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»DAS IST JETZT KEIN GEFLUNKER!«

aus DER SPIEGEL 45/1967

Neunzehn, zwanzig und einundzwanzig Jahre liegen die fünf Tötungen zurück, über die ein Schwurgericht in Mainz verhandelt. Und Bürger der Stadt, in welcher die Lerchen vom elften elften bis zum Aschermittwoch singen, rufen »Aufhängen« in der Sitzung.

Der Vorsitzende rügt diese Bürger nicht. Er fordert den Verteidiger auf, seinen Ton zu mäßigen, und die Bürger danken ihm, wiederum ungerügt, mit Händeklatschen und Bravorufen.

»Sie identifizieren sich in eigentümlicher Weise mit ihrem Mandanten«, verdächtigt der Vorsitzende den Verteidiger. Die Bürger im Saal drücken ihr Entzücken mit Gelächter aus.

Sie sind überzeugt davon, daß sich der Angeklagte seit 21 Jahren der Gerechtigkeit entzieht, und damit einverstanden, daß den Mühlen Gottes mit dem Vorschlaghammer nachgeholfen wird. Das Urteil, das Anfang dieser Woche gefällt wird, muß nicht mit Spannung erwartet werden.

Im Juni 1946 wurde der Feldhüter Johann Avril, 39, bei Bobenheim, Kreis Frankenthal, erschossen, als er an Kartoffeldiebe geriet. In der Nacht vom 24. auf den 25. November 1947 wurden in Frankfurt Albert Neumann, 35, seine Frau Rosa, 44, und die Untermieterin der Neumanns, Anni Recklau, 29, erschossen. In der Nacht auf den 14. Januar 1948 fiel in Worms der Bäckermeister Josef Berghold Pistolenschüssen zum Opfer. Seine Frau wurde schwer verletzt.

In allen Fällen blieben die Ermittlungen ohne Ergebnis. Doch 1959 konnte das Bundeskriminalamt den beteiligten Ermittlungsbehörden bekanntgeben, daß in Frankfurt und in Worms Geschosse aus ein und derselben Waffe, einer 7,65 Millimeter Langenhan-Pistole. verwendet worden waren. Im Sommer 1966 übergab Karl-Josef Lambert der Polizei in Worms eine 7,65 Millimeter Langenhan-Pistole. Es handelte sich um die Waffe, aus der 1947 in Frankfurt und 1948 in Worms geschossen worden war.

Die Waffe hatte Frau Lambert von ihrer Schwester erhalten, die, heute als Mrs. Carpenter in Amerika lebend, in erster Ehe mit Johann Peter Schwöbel verheiratet gewesen ist. Sie hatte ihrer Schwester die Waffe übergehen, damit diese sie verschwinden lasse.

Schon 1963 fand Lambert die Waffe in seinem Keller. Er schwieg nicht ohne Grund drei Jahre lang. Schwöbel hatte einen Komplicen, als er zwischen 1946 und 1948 auf Raub ging: Hans Arndt. Der ist 1953 gestorben. Doch seine Frau ist die heutige Frau Lambert gewesen. Als Ehefrauen Arndt beziehungsweise Schwöbel hatten die Schwestern mit dem Mädchennamen Rupp nicht nur erfahren, daß ihre Männer Raubüberfälle begingen, sondern auch, daß geschossen worden war.

1966 überwand sich Lambert. Seine Frau habe nicht mehr schlafen können. Johann Peter Schwöbel, Schlosser in Worms wurde verhaftet, und ihm widerfuhr damit nichts, was er nicht kannte. Schwöbel ist vielfach vorbestraft. Vor 1946 und nach 1948 ist er wiederholt an das Gesetz geraten doch niemals, davor und danach, weil er eine Waffe angewendet hatte.

Schwöbel sagte in der U-Haft aus. Er schilderte die Überfälle von Frankfurt und Worms, doch stellte er sie so dar, daß er zwar beteiligt, jedoch nicht der Schütze gewesen sei. Geschossen habe vielmehr Arndt. Die Tötung des Johann Avril im Jahr 1946 kam vorerst nicht zur Sprache. Dafür schüttete Schwöbel ein Füllhorn von Bekenntnissen zu bislang unaufgeklärten -- nur allesamt verjährten -- Straftaten der Jahre von 1946 bis 1948 über die Vernehmer aus.

Fragen und Vorhalte setzten ihm zu. Zeugen hatten die Schüsse von Frankfurt, ein Opfer hatte trotz schwerer Verletzungen die Bluttat von Worms überlebt. Schwöbel deutete an, daß er sein Gewissen entlasten müsse, und bat um Bedenkzeit. Nachdem ihm angedeutet worden war, es sei da noch ein dritter, bislang noch gar nicht erörterter Komplex, gestand Schwöbel am 8. August 1966, er habe 1946 auf den Feldhüter Johann Avril geschossen und 1947 in Frankfurt das Ehepaar Neumann getötet.

Mit diesem dürren Geständnis, es ist buchstäblich nur einen Satz lang, begnügten sich die Ermittler. Es ist anzunehmen, daß sie die zunächst von Schwöbel mit Arndt als Schützen geschilderten Tatabläufe ganz einfach für wahr unterstellt haben, nur eben jetzt mit Schwöbel als Täter. Im Oktober 1966 widerrief Schwöbel sein Geständnis, bevor ihn sein Verteidiger besucht hatte.

Johann Peter Schwöbel, 44, ist 1,70 groß. Ein Menjou-Bärtchen unterstreicht nur das zigeunerhafte seiner Erscheinung. Die schwarzen Haare, zurückgekämmt, wirken angeklebt, machen die kahle Stirn zu der eines Kerls, der »die Stirn hat«. Er kann reglos stehen, mit unbewegtem Gesicht sprechen. Dann wieder drängt sein Ausdruck, und gezielte Gebärden unterstreichen. Manchmal bricht er unversehens aus, spielt eine Szene vor, verwendet dabei das Taschentuch als Requisit zur Darstellung eines Revolvers. Ein kaltblütiger Rechner? Er verführt jedenfalls zu Voreingenommenheit.

Er ist wer, aber er stiehlt auch Anerkennung. Als Soldat wird er nicht knapp dekoriert. Er wird aber auch einmal wegen unberechtigten Tragens von Auszeichnungen degradiert. Er lernt gut, bestiehlt aber auch den Lehrherrn. Er gilt als guter Arbeiter, versucht es aber auch anders. Er ist ein uneheliches Kind: Er könnte eine trostlose Kindheit ausbreiten. Doch die wird nicht näher erörtert. Er hat seine Mutter in dankbarer Erinnerung. Ihr Andenken soll geschont werden.

Trotzdem versteht er sehr wohl, den Zwang und die Ungerechtigkeit des Lebens ins Feld zu führen. Hunger und Armut sollen die Raubzüge der Jahre von 1946 bis 1948 erzwungen haben. Er kann sich ausdrücken, zeitweise war er Klassenbester. Er beherrscht den ersten Vormittag seines Prozesses. »Moment, Moment«, fällt er dem Vorsitzenden, dem Landgerichtsdirektor Assmann, 56, ins Wort. »Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein -- ich habe nie etwas gesagt von Figuren«, korrigiert er.« Reden wir aneinander vorbei?« erkundigt er sich.

Den Tod des Johann Avril will Schwöbel 1946 unbeabsichtigt verursacht haben. Er war mit zwei anderen beim Kartoffelstehlen, als Feldhüter mit Stöcken hereinbrachen. Schwöbel sagt, er habe blindlings im Abdrehen vier Schüsse hintereinander abgefeuert. Er habe den Rückzug eines seiner Begleiter decken wollen, der erst acht Tage zuvor aus russischer Gefangenschaft zurückgekommen war, der vor Wasser kaum laufen konnte.

Die Waffe? Die hatte ihm Arndt geliehen. Nur für Warnschüsse will er sie mitgenommen haben. Als Arndt hörte, daß mit der Waffe ein Mann getötet worden war, soll er Schwöbel fortan zur Mitwirkung an Straftaten mit der Drohung gezwungen haben, er werde ihn wegen Avril auffilegen lassen. Schwöbel sagt, er habe die Drohung ernst genommen.

Am Nachmittag des ersten Tages führt Schwöbel eine neue Person ein. Dem Schwarzhändler Neumann in Frankfurt war 1947 eine Ladung Wein angeboten worden, 75 000 Mark wollte er dafür zahlen. Es gab die Weinladung aber nicht: Arndt und Schwöbel wollten nur das Geld holen. Vor seinem Geständnis hat Schwöbel den Hergang geschildert, doch da sollte ja noch Arndt geschossen haben.

Jetzt, in der Sitzung, will Schwöbel auf einmal gar nicht im Haus gewesen sein, als die Schüsse fielen. Er hat es nur geöffnet. Mit Arndt zusammen soll ein gewisser Kurt »Sigi« Breuer die Tat ausgeführt haben. In Worms 1948 will Schwöbel überhaupt nicht dabeigewesen sein. Der Vorsitzende hat wie ein Boxer den Gegner aus der Reserve gelockt, indem er scheinbar die Deckung vernachlässigte. Vorhalte prasseln, Schwöbel verstrickt sich im Feuer des pausenlosen »Ich halte Ihnen weiter vor ...

Von hier an ist keine Frage mehr, wer Herr des Verfahrens ist: der Vorsitzende, Herr Assmann. Die Geschworenen, die richterlichen Beisitzer stellen keine Fragen in diesem Prozeß. Herr Assmann führt diese Verhandlung, und einmal wird vielleicht sichtbar, warum ei: die Szene so imperatorisch übernimmt. Am Nachmittag des zweiten Tages wird der Zeuge Rudolf Recklau gehört, 54 ist er, Kraftfahrer zur Zeit.

Recklau wohnte 1947 mit seiner Frau bei den Neumanns. In der Tatnacht geriet er zuerst in ein Handgemenge mit einem der Einbrecher. Dann, als ein Schuß krachte, floh er im Nachthemd über den Balkon. Ihm ist die Frau erschossen worden in jener Nacht, nachdem er entkommen war. Die Täter setzten sie in einen Stuhl, die Waffe an ihren Kopf, und drückten ab. Recklau ist am Tatort von der Polizei der Feigheit bezichtigt worden. Später hat man ihn fünf Wochen lang in Haft genommen. Ein Phantast hatte sich der Tat beschuldigt. Seine Angaben schienen glaubhaft, widersprachen denen Recklaus.

Herr Assmann schildert dieses Schicksal eindringlich und ausführlich. Recklau steht da, kein Muskel zuckt in seinem Gesicht, nur dicke Tränen tropfen nieder. Dies ist ein Schicksal, das nach Gerechtigkeit schreit, an dem man sich entschließen kann, alles für die Ergründung der Wahrheit einzusetzen. Herr Assmann kennt das Schicksal Recklaus aus den Akten auswendig. Schon am ersten Tag hat er Schwöbel vorgehalten, der Zeuge Recklau werde kommen und ihn wiedererkennen. Dieser Zeuge habe sogar die Nase Schwöbels genau beschrieben.

Doch die Nase Schwöbels hat nichts Besonderes, beim besten Willen nicht. Der Zeuge Recklau hat Schwöbel in der Zeitung abgebildet gesehen, bevor er ihm im Saal gegenübersteht und sagt, ja, dies sei der Mann, mit dem er im November 1947 gekämpft hat. Nachdem Schwöbel verhaftet war, ist er dem Zeugen Recklau nicht etwa zusammen mit anderen Männern »südländischen Typs« vorgeführt worden, damit dieser ihn zweifelsfrei erkennt.

Die Gegenüberstellung im Saal ist dramatisch inszeniert. Nur bedeutet sie nichts. Und in diese Szene hinein fährt auch noch Herr Assmann mit voller Stimme: »Herr Schwöbel, wir haben hier den Kurt Breuer... Jetzt wird es Ernst. Jetzt gibt"s kein Kneifen mehr ... Jetzt müssen Sie sich etwas anderes ausdenken.« Die Staatsanwaltschaft hat einen gewissen Wünsche ausfindig gemacht, der neben drei anderen Namen zeitweise auch den Namen Kurt Breuer, genannt Sigi, geführt hat.

Dieser Kurt Breuer wird von Schwöbel nach einem Photo nicht wiedererkannt. Doch Schwöbel schließt auch nicht aus, daß er »sein Breuer« ist. Der Mann reist an -- und hat mit der ganzen Sache nichts zu tun.

Es mag einen Kurt Breuer geben, nur war dieser der falsche. Vielleicht aber war überhaupt kein dritter Mann in Frankfurt dabei? In diesem Prozeß unterbleibt. was Erfahrungen mit dem Fehlurteil im Strafprozeß fordern. Herr Schwöbel, wäre der Angeklagte anzusprechen, es gibt eine Furcht davor, daß die Wahrheit unglaubhaft erscheint. Es kann einer derart verzweifeln, daß er lügt. Daß er zum Beispiel einen dritten Mann als Schützen einführt, weil er fürchtet, man werde ihm nicht glauben, daß er nicht geschossen bat.

Diese Beschwörung Schwöbels unterbleibt in Mainz. Frau Berghold, die 1948 in Worms die Ermordung ihres Mannes schwerverletzt überlebt hat, will Schwöbel als den maskierten Einbrecher, der geschossen hat, wiedererkennen. Nach Schwöbels Verhaftung verschaffte man ihr Gelegenheit, Schwöbel »unbemerkt« zu sehen. Sie sagt in Mainz, sie habe ihn erkannt. Ein Beamter, der dabei war: Sie hat ihn nicht erkannt.

Im Fall Neumann hat der »Größere« geschossen, bevor der Zeuge Recklau entkam. Dieser Schuß ging in eine Kommode, er stammte nicht aus der 7,65 Langenhan, sondern aus einer 9-Millimeter-Radom. Muß deshalb Schwöbel die 7,65 gebraucht haben, aus der die tödlichen Schüsse stammten? Arndt war größer als Schwöbel, war Linkshänder. Der »Größere«, so Zeuge Recklau, soll indessen mit der rechten Hand geschossen haben.

Die Zeugen haben sich bis heute nur zu oft widersprochen. Der »Kleinere« soll blond gewesen sein, einen grünlichen Mantel getragen haben. Dann wiederum war er schwarzhaarig und trug eine schwarze Lederjacke. Schwöbels Verteidiger will sich in die Widersprüche vertiefen. Herr Assmann widersetzt sich ihm wie dem Teufel. Er unterbricht Ihn, fragt selbst, beanstandet Fragen.

Auf dem Höhepunkt hält es der Vorsitzende für selbstverständlich, daß der Zeuge Recklau die Widersprüche in den Protokollen damit erklärt, er habe sich diese vor Unterschrift nicht durchgelesen. Wenn Zeugen damit in anderen Prozessen kommen Und endlich spottet der Vorsitzende sogar: »Herr Recklau, wenn Sie noch mal so ein Erlebnis haben nun, dann soll sich Herr Recklau um alles in der Welt die Farbe des Schlipses, die Schuhgröße und ähnliches merken. Herr Assmann, der dem Angeklagten vor Eintritt in die Beweisaufnahme vorgehalten hat, es werde ein Zeuge kommen, der sogar seine Nase genau beschrieben habe -- Herr Assmann distanziert sich nunmehr vom Wert von Zeugenaussagen, mindestens von denen, die sich auf zu weit zurückliegende Vorgänge beziehen. Doch wann liegt ein Vorgang zu weit zurück?

Es gab von 1946 bis 1948 eine Gang zwischen Worms und Frankfurt. Der gehörte Schwöbel an, der gehörte Arndt an. In Mainz hat man sich wie mit Arndt auch nicht mit Herrn Muth befaßt. Auch der gehörte der Gang an. 1959 beging er Selbstmord, als er zu einem Verhör geholt werden sollte, in dem es nur um den Handel mit Chemikalien gegangen wäre, die zum Weinpantschen verwendet werden. Einmal dachten die Ermittler übrigens schon vor Jahren an Schwöbel. Aber dann stand sein Name in einem Haftbuch, dann sah es so aus, als habe er zur Zeit der Tat in Frankfurt eine Strafe verbüßt. Das Haftbuch ist verschwunden. Herr Muth hatte gute Beziehungen,

Es hieß in Mainz: »Das ist jetzt kein Geflunker.« Wer sprach so, der Angeklagte? Ach nein: Herrn Assmann gefiel es, ein wenig Theater mit den Beteiligten zu spielen. So sträubte er sich etwa gegen Beweisanträge, zierlich und mürrisch -- um dann jählings mitzuteilen, das angeforderte Beweismittel sei gerade eben eingetroffen, liege vor ihm und werde nun schreckliche Wirkung tun, wenn auch ganz anders, als vom Antragsteller erwartet. Am Ende blieb Herrn Assmann, in seinen Überführungsclinch verstrickt, tatsächlich nur die Beteuerung »Das ist jetzt kein Geflunker«.

Geht es Herrn Assmann um den Beweis dafür, daß sich alle Schuld noch auf Erden rächt? Herr Assmann, den Verteidiger zum Plädieren drängend, kramte in seinem Erfahrungsschatz. Ein kluger Mann habe ihm einmal gesagt: Für den Menschen hat der Tag 24, für den Juristen 48 Stunden. Man kann sich aber auch eine Gerechtigkeit vorstellen, der es nicht auf Stunden ankommt und nicht auf Jahre -- vielleicht nicht einmal auf eine Verurteilung durch ein Schwurgericht der Bundesrepublik.

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