»Das ist großes Unrecht«
SPIEGEL: Herr Cremerius, für viele Ihrer Kollegen ist ganz normal, was Sie verdammen: Sex, sagt beispielsweise nach einer niederländischen Untersuchung jeder dritte Therapeut, sei normaler Teil einer Therapie.
Cremerius: Ich bin da ganz rigoros: Das darf nicht sein, unter keinen Umständen. Wer zum Arzt oder zum Psychotherapeuten geht, ist krank und braucht Hilfe. Wenn der Helfer sich wie ein Liebhaber benimmt, verrät er die ärztliche Situation und betrügt die Patientin.
SPIEGEL: Worin liegt der Betrug?
Cremerius: Eine Frau, die mit dem Therapeuten geschlafen hat, wird ja nicht enttäuscht wie im normalen Leben, leidet nicht wie im normalen Leben, sondern es ist viel schrecklicher: Sie wird an einer Stelle traumatisiert, die ihr nicht bewußt ist. Sie weiß meist nicht, daß das nicht Liebe ist, sondern Übertragung, wie wir Psychotherapeuten sagen. Das heißt, daß frühkindliche Bilder auf den Therapeuten projiziert werden: die Abhängigkeit, die Hilfsbedürftigkeit der ersten Lebensjahre.
SPIEGEL: Ihre Sehnsucht nach Liebe hat also nichts mit dem Therapeuten zu tun?
Cremerius: Ganz und gar nicht. Da ist jemand, der freundlich zu einem ist, einem zuhört, mit einem redet wie niemand zuvor; der ein bißchen Papa ist oder auch die pflegende, mütterliche Figur, der man sich anvertraut wie einer Mutter - vielleicht, weil man diese Mutter nie hatte. Die Therapie beruht auf Wiederholungen frühkindlicher Phantasien, auf Projektionen von inneren Vorgängen. Diese Gefühle sind sehr intensiv, und es ist völlig normal, ja sogar erwünscht, daß die Patientin sie auf den Therapeuten überträgt . . .
SPIEGEL: . . . und versucht, ihn zu verführen?
Cremerius: Das Wort Verführung ist hier völlig fehl am Platz. Das ist mir schon zu psychologisch gedacht, mit zuviel Verständnis für einen Täter. Der Therapeut muß sich sexuell zurückhalten. Das ist die Voraussetzung für diesen Beruf. »Nihil nocere«, lautet das Prinzip des Paracelsus: nicht schaden.
SPIEGEL: Wer das Abstinenzgebot nicht befolgen kann, gehört nicht in diesen Beruf?
Cremerius: Der Therapeut ist, wie ein Priester, Träger eines »Sakraments«. Er darf nicht vergessen: Für die Patientin ist er eine erhöhte Figur, jemand, dem sie sich ausliefert, der für sie ein geheimes Wissen hat über menschliche Beziehungen, über das Unbewußte. Er darf nicht plötzlich die Rollen wechseln, darf nicht als normaler, begehrender Mann auftreten - das stiftet entsetzliche Verwirrung.
SPIEGEL: In einer neuen amerikanischen Untersuchung haben 87 Prozent der befragten Seelenheiler erklärt, sie hätten schon einmal eine Patientin begehrt.
Cremerius: Es entsteht natürlich große Intimität. Wenn man 100 Stunden und mehr so zusammenarbeitet, dann kann schon eine sehr große Nähe entstehen. Das ist riskant, selbstverständlich. Aber der Therapeut muß sich darüber im klaren sein, was mit ihm geschieht.
SPIEGEL: Er muß sich zusammenreißen . . .
Cremerius: . . . und sich fragen: Hat das mit mir zu tun? Kompensiere ich einen Mangel? Er sollte ja auch eine ausgeglichene Sexualität haben, damit er geschützt ist vor Stauungen. Er muß an sich selbst arbeiten, muß wissen, was in ihm vorgeht. Denn die Problematik beginnt, wenn aus Phantasie Aktion wird.
SPIEGEL: Und was ist, wenn er versagt?
Cremerius: Ein Therapeut, der das Abstinenzgebot mißachtet, hat kein Anrecht auf Psychologie, auf Verständnis. Was er tut, ist ein sehr großes Unrecht.
SPIEGEL: Ein Verbrechen?
Cremerius: Ich sage da: Alarm. Staatsanwalt. Fünf Jahre Gefängnis. Praxisentzug. Da bin ich rigoros. Das geht doch auch sonst nicht im Leben, daß man einfach über eine Frau herfällt, wenn die Gelegenheit günstig ist.
SPIEGEL: Dann müßten viele Therapeuten im Gefängnis sitzen.
Cremerius: Was ich allein in meinem 42jährigen Berufsleben gesehen habe, ist grauenhaft. Bis vor wenigen Jahren galt sexueller Mißbrauch in der Therapie als der rare Sonderfall. Jetzt wissen wir: Das gibt es vielhundertfach. Das kommt alle naselang vor. Viele Frauen waren bei mir und haben Hilfe gesucht, nachdem so etwas mit ihnen geschehen war. Sie waren zerstört, völlig verunsichert, traumatisiert.
SPIEGEL: Aber diese Opfer haben niemandem, außer Ihnen, davon erzählt. Warum schweigen die Frauen?
Cremerius: Das ist für sie sehr schwierig. Allen, deren Berichte mir glaubhaft erschienen, habe ich gesagt: Ich kenne einen vernünftigen Richter, gehen Sie dorthin, ich würde mich dann als Gutachter hören lassen. Aber von 60 oder 70 Frauen ist keine einzige meinem Rat gefolgt.
SPIEGEL: Und warum nicht?
Cremerius: Manche waren verheiratet und wollten nicht, daß es der Mann erfährt. Andere hatten große Angst vor der Öffentlichkeit, vor der peinlichen Bloßstellung.
SPIEGEL: Da spielt wohl auch die Angst vor dem Justizapparat eine Rolle?
Cremerius: Die Frauen schweigen, weil sie wissen, daß sie auf Institutionen treffen, die im Besitz von Männern sind. Und da heißt es erst einmal: Wenn das stimmt, was du sagst, dann warst du auch selbst schuld.
SPIEGEL: Das alte Spiel: Männer verführen Frauen . . .
Cremerius: . . . und wenn sie es geschafft haben, sagen sie: Du bist eine Hure. Das ist noch immer das soziale Klima. Ich verstehe die Angst der Frauen vor den Behörden. Wenn sie zu einem Richter, zu einem Polizisten gehen, müssen sie beweisen, daß das alles stattgefunden hat. Und wenn der Übergriff nicht fünf Minuten her ist und man keine Spermien findet, wird der Richter sagen: alles Phantasien. Er wird nach intimen Details fragen: Wo stand die Couch? Worüber habt ihr geredet? Dann sagt sie: Der hat mich ausgezogen.
SPIEGEL: Und der Richter fragt: Warum haben Sie sich nicht gewehrt?
Cremerius: Es ist sehr schwer für einen Richter oder einen Staatsanwalt, der nicht aus der psychologischen Welt kommt, das zu verstehen: diese Dynamik der therapeutischen Situation. Die Übertragung und was daraus folgt.
SPIEGEL: Eine ausweglose Situation also?
Cremerius: Es kann sich nur etwas ändern, wenn die Öffentlichkeit von diesen Dingen erfährt, wenn sie sensibel wird. Wenn der Jurist kapiert, was das Wort Psychotherapie bedeutet. Wenn der Therapeut weiß, daß die Öffentlichkeit mit ihm Schlitten fährt, wenn er sich nicht beherrschen kann.
SPIEGEL: Was tun Sie, wenn Sie von Kollegen wissen, die ihre Macht über Frauen mißbraucht haben?
Cremerius: Wenn sich ein Kollege anvertraut, dem es einmal passiert ist, der es bitter bereut, dann werde ich ihm helfen. Ich werde ein Gespräch zu dritt führen, mit ihm und der Patientin, und prüfen, ob sie eine Folgetherapie braucht. Von dem Kollegen verlange ich dann, daß er ihr diese Therapie bezahlt. Bei Wiederholungstätern sage ich: Staatsanwalt. Erst gehst du fünf Jahre ins Gefängnis, dann kannst du wieder zu mir kommen.
SPIEGEL: Was unternehmen Sie, wenn eine Patientin Ihnen sagt, ein Kollege habe sie mißbraucht?
Cremerius: Das ist sehr schwierig. Ich kann den Kollegen doch nicht ansprechen - der sagt nur: Hören Sie mal, der können Sie doch nicht glauben.
SPIEGEL: Sie schützen also den Verbrecher?
Cremerius: Ich kann nur hoffen, daß die Frau ihn anzeigt. Ich kann doch nicht selbst zum Richter gehen, ich habe doch keine Beweise. Ich kann nur auf Aufklärung setzen. Und mir wünschen, daß die Opfer trotz aller Schwierigkeiten irgendwann bereit sind, sich öffentlich, mit ihren Namen, zu Wort zu melden.
SPIEGEL: Gibt es in diesem Beziehungsgeflecht eigentlich nur Täter und Opfer? Kann es nicht sein, daß sich Therapeut und Patientin tatsächlich verlieben?
Cremerius: Durchaus. Es gibt Therapeuten, die ihre Patientinnen geheiratet haben. Aber ich stehe dem skeptisch gegenüber, weil . . .
SPIEGEL: . . . das eine asymmetrische Beziehung bleibt, ein Machtgefälle zwischen dem Helfer und der Frau, die sich ihm anvertraut hat?
Cremerius: Es muß unbedingt geklärt werden, daß die Patientin nicht ihre Projektion heiratet, den Therapeuten, sondern wirklich einen Mann, den sie liebt. Ich rate in diesen Fällen, sofort die Therapie abzubrechen und dann ein Jahr zu warten, bis man weiß, ob das Übertragung ist oder wirklich Liebe.
SPIEGEL: Das klingt sehr hart. Psychotherapie, sagt Freud, ist ein »unmöglicher Beruf«.
Cremerius: Und Psychotherapie kann gefährlich sein. Das müssen die Patienten, vor allem die Frauen, begreifen.
SPIEGEL: Also ein Warnschild an die Praxistür: Vorsicht, Gefühle?
Cremerius: Das nicht gerade. Wichtig ist, daß Patienten vor allem eines wissen: Psychotherapie ist ein Verfahren, das aus Worten besteht. Körperliche Berührungen gibt es im Prinzip nicht. Das ist Primat, Gesetz, Maxime.