«, ein gegen alle Kompositionsregeln verstoßendes Stück Übermut.

Ist er verrückt geworden? Ist das die Erleichterung über den Abgang des alten Aufpassers? Kurz darauf fährt Mozart zum zweiten Mal nach Prag, denn er führt den »Don Giovanni« auf, und der ist ein gewaltiges musikalisches Strafgericht für einen sündigen Lebemann.

Wiederum existieren keinerlei Aufzeichnungen darüber, ob Mozart hier eine neue Form gesucht hat, um mit seinem Vater ins Reine zu kommen und mit eigenen etwaigen Schuldgefühlen. Für den Philosophen Sören Kierkegaard soll der »Don Giovanni« die vollkommene Verkörperung unsterblicher Kunst darstellen, doch was bedeutet er Mozart? Ein Akt symbolischer Selbstbestrafung? Don Giovanni ist zwielichtig, weil er attraktiv ist. Er bereut nicht. Er weiß: keine Frau, die nicht ihre Unsterblichkeit geben würde, für eine Nacht voller Ekstase mit ihm! Ist das die Musik eines frommen Katholiken? Die Tonspur Mozarts läuft weiterhin neben seiner Lebensspur her. Sicher gibt es Austausch, aber er ist so vermittelt, das wir ihn nicht benennen könnten.

In diesen letzten Jahren seines Lebens, in denen sich das Publikum von ihm abkehrt, wirft Mozart unverdrossen ein Meisterwerk nach dem anderen heraus. Zwischen dem Tod zweier Töchter kommt die jubelnde »Jupitersymphonie« heraus, entsteht das frivole »Così fan tutte«.

Fünf Monate vor seinem Tod, im Juli 1791, schreibt er seiner Constanze, die auf Kur ist, einen herzzerreißenden Brief. »Es ist eine gewisse Leere - die mir halt wehe thut, - ein gewisses Sehnen, welches nie befriediget wird, folglich nie aufhört - immer fortdauert, ja von Tag zu Tag wächst.«

Dabei stehen die Zeichen ausgerechnet im Todesjahr auf Aufschwung. Sohn Franz Xaver Wolfgang wird geboren. Mozart schreibt gleich zwei Opern. Am 6. September wird »La Clemenza di Tito« in Prag aufgeführt, am 30. September in Wien die »Zauberflöte«. Außerdem auf der Liste: das Ave Verum Corpus, das Klarinettenkonzert, das Requiem.

Ein erfolgreiches Jahr, mit besten Einnahmen. Am 2. Dezember soll ihm auch noch die ersehnte Ernennungsurkunde zum stellvertretenden Kapellmeister ausgehändigt worden sein. Drei Tage später ist er tot.

Hat Norbert Elias recht, der in seiner Mozart-Studie vermutet, dass der Komponist so sehr vom Leben und von der Ehefrau - die anscheinend ein Verhältnis mit seinem Schüler Süßmayr eingegangen ist - enttäuscht gewesen sei, dass er schließlich losgelassen habe? Zunächst war er einfach krank geworden. Er hatte rheumatisches Fieber, seine Fingergelenke schmerzten. Er verfaulte von innen. Doch bis dahin war dieses Jahr 1791 gut zu ihm.

»Die Zauberflöte« wurde in Schikaneders Wiener Volkstheater aufgeführt, mit allem, was die damalige Bühnentechnik hergab, und das war viel: Flugmaschinen, Falltüren, Feuer, Attrappen.

Weisheit und Liebe

»Die Zauberflöte« KV 620

Die Oper war für den Erfolg komponiert, für das schnelle Geld, doch da Genies nicht trivial sein können, war diese bunte Kinderoper gleichzeitig reich an tieferen Bedeutungen. Wenn Tamino und Pamina in ihrer letzten Prüfung durchs Feuer geführt werden, singen sie: »Wir wandeln durch des Tones Macht froh durch des Todes düstre Nacht«. Musik hilft uns zu leben und zu sterben. Was für eine ergreifende Botschaft!

»Die Zauberflöte« KV 620 ist eine der meistgespielten Opern der Welt. Sie ist ein Flickenteppich, in den der Logenbruder Wolfgang Amadeus Mozart die Symbole der Freimaurerei gestickt hatte, vom Dreiklang der Ouvertüre an.

Da ist das ernste Spiel um Tamino, der Prüfungen zu bestehen hat, bevor er seine Pamina heimführen darf. Da ist aber auch das lustige Spiel des vertierten Papageno, der seine Papagena will. Liebe also auf allen Ebenen, und wenn Papageno auf seiner Vogelfänger-Pfeife bläst, wird gejubelt in den Kinderaufführungen, von denen wohl die schönste und poetischste die ist, die Ingmar Bergman verfilmt hat.

Bis auf den Schriftsteller und Mozart-Essayisten Wolfgang Hildesheimer, der einst mit einem Zertrümmerer-Buch Furore machte und die »Zauberflöte« für maßlos »überschätzt« hielt, haben sich so ziemlich alle vor ihr verneigt.

Goethe fand in ihr »höheren Sinn«, und Hegel meinte, sie habe den »rechten Punkt getroffen«. Welcher das genau war, konnte

allerdings bis heute keiner sagen, nur dass die Zauberflöte mehr war als nur eine Oper, das stand immer fest.

Nun hat der Ägyptologe Jan Assmann in dem wohl überraschendsten Buch zum Mozartjahr schlüssig und spannend nachgewiesen, dass das Singspiel eigentlich ein Initiationsritus fürs Publikum ist, eine Art Mitgliederwerbung für die aufklärerischen Geheimbünde, die damals, zur Revolutionszeit, für die Ideale Gleichheit, Weisheit, Brüderlichkeit kämpften.

Seitdem sind Generationen zumindest für Oper und Musik initiiert worden und vielleicht sogar für Weisheit und Liebe. Wenn der drollige Vogelfänger nur summen kann, hm hm hm, weil er ein Schloss vor dem Mund trägt, oder wenn die Königin der Nacht ihr hohes F schleudert und wenn jeder schmachtet vor dem Bildnis, das bezaubernd schön ist, und wenn jeder trällert nach der Aufführung, von Mann und Weib und Weib und Mann - dann ist wieder einmal eine neue Generation von diesem Spiel berührt worden. Die »Zauberflöte« ist Weltmusik. Sie wird in Japan genauso verstanden wie im Irak. Ihre Botschaft: Versöhnung.

Mozart dirigiert selber die Uraufführung. Er genießt den Erfolg, und er genießt den »stillen Beifall«, der von Genießern und Kennern kommt. Selbst Dauerrivale Salieri, schreibt er seiner Constanze, habe »noch kein schöneres und angenehmeres Spectacel gesehen«.

Nun muss er sich endlich jenem Auftrag zuwenden, der seit dem Sommer liegen geblieben war: Ein offenbar reicher Sonderling hatte bei ihm anonym ein Requiem für seine Frau bestellt, zum Jahrestag ihres Todes im Februar. Der Auftraggeber, ein Graf Walsegg, wollte, wie sich später herausstellte, das Werk abschreiben und vor Bekannten als sein eigenes ausgeben.

99 Seiten einer Entwurfsfassung hat Mozart bereits fertig, als ihn am 20. November eine Streptokokken-Infektion umwirft. Sie ist, so rekonstruiert der Arzt Peter J. Davies 1984, verbunden mit Nierenversagen und Hypertonie. Dann ein Schlaganfall durch Gehirnblutung mit halbseitiger Lähmung und eine »Bronchopneumonie mit tödlichem Ausgang«.

Um 0.55 Uhr des 5. Dezember ist es so weit: »Plötzlich bekam er ein Erbrechen - es fuhr aus ihm heraus in einem Bogen - das war braun und er war tod.«

Vollendung im Tod

Requiem d-Moll KV 626

Constanze, die sich zunächst vom Schmerz überwältigt an die Seite ihres toten Mannes gelegt haben soll, um mit ihm zu sterben, streut kurz darauf das Gerücht, dass ihr Wolfgangerl langsam vergiftet worden sei.

Das macht die Geschichte um das Requiem d-Moll KV 626 noch spannender und geheimnisvoller, denn nun stellt sich dem gebannten Publikum die schauervolle Frage: Hat er es gar für sich selbst komponiert, den Tod vor Augen?

Die Totenmesse ist ein Torso geblieben, nur Kyrie und Sequenz und acht Takte des Lacrimosa sind authentischer Mozart. Doch nie zuvor hat er sich so erschütternd tief, so unbeirrt in die finstersten Ecken vorgewagt wie in diesen letzten kompositorischen Worten.

Schon in der Sterbestunde wurde am Mozart-Mythos gearbeitet, und Constanze verdiente nicht schlecht an ihrem Wolfgangerl, den sie um 50 Jahre überlebte.

Bereits im Jahr nach seinem Tode gab es ein erstes Mozart-Denkmal. Goethe hielt beim »Don Giovanni« schon das Wort »Komposition« für eine Ehrenkränkung. Kierkegaard wollte eine Sekte gründen, mit Mozart als deren Heiland.

Mittlerweile kursieren 80 verschiedene Versionen über Mozarts Tod. Mozart ist die Urlegende aller Pop-Hysterien. Lange vor James Dean und Lady Di und anderen vorzeitig Abgerufenen erhitzte er die Phantasien des Massenpublikums.

Schon im 19. Jahrhundert wurde Mozart in über 50 Dramen auf die Bühne gestellt. Und heute? Der deutsche Komponist greift nach jedem. Im Hauptbahnhof Kyoto gibt es ein Mozart-Café. Bei Anfrage nach seinem Namen wirft die Suchmaschine Google innerhalb von 0,07 Sekunden 19 900 000 Seiten aus. Die kleine Nachtmusik ist ein Klingelton. Mozart ist das versöhnende Symbol einer globalisierten Welt.

»Was bleibt von Kunst?«, fragt Musils Mann ohne Eigenschaften, und die Antwort gibt er gleich selber: »Wir als Veränderte bleiben.«

Das ist Mozart. Ein Komponist, der uns verändert, wenn wir ihm zuhören.

Wenn wir ihm zuhören.

MATTHIAS MATUSSEK, JOHANNES SALTZWEDEL,

KLAUS UMBACH

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* Links: Gouache auf Elfenbein (anonym, um 1768), vor zwei Jahren in einem Hotel am Thuner See gefunden - ob tatsächlich Mozart und (auf der Rückseite) seine Schwester Nannerl abgebildet sind, wird von Experten noch diskutiert; rechts: »Mozart Werke Ges.m.b.H.« von Franz Wittenbrink im Wiener Akademietheater (Oktober 2004). * Links: Ölgemälde (um 1775); oben: Farbdruck (um 1890); rechts: die Münchner Philharmoniker unter Christian Thielemann im Vatikan am 20. Oktober. ** Mozarts Werke werden nach dem »Köchel-Verzeichnis« nummeriert. Ludwig Ritter von Köchel (1800 bis 1877) brachte die erste Auflage 1862 heraus; heute gilt die 8. Auflage von 1983. * Inszenierung von Calixto Bieito an der Komischen Oper Berlin (2004). * »Die Freiheit führt das Volk«, Ölgemälde von Eugène Delacroix (1830).

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