Es hat wieder die ganze Nacht gegossen. Gepeitscht von den eiskalten Windböen, die aus den nahen Bergen über die Hochebene von Piranschahr jagen, hat der Dauerregen den Platz, wo sich Ahmed Kader mit seiner Familie vor Einbruch der Dunkelheit niedergelassen hat, in ein Schlammloch verwandelt.
Mit klammen Fingern versucht Ahmed Kader, einen kleinen Gaskocher in Gang zu bringen. Es will ihm nicht gelingen. Die Zündhölzer sind naß geworden, obwohl er sie tief in der Hosentasche verstaut hatte. Nach einigen Versuchen gibt er auf und zieht die dünne, durchsichtige Plastikfolie wieder über seinen Kopf. Sie ist der einzige Schutz vor dem prasselnden Regen.
Es ist sechs Uhr morgens und kalt, nur wenige Grad über dem Gefrierpunkt. Neben ihm, dicht aneinandergeschmiegt, kauern seine vier Kinder unter der Folie und starren wortlos in den nebelverhangenen neuen Tag. Die Kinder, einige feuchte Wolldecken, etwas Geschirr, eine blecherne Teekanne und der Gaskocher - das ist alles, was dem Kurden Ahmed Kader, 42, geblieben ist.
Als der großgewachsene Traktormechaniker aus dem irakischen Arbil vor über zwei Wochen, kurz vor dem Mittagessen und »von einer Minute zur anderen«, aus seinem Haus floh, war es allerhöchste Zeit: Schon konnte er am Ende seiner Straße Schreie und Schüsse hören - Soldaten trieben die kurdischen Bewohner ins Freie.
Durch den Garten hinter ihrem Haus schlichen Ahmed, seine Frau Amira und die fünf Kinder vor den Schergen Saddams davon. Sie schlossen sich einem schnell wachsenden Menschenstrom an, der über die einzige ausgebaute Straße in Richtung iranische Grenze zog.
Für die 169 Kilometer von Arbil zum Grenzpaß Hadsch Umran brauchte Ahmed Kader zwölf Tage. Die Ankunft dort Anfang voriger Woche erlebten seine Frau Amira und der zweitjüngste Sohn Mustafa, drei Jahre alt, nicht mehr.
Amira war schon am vierten Tag des Exodus gestorben. Die zuckerkranke Frau war den Strapazen des Gewaltmarsches nicht gewachsen, das lebenswichtige Insulin hatte sie bei der überhasteten Flucht im Haus zurückgelassen. Der Ehemann: »Nach einer kurzen Rast konnte sie einfach nicht mehr aufstehen. Sie kippte immer wieder um, als seien ihre Knochen aus Gummi. Dann hat sie nicht mehr geatmet.«
Am neunten Tag, schon auf den steilen Serpentinen im Anstieg auf den rettenden Paß, starb der kleine Mustafa. Ihn hatten, wie so viele Kinder in dem Flüchtlingstreck, seit Tagen Fieber und Druchfall geplagt. Amir, mit 14 der Älteste, hatte sein in eine Wolldecke gehülltes Brüderchen die ganze Zeit getragen und wollte ihm aus dem schmutzigen Fluß entlang der Straße Wasser geben. Als er ihn aus der Decke wickelte, war Mustafa tot.
Mit seinen verbliebenen vier Kindern erreichte der Mechaniker schließlich die Grenze. Sie waren alle so geschwächt von Hunger und Kälte, daß sie den Abstieg in die nahe Provinzstadt Piranschahr wohl kaum noch aus eigener Kraft geschafft hätten. Iranische Soldaten nahmen sie auf einem Laster mit.
Seither harren sie auf einem knöcheltief verschlammten Feld nur 200 Meter vom Amtssitz des Gouverneurs entfernt aus. Sie teilen sich die kleine Wiese mit 200 anderen Flüchtlingen, die mit apathischer Geduld warten. Aber worauf?
»Wer hilft uns Kurden denn noch?« fragt Ahmed Kader und zieht sich sein wollenes Kopftuch tiefer in die Stirn, »jetzt werden wir ausgerottet und weggeschmissen wie lästiger Müll.«
Die knapp 18 irakischen Dinar, die der Mechaniker bei der Flucht in der Brieftasche hatte, sind längst aufgebraucht für Brot und Reis, das einzige, das er seinen Kindern zum Essen anbieten kann. »Ich habe nichts, gar nichts mehr. Wenn meine Kinder hier neben mir an Hunger sterben, kann ich es nicht verhindern«, sagt er, und es klingt weder verbittert noch klagend, eher wie die sachliche Bestandsaufnahme einer sich zu Ende neigenden Existenz.
Nun soll Hilfe kommen für die über eine Million Kurden, die in den letzten Wochen in den Iran geflüchtet sind. Doch trifft sie rechtzeitig ein, um die Verzweifelten und Kranken noch zu retten? Mitte vergangener Woche landete in der nächsten größeren Stadt Urmia ein Dutzend Flugzeuge, eines sogar aus Neuseeland, vollbeladen mit Lebensmitteln, Medikamenten und Zelten.
Aus Norwegen traf ein Feldhospital ein. Ein Arzt nach einer ersten Besichtigungstour: »Was immer wir machen können, es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, das Problem ist gar nicht in den Griff zu kriegen.«
Die Uno schickte ihre Hochkommissarin für Flüchtlingswesen, Sadako Ogata, ins Krisengebiet entlang der irakischiranischen Grenze. Sichtlich erschüttert erklärte die Japanerin vergangenen Montag in der persischen Hauptstadt Teheran, daß »jede Minute kostbar ist. Die Menschen da draußen müssen sterben, wenn wir ihnen nicht rasch helfen«.
In Piranschahr war bis Mitte vergangener Woche noch nichts angekommen, keine Lebensmittel, keine Hilfsgüter, nichts. Die verschlafene Provinzstadt, 14 Autostunden von Teheran entfernt im Länderdreieck zwischen Iran, Irak und Türkei gelegen, hatte bis vor kurzem noch 25 000 Einwohner, überwiegend iranische Kurden. Jetzt halten sich in Piranschahr eine Viertelmillion Menschen auf. Bis in die letzten Winkel der Stadt, in Häusernischen, in den Moscheen, selbst auf dem Friedhof drängen sich die Flüchtlinge.
Die Einwohner helfen, so gut sie können. Der Friseur Eskandar am Emam-Boulevard räumt nach Feierabend die beiden Friseurstühle in die Ecke und läßt in dem Raum vier Familien mit 16 Kindern übernachten. Es ist zwar qualvoll eng, aber dafür trocken und warm.
Über der Stadt liegt der beißende Geruch qualmenden Holzes. Zehntausende, die keinen Unterschlupf gefunden haben und deshalb Tag und Nacht im Freien bleiben müssen, haben kleine Feuer angezündet, um sich zu wärmen. Das Holz besorgen sie sich am Rande der Stadt, wo mittlerweile ganze Bambus-Wälder verschwunden sind, nur noch die Stümpfe ragen aus dem Boden. Neben Trinkwasser aus Tankwagen hat die Stadt an die Neuangekommenen Plastikfolien abgegeben, als Schutz gegen Wind und Regen. Doch das Material reißt schnell.
Ende April soll die Regenzeit aufhören, dann werden die Temperaturen in Piranschahr schnell ansteigen - dann, so hofft ein Englischlehrer aus dem irakischen Kirkuk, »wird uns das Leben wenigstens etwas einfacher werden«. Mustafa Bakir, 38, hätte es in die Türkei wesentlich näher gehabt als in den Iran. Doch er entschied sich mit seiner vierköpfigen Familie für die längere Fluchtroute, denn »wir haben noch rechtzeitig erfahren, wie grausam die Türken die Flüchtlinge behandeln. Deshalb haben wir uns für den Iran entschieden«.
Es war eine gute Wahl, meint der Lehrer, trotz allem. Sie sind seit über einer Woche in Piranschahr und schlafen in ihrem Auto, einem roten Passat. Der Tank ist leer, Geld für Benzin will er nicht ausgeben - »das brauche ich für Brot und Gemüse für die Kinder«. Wie die meisten Flüchtlinge hofft Mustafa, »eines Tages wieder nach Hause« zurückkehren zu können. Aber jedenfalls frühestens dann, »wenn Saddam verschwunden oder, noch besser, tot ist«.
Die Furcht vor dem Diktator hat auch im Exil nicht nachgelassen. Jene Kurden, die vom Hadsch-Umran-Paß in Piranschahr eintreffen, erzählen von unvorstellbaren Grausamkeiten, mit denen sich die Soldaten in den letzten Wochen an den Kurden für deren Aufstand gegen das verhaßte Regime rächen.
Erst gestern, berichtet Bakir, habe er beim Einkaufen im Basar mitten im Menschengewühl einen ehemaligen Studienkollegen aus Arbil getroffen - völlig abgemagert und verstört: »Er sah wie ein Gespenst aus.« Erst nach einiger Zeit habe er stockend erzählt, daß vor drei Wochen Militär in sein Haus eingedrungen sei. Im Wohnzimmer, in Gegenwart der Eltern, habe ein Soldat seiner achtjährigen Tochter mit einem Finger beide Augen ausgedrückt.
Solche Horror-Erlebnisse halten bei den meisten Flüchtlingen den Haß auf den Verursacher ihres Elends wach. Und Haß, das hat der Lehrer Mustafa Bakir an sich selbst verspürt, »gibt Kraft und hilft beim Überleben«.
So ein Gefühl war dem Arzt Nasser Nishbouri, 30, bislang fremd. Schon als Kind war er mit seinen Eltern aus Teheran nach Paris ausgewandert. Er besitzt längst die französische Staatsbürgerschaft und arbeitet als Anästhesist in einem Unfall-Spital in der Bretagne. Nishbouri, Mitglied der Ärzte-Hilfsorganisation »Medecins du monde«, hat sich spontan für den Einsatz an der iranischen Grenze gemeldet. Nach zehn Tagen Notkrankenhaus-Dienst am Hadsch-Umran-Paß und im 150 Kilometer südlicher gelegenen Ort Sardascht hat er sich verändert: »Ich spüre blanken Haß, daß der Mann, der dies alles angerichtet hat, nicht zur Verantwortung gezogen wird.«
Nishbouri, der schon in Afghanistan Flüchtlinge medizinisch betreute und auch von der Unfallstation einiges gewohnt ist, hat in den wenigen Tagen »absolut Unvorstellbares« erlebt: »Was hier passiert, ist keine Tragödie mehr. Das ist ein einziges Grauen.«
An einem Tag seien in Sardascht in einem Rot-Kreuz-Zelt 12 Babys von 14 gestorben, ausgemergelt von Dauerdurchfall und hohem Fieber. Auch mit der besten Ausrüstung in einer modernen Intensivstation wären sie nicht mehr zu retten gewesen: »An ihrem Zustand erkennt ein Arzt sofort, was sie erlitten haben müssen.«
Am Hadsch-Umran-Paß, zwei Kilometer jenseits der Grenze auf irakischem Territorium, haben 17 Schwestern und Ärzte von »Medecins du monde« in vier Zelten eine Notstation aufgebaut - mit stillschweigendem Einverständnis iranischer Behörden. Die medizinische Situation, schätzt der französische Arzt Christian Raggioli, 35, sei »eigentlich hoffnungslos: Wir können nur den allerwenigsten helfen. Die meisten sind so krank, daß sie sofort in ein Spital kommen müßten. Für die können wir praktisch kaum noch etwas tun«.
Die Grenze liegt über 2000 Meter hoch, auf einem riesigen, mit schmutziggrauen Schneefeldern bedeckten Plateau. Die schmale Asphaltstraße windet sich in langgezogenen Kurven Richtung Irak. Kilometerweit, bis zum Horizont, ist die endlose Schlange von Autos, Lastwagen und Traktoren zu sehen, die sich vor dem Grenzposten staut. Dessen Kommandant, ein Major mit Viertagebart, schätzt, daß der Rückstau 75 Kilometer in den Irak zurückreicht. Sein Befehl laute, jeden Tag 1000 Autos und 15 000 Menschen passieren zu lassen - nachdem sie auf Waffen und Drogen untersucht worden seien.
Tatsächlich erfüllt der Offizier nur einen Bruchteil des vorgegebenen Solls. Vielleicht 1000 Menschen pro Tag geben seine Soldaten, die den Flüchtlingen mit rüden Gesten und Kolbenhieben Respekt einjagen wollen, den Weg frei. Die Begründung des Majors: »Mehr schaffen wir eben nicht.«
Für Hunderttausende, die noch Ende vergangener Woche in der Blechschlange ausharren mußten, verringert die schleppende Abfertigung ihre Überlebenschancen dramatisch. Längst haben sich im Treck Epidemien ausgebreitet.
Zudem sitzen die Flüchtlinge regelrecht in der Falle. Vorne ist die iranische Grenze, der Rückweg ist durch die Masse der Leidensgefährten abgeschnitten. Umkehren wäre zwecklos, denn die knapp vier Meter breite Asphaltstraße zu verlassen ist lebensgefährlich: Die Strecke ist vermint - tödliche Überbleibsel aus dem iranisch-irakischen Krieg. Hunderte sind schon an den Verletzungen gestorben, die sie sich durch explodierende Minen zugezogen haben. Die französischen Ärzte an der Grenze berichten von »grausamen Verstümmelungen, vor allem bei Kindern«.
So bleibt den Geflüchteten nur die Hoffnung, daß sie möglichst schnell über die Grenze kommen - bevor sie verhungern, verdursten oder erfrieren. Oder unter den Beschuß irakischer Hubschrauber geraten, die immer noch ihren Rachefeldzug fortsetzen.
Für einige tausend Menschen hingegen, die auf der Straße von Arbil zum Hadsch-Umran-Paß ums Leben kamen, blieben am Straßenrand nur eilig ausgeschaufelte Gräber.
Die genaue Lage von zweien dieser Gruben hat der Traktormechaniker Ahmed Kader in seinem Kopf gespeichert. Wenn er die Odyssee überleben wird, so hat er sich geschworen, wird er eines Tages zum Hadsch-Umran-Paß zurückkehren, wird die Leichen seiner Frau Amira und des Sohnes Mustafa ausgraben und für eine anständige Beerdigung sorgen, »vielleicht sogar in Arbil, denn eines Tages müssen auch die Kurden zur Ruhe kommen dürfen«.