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»Das ist der Staatsstreich«

Was ist ein »Staatsnotstand«, den der Kanzler neuerdings beschwört? Er will, wenn die SPD eine Änderung des Asyl-Grundrechts ablehnt, sich so verhalten, »als ob« das Grundgesetz geändert worden sei. Das aber wäre mit der Verfassung nicht vereinbar. Experten haben Kohl die Risiken seines Plans erläutert, vergeblich.
aus DER SPIEGEL 45/1992

Helmut Kohl scheint zum Bruch der Verfassung bereit. Landauf, landab redet der Bundeskanzler neuerdings von einem heraufziehenden »Staatsnotstand«. Dabei hat er Hintergedanken. Mittels des von ihm heraufbeschworenen Notstands will er das Grundgesetz aushebeln.

Der CDU-Chef vorige Woche auf dem Parteitag in Düsseldorf: Der Zustrom der Asylbewerber führe zu unhaltbaren Zuständen in Städten und Gemeinden, »die Grenze der Belastbarkeit ist überschritten«.

Kohl: »Wenn jetzt nicht gehandelt wird, stehen wir vor der Gefahr einer tiefgehenden Vertrauenskrise gegenüber unserem demokratischen Staat, ich sage mit Bedacht, ja, eines Staatsnotstandes.«

In der Rheinischen Post erging sich Kohl in dunklen Andeutungen über seine finstere Entschlossenheit: _____« Wenn sich die SPD einer vernünftigen und wirksamen » _____« Regelung widersetzen sollte, muß ich weitere Überlegungen » _____« anstellen. Als Bundeskanzler kann und werde ich nicht » _____« zusehen, wie die Situation für die Bürger vollkommen » _____« unerträglich wird. »

Und sein bayerischer Partner, der CSU-Vorsitzende Theo Waigel, will ihm offenbar helfen mit dem Rat, nicht ständig mit dem Grundgesetz unterm Arm herumzulaufen: Wenn sich die SPD einer »befriedigenden Verfassungsänderung« verweigere, dann sei es besser, »auf dem Gesetzgebungswege mit hohem verfassungsrechtlichen Risiko das zu tun, was wir tun müssen«.

Im Kreis seiner Mitarbeiter im Kanzleramt offenbarte Kohl, woran er denkt: Wenn sich bald über 700 000 Asylbewerber in Deutschland drängten und wenn die erforderlichen Grundgesetzänderungen mit der SPD nicht zu machen seien, dann werde er sich so verhalten, »als ob« die einschlägigen Grundgesetz-Artikel geändert worden wären. Dann, so legte der Kanzler dar, werde man in großem Umfange an den Grenzen zurückweisen, anhand von Listen jener Länder, in denen keine politische Verfolgung drohe.

Kohl weiter: Handlungsgrundlage müßten dann eben »einfache Gesetze« sein - für die im Parlament nur die einfache und nicht die Zwei-Drittel-Mehrheit wie für eine Verfassungsänderung notwendig wäre. Und falls man auch so nicht weiterkomme, weil die SPD vor das Verfassungsgericht ziehe, dann müsse man sich eben auf anderen Wegen behelfen. Etwa durch Entscheidungen oder Erlasse der Regierung oder ähnliches, der Kanzler blieb da vage.

In Koalitionsgesprächen bekannte Kohl, daß er vorsätzlich Verfassungsverstöße in Kauf nehmen will und daß er deshalb beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auflaufen könnte: »Man muß den Mut haben, sich aufheben zu lassen. Man muß das Risiko eingehen, aufgehoben zu werden.«

Helmut Kohl muß sich vorsehen. Rechtsexperten im Kanzleramt warnten ihn bereits. Steckt hinter seinen Worten mehr als eine leere Drohung in Richtung SPD, ist Gefahr für den Rechtsstaat im Verzuge. Im Kanzleramt wurde darüber gesprochen, gibt ein enger Helfer Kohls zu, daß »bei einem Staatsnotstand, wenn also der Staat handlungsunfähig ist, die Regierung im Interesse des Staates Mittel einsetzen muß, die nicht mehr verfassungsgemäß sind«.

Helmut Kohl - ein Fall für den Verfassungsschutz?

Arbeitsminister Norbert Blüm bestätigt das Gerede vom Staatsnotstand und seinen möglichen Folgen: »Darüber ist gesprochen worden.« Wenn die SPD sich verweigere, werde das »über den Staatsnotstand« geregelt.

Abenteuerlich waren schon in den internen Gesprächen des Kanzlers Variationen darüber, was denn ein Staatsnotstand sei. In Creifelds' Rechtswörterbuch steht dazu: _____« Staatsnotstand (etwa gleichbedeutend mit » _____« Ausnahmezustand) ist gegeben, wenn die öffentliche » _____« Sicherheit und Ordnung und damit der Bestand des Staates » _____« durch militärische Bedrohung von außen oder durch » _____« Ausnahmesituationen im Innern in solchem Maße gefährdet » _____« werden, daß die normalen Mittel der Rechtsordnung nicht » _____« ausreichen, um geordnete Zustände zu gewährleisten. »

Mal redet der Kanzler davon, daß sein Staatsnotstand von außen verursacht werde, nämlich durch den Zustrom der Asylanten. Dann wieder meinte er, »in den Augen der Bürger« sei »der Staatsnotstand eingetreten, wenn ein Staat handlungsunfähig ist«.

CDU-MdB Rupert Scholz, renommierter Staatsrechtler, ist überzeugt, daß der Kanzler nicht weiß, wovon er redet. Auf dem Parteitag in Düsseldorf warnte er Kohl, weiterhin den Begriff »Notstand« zu verwenden. »Die Asylanten sind ja nun keine Invasoren«, erläuterte er. Und inneren Notstand gebe es nur bei revolutionären Verhältnissen. Hier aber gehe es um etwas ganz anderes: »Da ist der Sozialstaat überfordert oder die Aufnahmefähigkeit des Landes erschöpft. Aber das sind alles keine Notstands-Tatbestände.«

Der Kanzler hat nicht nur das Wohl des von Asylbewerbern bedrohten deutschen Vaterlands im Sinn. Es geht ihm auch um den Erhalt seiner Macht.

Gegenüber seinem Koalitionspartner Otto Graf Lambsdorff prophezeite er, ohne wirksame Abwehr gegen die weiter steigende Flut der Asylbewerber würden die Republikaner bei der Bundestagswahl 1994 »12 bis 14 Prozent« erhalten. Zwangsläufig werde es dann zu einer Großen Koalition kommen.

Um seiner Glaubwürdigkeit willen könnte Kohl dann nicht Kanzler bleiben - er hat sich wiederholt gegen das Zusammengehen der Unionsparteien mit den Sozialdemokraten ausgesprochen.

Trotz solch düsterer Prognosen sind die Liberalen nicht bereit, dem Kanzler Beihilfe zu leisten, wenn er die Verfassung aushebeln will. Für so etwas stehen die Liberalen, erklärte FDP-Rechtsexperte Burkhard Hirsch, »nicht zur Verfügung: Das ist ein Weg, der zum Bruch der Koalition führt«.

Auch der im Grundgesetz-Artikel 81 geregelte »Gesetzgebungsnotstand« würde Kohl nicht weiterhelfen. Der Gesetzgebungsnotstand kann vom Bundespräsidenten auf Antrag der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates erklärt werden, wenn der Bundestag eine Gesetzesvorlage ablehnt, obwohl der Bundeskanzler mit ihr die Vertrauensfrage verbunden hatte.

In Absatz zwei des Artikels 81 heißt es, für Kohl vielversprechend: _____« Lehnt der Bundestag die Gesetzesvorlage nach » _____« Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes erneut ab oder » _____« nimmt er sie in einer für die Bundesregierung als » _____« unannehmbar bezeichneten Fassung an, so gilt das Gesetz » _____« als zustande gekommen, soweit der Bundesrat ihm zustimmt. » _____« Das gleiche gilt, wenn die Vorlage vom Bundestage nicht » _____« innerhalb von vier Wochen nach der erneuten Einbringung » _____« verabschiedet wird. »

Aber dem Kanzler hilft dies nicht weiter, denn Absatz vier des Artikels 81 legt fest: »Das Grundgesetz darf durch ein Gesetz, das nach Absatz zwei zustande kommt, weder geändert noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden.« Und genau darum ginge es Kohl ja.

Sollte der Kanzler sich davon nicht beirren lassen und zur Abkehr seines ominösen »Staatsnotstandes« durchgreifen wollen, »dann«, so Hirsch, »ist das der Staatsstreich. Dann gibt es Neuwahlen«.

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