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»Das ist eine offene Wunde«

aus DER SPIEGEL 51/1991

Wenn die »jetzt ehemalige Nazi-Verbrecher und Antisemiten reinwaschen«, sei der Beistand für die baltischen Republiken zu überdenken, empörte sich Schwedens Entwicklungshilfe-Minister Alf Svensson.

Dem Pastor Svensson, in der neuen bürgerlichen Regierung auch für Menschenrechte zuständig, mißfiel, daß die Balten Kollaborateure amnestierten, die auf seiten der Nazis bei der Judenvernichtung mitgemacht hatten, und betroffen war er über Berichte, daß dort ehemalige SS-Freiwillige Kameradschaftstreffen veranstalteten.

»Wir sind nicht bereit, Regierungen zu unterstützen, die ihre Umgebung nicht sauberhalten«, drohte Svensson. Noch bevor die Balten protestierten, pfiff aber der konservative Premier Carl Bildt seinen Minister zurück. Selbstverständlich werde die zugesagte Hilfe geleistet, bekräftigte der Regierungschef, sie soll sogar dreimal so hoch ausfallen wie bisher.

Denn Schweden scheut eine Auseinandersetzung über politische Moral mit den Nachbarn auf der anderen Seite der Ostsee - zuviel wäre da aufzurechnen.

Es geht um Gold und die Auslieferung von Flüchtlingen, um kleinlichen Krämergeist und ängstliche Liebedienerei gegenüber einem mächtigen Nachbarn. Es geht um den Verrat selbstverkündeter Ideale, um ein düsteres Kapitel unbewältigter Vergangenheit, das die meisten Schweden nur allzugern vergessen würden.

Sofern sie überhaupt darüber etwas wissen - denn wie sich das neutrale Musterland Schweden gegenüber den Balten aufführte, als die im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 von der Sowjetunion geschluckt wurden, gehört in seinen beklemmenden Details nach wie vor zu den Geheimnissen neuerer schwedischer Geschichte.

Noch Anfang dieses Jahres wies der sozialdemokratische Außenminister Sten Andersson jede Aufarbeitung dieser politischen Altlast brüsk zurück: »Es dient heute keinem - weder ist es von Nutzen für das Baltikum, noch hat es einen Nutzen für Schweden -, daß man in der Vergangenheit wühlt.«

Genau darauf aber sind Zeithistoriker aus. Sie müssen freilich, wie Karlis Kangeris vom Zentrum für Baltische Studien der Stockholmer Universität, mühsame Geplänkel mit den Archivaren des Außenministeriums ausfechten. Denn die halten auch nach Ablauf der Verjährungsfristen Dokumente zurück. Für Historiker ist es heute beinahe schon leichter, mit Informationen aus sowjetischen Quellen jene Geschehnisse vor einem halben Jahrhundert aufzuhellen, die für Schweden kein Ruhmesblatt sind.

Das neutrale Schweden hatte damals die sowjetische Annexion des Baltikums ohne Not als erster Staat nach Hitler-Deutschland faktisch anerkannt.

Schwedens Außenpolitik zielte darauf ab, Finnland näher an die skandinavischen Staaten heranzuziehen. Dazu war es nötig, die engen Bande Helsinkis zu den teilweise blutsverwandten Balten zu kappen. Denn für die »baltischen Randstaaten« war in Stockholms Nordeuropa-Konzept kein Platz.

Als die Hitler-Stalin-Verträge im August/September 1939 das Baltikum sowjetischem Einfluß überließen und Moskau daraufhin im Juni 1940 alle drei Baltenrepubliken okkupierte, schlug Schweden sich sogleich auf die Seite des Stärkeren.

Am 13. Juli 1940 erhielt die schwedische Reichsbank Anweisungen von der Estnischen und der Litauischen Zentralbank, deren in Stockholm deponierte Goldbestände an die Sowjetische Staatsbank zu übergeben. Estland hatte 2908 Kilogramm Gold in Schweden liegen, Litauen 1250 Kilo.

Statt das Gold und andere Guthaben zu blockieren, wie es fast alle Staaten taten, an die ähnliche Forderungen gerichtet wurden, wies Ministerpräsident Per Albin Hansson schon zwei Tage später die Reichsbank an, die verlangte Transaktion unverzüglich durchzuführen. Bereits am 15. Juli war Moskau im Besitz des baltischen Goldes.

Wegen »laufender Verhandlungen mit Rußland« sei es »besser, gleich diese Forderungen zu erfüllen, als dies später unter Druck tun zu müssen«, begründete Hansson, Schöpfer der »Volksheim«-Ideologie des schwedischen Wohlfahrtsstaates, sein Nachgeben.

Stockholm schickte dem Gold noch alle baltischen Schiffe hinterher, die damals in schwedischen Häfen ankerten. Auch die Gesandtschaftsgebäude der Baltenrepubliken in Stockholm wurden, samt Inventar und Archiven, an Moskau übergeben.

Für seine Vorleistungen wollte Schweden etwas haben. Bei Wirtschaftsverhandlungen mit Moskau um einen schwedischen Kredit von 100 Millionen Kronen drang Stockholm darauf, gleichzeitig alle schwedischen Ansprüche im Baltikum in Höhe von knapp 120 Millionen Kronen zu regeln.

Um die Russen geneigt zu stimmen, bescheinigte die Stockholmer Regierung den Sowjets am 6. November 1940 sogar die Rechtmäßigkeit der gewaltsamen Annexion des Baltikums: »Der Anschluß der Staaten Estland, Lettland und Litauen an die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ist ganz und gar freiwillig gewesen, und die schwedische Regierung hat auch jene Veränderungen anerkannt, die sich daraus ergeben haben.«

Wohlwollend versicherte daraufhin der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow den Schweden, daß ihre Entschädigungsansprüche im Baltikum prinzipiell Rechtens seien. Schweden sei damit, »außer Deutschland, das einzige Land, dem Vorzüge solcher Art gewährt« würden. Als es vom Februar 1941 an in Moskau um Bares ging, war die sowjetische Großzügigkeit schnell dahin. Die Russen weigerten sich, über ein im Bau befindliches Wasserkraftwerk in Kegums an der Düna zu verhandeln, ein Projekt, bei dem schwedische Firmen Forderungen von 12,5 Millionen Kronen hatten.

Die waren zwar im Rahmen einer Exportbürgschaft vom Staat garantiert, aber der wollte keineswegs einspringen. Schwedens Chefverhandler Gösta Engzell warnte die Gegenseite, daß in einem solchen Fall »die Frage zur Behandlung in den schwedischen Reichstag käme, wobei es dann sicherlich schwer wäre, eine für beide Parteien wenig wünschenswerte Diskussion zu vermeiden«.

In Geheimgesprächen mit der sowjetischen Gesandten konnte die Kraftwerksfrage schließlich durch ein Zusatzprotokoll geregelt werden. Diese Diplomatin, die dann noch öfter mit den Schweden in Baltenfragen kungelte, war Alexandra Kollontai, einst enge Vertraute Lenins und Verfechterin der freien Liebe im Kommunismus. Sie war von Stalin 1930 nach Stockholm abgeschoben worden.

Die Entschädigungsgespräche endeten am 30. Mai 1941 mit der Unterzeichnung eines Abkommens. Darin erklärte sich Moskau bereit, für schwedisches Eigentum im Baltikum im Gesamtwert von 77,3 Millionen Kronen eine Pauschalsumme von 20 Millionen zu zahlen.

Ein Sonderposten in dem monatelangen Gefeilsche waren 100 000 US-Dollar, die das schwedische Zündholzmonopol einst als Sicherheit bei der lettischen Regierung hinterlegt hatte. Die lettische Staatsbank hatte die Devisen noch vor der Annexion bei der Federal Reserve Bank in New York deponiert. Großzügig überließ Moskau den Schweden das Recht, diese Summe bei der US-Bank einzufordern. Die USA hatten jedoch, wie die meisten Staaten, die Annexion nicht anerkannt und sämtliche baltischen Konten gesperrt.

Da verließ wegen lumpiger 100 000 Dollar die Schweden jede Scham. Sie drängten fortan die Gesandten der für sie gar nicht existierenden lettischen Exilregierung in London und Washington, sich für eine Auszahlung des in New York blockierten Guthabens einzusetzen - freilich vergebens.

Als drei Wochen nach dem Entschädigungsabkommen der deutsche Angriff auf die Sowjetunion begann und die Nazis das Baltikum besetzten, wollte Stockholm plötzlich mit Berlin über eine »Regelung des schwedischen Eigentums im Baltikum« reden. Denn aus Moskau war erst eine Rate von 2,4 Millionen Kronen eingetroffen.

Das war aber vorerst auch alles, was die Schweden für ihren Verrat an den Balten kassieren konnten. Denn die Nazis weigerten sich unter Hinweis auf das sowjetisch-schwedische Abkommen, ihre baltische Beute zu teilen.

Als von 1943 an die Sowjets wieder die Oberhand bekamen, übten sie Druck auf Schweden aus. Moskau warf Stockholm Neutralitätsverletzungen zugunsten der Deutschen vor. Dafür sollten die Schweden nun tätige Reue zeigen. Den Russen ging es vor allem um sogenannte sowjetische Flüchtlinge auf schwedischem Boden.

Davon gab es eine ganze Reihe: Soldaten, die sich bei Kriegsbeginn nach Schweden gerettet hatten, aus Gefangenenlagern in Deutschland, Norwegen und Finnland geflüchtete Rotarmisten, Zivilisten aus Konzentrationslagern.

Vor allem aber waren viele tausend Balten über die Ostsee geflüchtet, dazu 167 sogenannte baltische Militärinternierte - Wehrmachtsangehörige, darunter auch SS-Freiwillige.

Die alle wollte Stalin nun in die »sozialistische Heimat« zurückgebracht sehen. Moskau verwies auf ein Geheimabkommen mit den Alliierten, das die Zwangsrepatriierung von Sowjetbürgern vorsah. Drohend ließ die Sowjetregierung Stockholm wissen, daß »die russische Seite es nicht verstehen würde, wenn die schwedische Regierung Schwierigkeiten bei der Auslieferung machte«.

Schon im Oktober 1944 wurden in einer geheimen Nacht-und-Nebel-Aktion 870 sowjetische Militärpersonen aus Lagern bei Stockholm in die Hafenstadt Gävle gebracht und über Finnland nach Leningrad transportiert.

Sowjetischen Militärs und Geheimdienstagenten war Zugang zu den Lagern gewährt worden, so daß sie die Internierten bearbeiten konnten - etwa mit Drohungen, gegen ihre zurückgebliebenen Angehörigen vorzugehen. Bis Ende 1945 wurden noch 1500 weitere Russen »weggeführt«, wie der damalige Justizminister Möller es umschrieb.

Auch 146 Balten, die in deutschen Uniformen gedient hatten, überließ Schweden der Rache Stalins. Diese Episode schilderte der Schriftsteller Per Olov Enquist 1968 in seinem Tatsachenroman »Die Ausgelieferten«. Darin beschreibt er eindrucksvoll, wie sich Verzweifelte selbst verstümmelten, zwei Dutzend durch Hungerstreik so geschwächt waren, daß sie in Trelleborg an Bord des sowjetischen Repatriierungs-Frachters geschleppt werden mußten, einer noch am Kai Selbstmord beging.

Nur bei baltischen Zivilflüchtlingen sträubte sich die Regierung. Etwa 6500 von ihnen galten den Schweden als Landsleute - sogenannte Estland-Schweden, die schon vor 1944 heimgeholt worden waren. Daneben waren aber noch 22 000 Esten, 3500 Letten und 500 Litauer nach Schweden geflohen.

Diesen »Stein des Anstoßes« wollten die Sowjets »unbedingt weggeräumt« sehen. Für Moskau sei dies eine Prinzipienfrage, die »das Prestige der Sowjetunion berührte«. Drohend fragte Vizeaußenminister Dekanosow die sich zierenden Schweden: »Wünscht die schwedische Regierung wirklich, lieber sentimentalen Stimmungen nachzugeben, als sich guter Beziehungen zur Sowjetunion zu versichern?«

Stockholm erlaubte daraufhin sowjetischen Kommissionen auch Zugang zu den Baltenlagern und setzte deren Insassen damit Repressionen aus. Tausende Balten flohen damals aus Schweden. Schließlich übergab Schweden den Sowjets auch noch 2376 internierte deutsche Soldaten. 700 Boote, mit denen Flüchtlinge über die Ostsee gekommen waren, wurden in die Sowjetunion zurückgeführt.

Die Auslieferung der Balten wurde von den Kommunisten, aber auch von Gewerkschaftern und führenden Sozialdemokraten befürwortet. Dazu gehörte der spätere Nobelpreisträger und als internationaler Moralapostel hoch angesehene Gunnar Myrdal, damals Handelsminister in der Regierung Hansson. Er war 1945 angesichts einer drohenden Nachkriegsrezession auf gute Wirtschaftsbeziehungen zur siegreichen Sowjetunion bedacht.

Wegen eindeutiger Asylgesetze und wegen der Zahl der Betroffenen, deren zwangsweise Rückführung weltweites Aufsehen erregt hätte, beschloß der Staatsrat aber dann doch, die Moskauer Forderung nach ausnahmsloser Rückführung der »baltischen Sowjetbürger« abzulehnen.

Schließlich ließen auch die Sowjets ihre Maximalforderung fallen. Sie wünschten von Schweden einen Kredit von einer Milliarde Kronen, über den bis Herbst 1946 verhandelt wurde - wiederum verquickt mit den alten schwedischen Baltikumansprüchen.

Nun aber wollte Moskau nicht einmal mehr jenes Viertel zahlen, zu dem es sich 1941 verpflichtet hatte. Schweden bekam statt 20 gerade noch 11 Millionen Kronen.

Über einige Restposten wurde noch bis 1964 gefeilscht. Dann überließen die Sowjets Schweden ein »Clearingkonto« in Stockholm mit einem Guthaben von 60 000 Kronen. Dazu kamen noch 1,4 Millionen Kronen, die Lettlands Regierung anno 1938 der schwedischen Waffenschmiede Bofors als Anzahlung für eine Kanonenlieferung überwiesen hatte. Zu der war es nicht mehr gekommen. Da _(* Saudargas (Litauen), Jurkans ) _((Lettland), Meri (Estland); nach der ) _(Aufnahme diplomatischer Beziehungen im ) _(August. ) Moskau von dem Geld nichts wußte, durften sich daraus nunmehr schwedische Baltikumgläubiger bedienen.

Alles in allem: ein mieses Geschäft für Schweden und mit einer Hypothek belastet, die noch nicht getilgt ist, zumal das offizielle Stockholm seine eigenwillige Baltenpolitik noch bis in jüngste Zeit beibehielt.

Baltische Unabhängigkeitsbestrebungen wurden selbst in der Gorbatschow-Ära schwedischerseits als »Politik revanchistischer Emigrantenkreise« denunziert. Außenminister Andersson beharrte darauf, daß die Baltenstaaten »nicht okkupiert« worden seien. Sein Staatssekretär Pierre Schori urteilte noch im Vorjahr, daß nur »eine extreme Minderheit« im Baltikum die Unabhängigkeit wolle.

Estlands Außenminister Lennart Meri zögerte denn auch nicht, die Frage »unseres Goldes« anzusprechen, als im August dann doch - wie mit aller Welt - diplomatische Beziehungen aufgenommen wurden. Ein konservativer Reichstagsabgeordneter plädiert für ein Gesetz, das Esten und Litauern Entschädigung für ihr Gold in Höhe von etwa 80 Millionen Mark garantieren soll.

Bürgerliche Politiker befürworten auch die Einsetzung einer Historikerkommission, die den Gesamtkomplex schwedischer Baltikumpolitik untersuchen soll. So weiß etwa der frühere schwedische Botschafter in London, Leif Leifland, der »mit der Erklärung dieser Politik in 40 Diplomatenjahren mehr Schwierigkeiten hatte als mit jeder anderen Frage«, bis heute nicht, »warum wir das alles getan haben«.

Leifland ist sich aber sicher: »Für Menschen in unserem Land ist das immer noch eine offene Wunde.« o

* Saudargas (Litauen), Jurkans (Lettland), Meri (Estland); nach derAufnahme diplomatischer Beziehungen im August.

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