»Das kann doch nicht alles gewesen sein«
Zum letztenmal gesehen wurde er in seinem fünfzigsten Lebensjahr, an einem Sonntagvormittag im August vergangenen Jahres auf der Insel Sylt, am Strand südlich von Westerland.
Dort sprach er im Vorbeigehen einen Strandvogt an, mit dem er sich ein bißchen angefreundet hatte, und fragte nach gemeinsamen Bekannten. Der Strandvogt hatte sie aber nicht gesehen. Es war Westwind, die See ziemlich rauh, kein Badewetter.
Abends fiel dem Strandvogt ein Mercedes auf, der noch ziemlich spät auf einem der Parkplätze hinter den Dünen stand. Früh am nächsten Morgen, das Auto stand immer noch da, fand der Strandvogt am Wasser herrenlose Männerkleider, die ihm bekannt vorkamen, und verständigte die Polizei.
Seither ist der Mann verschollen: Karl-Heinz W., mittelständischer Un-
* Darsteller Liv Ullmann, Erland Josephson in Ingmar Bergmans Film »Szenen einer Ehe«.
ternehmer aus Bremerhaven, typischer Selfmademan, in zweiter Ehe verheiratet, zwei Kinder.
Seine Frau identifizierte die Kleider. Die Leiche des Mannes aber ist nicht gefunden worden, nirgendwo. Und das kann eigentlich nicht sein. Dort, wo Karl-Heinz W. verschwunden ist, werden Leichen Ertrunkener irgendwann wieder angespült, meist nach wenigen Tagen, manchmal ein Stück vom Ort des Unfalls entfernt. Nicht so in diesem Fall. Kein Unfall also?
Wenige Wochen später verzog aus Bremen eine Frau, mit der Karl-Heinz W., ziemlich unverhohlen, eine Affäre hatte: Susanne S., gebürtige Österreicherin, Witwe eines betuchten Südamerikaners, gut fünfzehn Jahre jünger als W., attraktiv, agil.
Das Haus, das sie erst nach dem Tod ihres Mannes erworben hatte, verkaufte sie Knall auf Fall. Freunden, die von der Affäre mit W. wußten, sagte sie, ihr sei »der Mann meines Lebens« begegnet, verschwieg aber ihre Abreise, hinterließ auch nicht eine neue Adresse. Kein Zufall also?
Sollte da einer, sollten da zwei etwas geschafft haben, wovon viele andere bloß träumen: eines Tages abzuhauen, einfach wegzugehen -- »mal schnell Zigaretten holen« und niemals zurückkommen; fortbleiben von bestehenden Bindungen und auferlegten Verpflichtungen; die angestammte Identität ablegen und in eine andere Existenz umsteigen; anderswo, mit anderen Menschen ein neues Leben anfangen, mitten im alten?
Karl-Heinz W. war, als er verschwand, ein flotter Typ, für seine Freunde »vielleicht ein bißchen zu flott«, für seine Geschäftspartner ein »smarter Kaufmann«, dessen Lebensstil, verglichen mit seinen Einkünften, »immer eine Nummer zu groß« war. Er hatte noch Ansprüche ans Leben war nicht »fertig«, fühlte sich nicht am Ende. Aber er sah es wohl kommen. Irgendwann muß er beschlossen haben, dies dürfe das Ende noch nicht sein. Das kann doch nicht alles gewesen sein Das bißchen Sonntag mit Kinderschrein Das muß doch noch irgendwohin gehn -- hingehn.
Das kann doch nicht alles gewesen sein Da muß doch noch irgendwas kommen Nein, da muß doch noch Leben ins Leben -- Leben.
(Wolf Biermann, Song für das Fernsehspiel Liebe mit 50")
Karl Heinz W. ist ein extremer Fall: aber der Fall ist authentisch*, und er ist symptomatisch: für eine ebenso weit verbreitete wie wenig verstandene Krise des Erwachsenenalters eine Krise, die Männer »in den besten Jahren« wie wirrköpfige Jünglinge agieren und ehelich erprobte Frauen Mitte Dreißig freiheitstrunken auf die Suche nach dem »eigenen Leben« gehen läßt. Männer »in den besten Jahren« leben gefährlich.
Es sind Männer Mitte Vierzig, die nach zwanzig ganz soliden Ehejahren plötzlich ihre Familien verlassen, um mit einer zehn Jahre jüngeren Assistentin »noch mal von vorne anzufangen« die auf dem Höhepunkt ihrer hart erkämpften Karrieren abrupt den Beruf wechseln -- oder scheinbar grundlos versagen.
Was sie erleben, ist ein Übergang -- eine Phase der Selbstprüfung und der Neubewertung, die Menschen um die Mitte ihres Lebens erreichen, beim Überschreiten der Grenze zwischen verbrachtem und verbleibendem Leben.
Gegeben hat es eine solche Krise des Übergangs gewiß immer schon. Erkannt, nämlich als Krise des Erwachsenenalters, die der Pubertät an Bedeutung und Folgenschwere nicht nachsteht, wird sie erst jetzt. Und nur in Amerika haben Psychologen und Soziologen überhaupt einen Namen dafür -- »Midlife crisis«. Krise der Lebensmitte (siehe Kasten Seite 38).
Man liest in den Gazetten über Manfred Köhnlechner, der Mitte Vierzig vom Manager zum Heilpraktiker mutiert, oder man liest über Lou van Burg, der sich Anfang Fünfzig seiner (von ihm schwangeren) Assistentin wegen scheiden läßt und damit seine Fernseh-Karriere gefährdet. Frauen fürchten sich vielleicht vor den Wechseljahren. Aber mehr fällt den meisten Menschen zu dem Stichwort Krise der Lebensmitte wohl nicht ein. Und die Gesellschaft
* Namen, Schauplätze und Berufsangaben sind von der Redaktion geändert worden.
weiß mit den Anpassungskrisen ihrer Vierziger schon gar nichts anzufangen.
Das ist kein Wunder. Denn da an den Schalthebeln dieser Gesellschaft eben jene Minderheit der Mittvierziger sitzt, möchte man blindlings darauf bauen können, daß es sich bei so wichtigen Funktionsträgern um psychisch gefestigte, emotional stabile, für Krisen nicht mehr anfällige Persönlichkeiten handle. Und das kann man eben nicht,
In Wahrheit leben sie gefährlich, die Männer »in den besten Jahren«; sind jedenfalls kaum weniger gefährdet als in ihren jungen Jahren, die Orientierung zu verlieren, schwankenden Boden zu betreten, abzustürzen in die Tiefe der Depression.
Man kennt ihn allenthalben, den lebenden Beweis für diese vermeintlich so verblüffende These; er könnte ein Freund sein, ist es vielleicht auch: dieser Herr Vierzig.
Er hat es zu was gebracht, beruflich und auch sonst. In seinem Fach gehört er zur Spitzenklasse. verdient viel Geld. Seit ein paar Jahren ist er »oben«, nahe dem Erreichbaren. Aber wohl ist ihm da nicht.
Er hat das Gefühl, festzusitzen: Er entwickelt sich nicht mehr, er wiederholt sich nur noch. Früher hat ihn sein Job fasziniert. Jetzt langweilt er sich oft, Initiativen ergreift er kaum noch Manchmal verprellt er seine Mitarbeiter durch launisches Betragen. das er später bedauert. Wenn Geschäftsfreunde kommen, trinkt er schon beim Mittagessen. Er kann sich das erlauben. Der Mann hat seine Meriten.
Er hat wieder angefangen, Tennis zu spielen, benutzt gelegentlich eine Höhensonne, auch den Herrenausstatter hat er gewechselt. Seine Garderobe ist bunter geworden, jugendlicher.
Er ist bald zwanzig Jahre verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Frau, eine Jugendliebe, kaum jünger als er, hat ausdauernd das Haus geführt und die Kinder großgezogen. Er ist kein schlechter Ehepartner gewesen, im großen und ganzen auch treu; ab und zu eine Affäre -- nichts Ernstes.
Vor ungefähr drei Jahren dann hat seine Frau ihn mit dem Verlangen nach mehr Freiraum überrascht, hat Möglichkeiten einer eigenen Betätigung erwogen. Er hat das nicht verstanden, keinen Grund gesehen, hat sich irgendwie hintergangen gefühlt. Seither fällt gelegentlich das Wort Trennung.
Jetzt hat er eine Freundin, schon fast zwei Jahre: ein Mädchen aus seiner Branche, fünfzehn Jahre jünger als er, unabhängig, attraktiv, auf beherrschte Weise temperamentvoll, eine herausfordernde Dialogpartnerin, auch außerhalb des Bettes. Ja, er liebt sie. Zu Zeiten hat er geglaubt, es beginne wirklich ein neues Leben.
Seiner Frau hat er schließlich alles gestanden. Die Folge war ein Zusammenbruch, der ihn mitgerissen hat in einen Abgrund widerstreitender Gefühle, unvereinbarer Wünsche.
Er hat versucht, eine Entscheidung zu treffen, und ist steckengeblieben im Zwiespalt zwischen Aufgeben und Aufbegehren. Das Bemühen beider Ehepartner, wenigstens einen Rest an Gemeinsamkeit zu retten, ist verkommen zum Zermürbungskrieg nächtelanger, alkoholgetränkter Streitgespräche von ruinöser Routine.
Jetzt hat er sich eine kleine Wohnung in der Stadt gemietet -- auch um Abstand zu gewinnen. Seine Freundin drängt ihn nicht zur Scheidung, will nur klare Verhältnisse. Er ist häufig allein. Seine Arbeit macht er mechanisch. Gerät er doch mal unter Leistungsdruck, dann jongliert er mit Valium und Alkohol. Kein Zweifel, daß er nachläßt.
Grad in der Mitte unserer Lebensreise Befand ich mich in einem dunklen Walde, Weil ich den rechten Weg verloren hatte. Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen, Der wilde Wald, der harte und gedrängte, Der in Gedanken noch die Angst erneuert, Fast gleichet seine Bitternis dem Tode (Dante, »Die Göttliche Komödie")
Dante Alighieri war Mitte Vierzig, als er so sein literarisches Lebenswerk begann -- wenige Jahre nachdem er, ein hochplazierter, mit einer reichen Florentinerin verehelichter Ratsherr. aus Florenz verbannt worden war, weil er sich der Ausübung ziviler Hoheitsrechte durch den Papst widersetzt hatte.
Begegnung mit dem Tod als einer Tatsache des Lebens.
Was Dante in den ersten Versen seiner »Göttlichen Komödie« allegorisch artikuliert, das sind Empfindungen der Furcht und der Verlorenheit. mit denen die Krise in der Lebensmitte sich ansagt -- ein vages Gefühl inneren Zusammenbruchs, das rational überhaupt nicht zu begründen und nur selten zu erkennen ist als Schwellenangst vorm Überschreiten jener Grenze zwischen dem Ende des Aufwachsens und dem Beginn des Altwerdens.
Das Unwirkliche solcher Lebenslage erschließt sich leichter der Literatur als den Nachforschungen der exakten Wissenschaft. Der verrutschte Vierziger in der Privathölle seiner unverhofft hereinbrechenden Midlife crisis hat tatsächlich etwas vom wildromantischen oder auch tragikomischen Habitus einer Romanfigur, drängt sich der fiktiven, allenfalls autobiographisch angereicherten Darstellung seit jeher auf.
Der Titelheld in Joseph Hellers (53) neuem Roman »Was geschah mit Slocum?« zum Beispiel ist, geradezu prototypisch, so eine Figur, ein kaputter Aufsteiger aus dem stark neurotisch besetzten Milieu des New Yorker Mittelmanagements; oder auch Franz Horn. der verdiente, aber unaufhaltsam versagende Zahnprothesenvertreter in Martin Walsers (49) jüngster Erzählung »Jenseits der Liebe.
Er spürte ein eindeutiges Entsetzen darüber, daß dieser Tag vorbei war, ohne daß . . . ohne was? Das weiß ich nicht, sagte er. (Martin Walser, »Jenseits der Liebe") Mir ist nicht geheuer, wenn ich geschlossene Türen sehe. Selbst in der Firma, wo ich mich derzeit so glänzend bewähre, läßt mich der Anblick geschlossener Türen manchmal fürchten, daß dahinter Gräßliches geschieht, was für mich üble Folgen zeitigt ... Meine Hände sind dann naß von Schweiß, und meine Stimme klingt mir fremd. Warum wohl?
(Joseph Heller, »Was geschah mit Slocum?")
»Something happened«, mutmaßt Bob Slocum -- wie viele Vierziger -- auf der Suche nach einer Erklärung für seine seltsamen Befindlichkeiten, »irgendwann muß etwas geschehen sein«. Aber was?
Nur dies vielleicht: Ein Freund ist an Krebs gestorben, ein anderer ist, hört man, neulich einfach umgefallen: Herzversagen; beide ein Jahrgang, der eigene. Der Schulfreund, den man gut zehn Jahre nicht getroffen hat, trägt jetzt einen komplizierten Titel und sieht aus wie damals sein Vater. Man ist zufällig dabei, wie die Sekretärin am Telephon dem Hotelportier einen »älteren Herrn« ankündigt, und begreift, daß man selber gemeint ist.
Oder: Die mit männlicher Nachfrage noch gut versorgte Mittdreißigerin trifft in der Umkleidekabine des Schwimmbads eine alte Bekannte, die vor kurzem Fünfzig geworden ist, sieht das dunkelblaue Geäder und die purpurnen Flecken auf deren Oberschenkeln und kann die Frage nicht abwehren, ob die Gute sich wohl noch vor den Augen ihres Mannes auszieht, ob sie selber das wohl tun würde, wenn ... Ein Anfall von Panik ist die Antwort.
Dies nämlich ist geschehen, irgendwann um die Lebensmitte: Wir sind dem Tod begegnet -- dem Tod als einer Tatsache des Lebens.
Es ist eine unverhoffte, oft auch unbewußte Begegnung; sie ereignet sich im Dämmer der Depression, hüllt sich (und uns) in den Mantel der Melancholie: Wir sehen auf einmal das Ende des Tunnels, aber Licht sehen wir da nicht.
Kein Mensch glaubt wirklich daran, daß er sterben muß, obwohl er es weiß. Im Unbewußten, sagt Sigmund Freud, sind wir alle von unserer Unsterblichkeit überzeugt. Aber was der Mensch in mittleren Jahren nicht mehr verdrängen kann, ist die Angst vor dem Alter.
Er kommt nicht länger an der Einsicht vorbei, daß seine Lebenszeit begrenzt, seine Lebenskraft nicht unerschöpflich ist. Jetzt weiß er, oder ahnt es doch: »Von nun an geht"s bergab.«
In den Lebensläufen der Vierziger ereignet sich eine Art Umkehr der Zeitrechnung. Lebenszeit läßt sich nun nicht mehr ausschließlich messen als die Zeit von der Geburt bis zur Gegen-
* Holzschnitt von Gustave Doré (1861) zu Dantes »Göttlicher Komödie«
wart, sondern sie will auch gemessen werden als die Zeit von der Gegenwart bis zum Tod. Der sprichwörtliche »Rest des Lebens« hat begonnen.
Das verändert zwangsläufig die Vorstellung, die ein Vierziger von der Zukunft hat. Sie mag ihm nun so furchterregend erscheinen wie einem ortsunkundigen Piloten, dem der Sprit ausgeht, eine offensichtlich zu kurze Landebahn.
Männer geraten unter einen vorher so nicht erlebten Zeitdruck, werden förmlich überfallen von der Erkenntnis: Du wirst nicht mehr alles das tun können, was Du einmal tun wolltest. Frauen hingegen fragen sich oft, was sie wohl anfangen werden mit ihrer Zeit, wenn erst das Nest leer ist, die Reize allmählich verfallen, die Chancen schwinden.
Jetzt wollen Fragen beantwortet werden, die sich bis dahin überhaupt nicht gestellt haben: Hast Du Dir so Dein Leben gedacht? Ist es das, was Du eigentlich gewollt hast? Ist es richtig, daß Du so lange bei Deinem ersten Arbeitsgebiet geblieben bist? Ist es nicht ein Fehler gewesen, vor zehn Jahren das Angebot der Konkurrenz abzulehnen? Hast Du überhaupt den richtigen Beruf? Und hast Du nicht einen Menschen geheiratet, mit dem Du im Grunde gar nichts anfangen kannst?
Bevor sie Antworten finden können, sehen sich viele Männer an der Schwelle zur zweiten Lebenshälfte noch einmal dem Wunschtraum konfrontiert, den sie als Jünglinge gehegt, dann aber einer ganz anderen Karriere geopfert haben und den sie nun -- trotzig oder auch verzweifelt -- abermals auf seine Realisierbarkeit abfragen.
Bestimmt aber fliegen ihnen eine ganze Menge lose Enden um die Ohren: Sie werden gepeinigt von der Wiederkehr ungelöster Probleme aus früheren Lebensstadien, die damals entweder nicht wahrgenommen worden sind oder deren Lösung verdrängt worden ist, weil Wichtigeres zu tun war.
Die Krise ist da. Was immer einem Lebenslauf bislang Kontinuität verliehen haben mag -- es wird unterbrochen. Die Lebenslinie bekommt einen scharfen Knick. Die Zeit ist aus den Fugen. Die Dämonen sind los.
Dies sind, belegt durch die relevanten Untersuchungen. der mittleren Lebensjahre, markante Symptome der Krise:
* sexuelle Promiskuität (häufig, aber nicht immer verbunden mit dem Scheitern langjähriger Ehen), > Versagen im Beruf oder auch abrupte Abkehr von einer bislang erfolgreichen Karriere,
* heftige Stimmungsschwankungen und die Neigung zur Hypochondrie,
* selbstzerstörerische Handlungen und Gewohnheiten (zum Beispiel Alkoholismus, Tablettenmißbrauch, häufige Autounfälle, sogar Selbstmord).
Manche Menschen in der Midlife crisis gehen schlicht aus dem Leim; sind offenkundig außerstande, weiterhin Interesse an ihren hergebrachten sozialen Rollen aufzubringen; können die Kontrakte aller Art nicht mehr erfüllen, die sie in früheren Jahren unbedingt abschließen wollten.
Man soll solche Demontage aber nicht nur für Schwäche nehmen. Sie ist im Grunde so unvermeidlich wie die Krise selber. Kein Mensch in der Mitte des Lebens kommt an der Tatsache vorbei, daß die Rolle, die er im Anstieg zum Scheitelpunkt seiner Existenz gespielt hat, nicht mehr trägt. Dieser Teil seiner selbst, samt den dazugehörigen Träumen und Erwartungen, muß aus dem Leim gehen, wenn die Krise bewältigt werden soll.
Die andere, gewiß nicht minder gebräuchliche Möglichkeit des Krisen-Managements ist der Versuch, durchzustarten, also den kritischen Punkt sozusagen ohne Anhalten zu passieren. Man legt noch einen Zahn zu und stürzt sich mit kalter Wut in jegliche Form von Powerplay. Denn für Krisen haben Männer, die selbst auf der Gefällstrecke noch beschleunigen, einfach keine Zeit.
Hektischer Ausbruch
in eine Vielzahl von Affären.
Außerdem haben sie von neuem ihre eigene Körperlichkeit entdeckt, entwickeln heimliche kosmetische Interessen und probieren von Joga bis Joghurt so gut wie alles, was ihre alternde Physis auf dem früheren Niveau der äußeren Erscheinung wie der Leistungsfähigkeit halten könnte. Sie denken ja gar nicht daran, klein beizugeben. Sie spielen mehr Tennis, geben mehr Parties und nehmen immer jüngere Mädchen mit ins Bett.
Das soll nun alles gewesen sein Das bißchen Fußball und Führerschein Das war nun das donnernde Leben -- Leben
Ich will noch 'n bißchen was Blaues sehn Und will noch 'n paar eckige Runden drehn Und dann erst den Löffel abgeben
eben.
(Wolf Biermann, Song für das Fernsehspiel »Liebe mit 50«.)
Die Karikatur eines Mannes in der Midlife crisis ist der Familienvater, der mit dem Kindermädchen durchgeht. Keineswegs nur Karikatur. Ganz gewiß ist der mehr oder weniger hektische Ausbruch in eine Vielzahl von Affären mit sehr viel jüngeren Frauen die international am weitesten verbreitete männliche Methode, der Angst vor dem Alter aktiv zu begegnen.
Warum sehr viel jüngere Frauen? Sicherlich nicht nur, weil sie sich so angenehm anfassen; sicher auch nicht, weil sie immer um so vieles feuriger oder verständiger wären als die Ehefrau. Sondern (schreibt der Schweizer Psychiater Jürg Willi in seinem Buch über die »Zweierbeziehung") wenn ein Mann in mittleren Jahren sich nach einer jüngeren Frau sehne, dann geschehe das »nicht nur, weil diese schöner wäre, sondern vielmehr, weil ihm diese das Gefühl vermittelt, selbst nochmals als Junger von vorne beginnen zu können..
Natürlich ist die jüngere Frau attraktiv, zieht viele Blicke auf sich, und es schmeichelt der männlichen Eitelkeit, sich mit ihr zu zeigen. Aber bestimmt hat sich ihr Begleiter an den Falten im Gesicht der eigenen Frau nicht nur deshalb gestört, weil diese nun nicht mehr jung und schön ist, sondern weil ihre Gegenwart ihn dazu nötigt. das eigene Älterwerden am Gegenüber wahrzunehmen.
Ihr verängstigten, versagenden Männer in den besten Jahren. Schleicht in euren Gedanken und Erinnerungen um junge Bräute rum, ihr alle! Zum Kotzen. Warum wirst du nicht erwachsen?
(Sally zu Ben in John Osbornes neuem Theaterstück »Watch it come down")
Die verbitterte Frage der verlassenen Ehefrau, was ihr Mann denn wohl mit dieser Gänseliesel gemein habe, mit der er da durchgeht. ist leicht zu beantworten: Wahrscheinlich gar nichts
außer dem narzißtischen Vergnügen an einer jugendlich herausgeputzten Liebesaffäre. Die beiden sind wohl mehr mit sich selber als miteinander beschäftigt, mehr mit dem eigenen Image als mit dem schwierigen Geschäft der Gemeinsamkeit. Das junge Mädchen spiegelt sich im Glanz des bedeutenden Mannes, dessen Bett sie teilt, und der wiederum genießt vor allem das Playback der längst ausgespielten Rolle eines heißblütigen Helden.
Abwechslung ist angenehm, und Ablenkung ist willkommen, gerade in Krisenzeiten. Ein Ausweg ist beides nicht. Die Fähigkeit zur Intimität geht in die Brüche.
Denn die Krise der Zweisamkeit, die ja nicht nur Männer, sondern auch immer mehr Frauen in mittleren Jahren aus ihren Ehen ausbrechen läßt, ist in Wahrheit doch eine Krise der Identität. Die Fähigkeit, offen zu sein für die Intimität einer Zweierbeziehung. in welcher Form von Partnerschaft auch immer, setzt eine intakte Identität voraus. Genau die aber ist Herrn Vierzig in der Krise abhanden gekommen -- und seiner Frau womöglich auch.
»Immer wenn das Bild. das wir von uns selber haben, verwackelt, und das tut es in jeder Phase des Übergangs, besonders aber im Übergang zur Lebensmitte, dann müssen wir damit rechnen. daß auch unsere Fähigkeit zur Intimität in die Brüche geht.« So formuliert es Gail Sheehy, Reporterin des Magazins »New York« und eine der pfiffigsten amerikanischen Journalistinnen überhaupt, in einem dieser Tage erschienenen Buch über die »voraussehbaren Krisen des Erwachsenenalters«. in dem sie vorwiegend die Probleme der Partnerbeziehungen untersucht*.
Eine bezeichnende (auf deutsche Verhältnisse durchaus übertrag-
* Gail Sheehy: »Passages. Predictable Crises of Adult Life«. E. P. Dutton & Co., Inc., New York 1976, 396 Seiten: 9,.95 Dollar.
bare) Erfahrung. die sie dabei gemacht hat, erscheint nur auf den ersten Blick überraschend: Nicht Scheidung ist die für Vierziger charakteristische Methode, ihrer Ehe zu entkommen, sondern Trennung -- und das nicht nur aus juristischen oder finanziellen Gründen, sondern, mehr oder minder bewußt, als vorbeugende Maßnahme gegen eine neue Ehe; vielleicht auch als Versuch. die in Frage gestellte Identität, und damit die zerbrochene Fähigkeit zur Intimität. allein wiederherzustellen. Er hatte eine Anzahl fester Verhältnisse, die einander neutralisierten. Jeder dieser Frauen war irgend etwas Furchtbares passiert. So traf man sich denn auf einer Art Invalidenbasis und erleichterte einander das Notwendige ohne viel Getue. Ach nein, immer noch mit viel zuviel Getue. (Martin Walser, »Jenseits der Liebe.)
Trennung in diesem Verstande muß nicht billige Ausflucht sein, überhaupt nicht Flucht; sondern sie kann die einzig mögliche, einzig erfolgversprechende Reaktion auf die Erkenntnis sein, daß verlorene Identität nicht wiederzugewinnen ist in der Beziehung zum Partner. Will sagen: Man kann das, was C. G. Jung »die innere Freiheit« nennt, in der Lebensmitte nicht länger von einer Liebesbeziehung erwarten, sondern nur von sich selber.
Es dauert ein halbes Leben, sagt C. G. Jung, bis wir begreifen. daß wir uns nicht mehr in einem anderen Menschen verlieren können; daß es nicht mehr möglich ist, die »magische Kraft«, die das andere Geschlecht so lange über uns gehabt hat, auf den Partner zu projizieren.
Wir stehen allein. Dies ist »die letzte Wahrheit der Lebensmitte«, so Gail Sheehy: »Da ist kein schutzbringender anderer mehr in den dunklen Räumen deiner Seele. Es ist keiner da, der immer für dich sorgen, keiner, der dich niemals verlassen wird.«
So schockierend ist diese Erkenntnis und so schwer zu akzeptieren, daß wenige der Versuchung widerstehen können, just im Ehepartner den Schuldigen dafür zu suchen -- ein ebenso beliebtes wie sinnloses Erwachsenenspiel, das immerhin die Möglichkeit bietet, über Scheidung zu reden, ohne die wahren Gründe für das Zerbrechen der Ehe auch nur streifen zu müssen.
Ich denke viel über Scheidung nach, seit jeher. Schon vor der Heirat dachte ich über Scheidung nach. Ich kann mir meine nächste Frau gut vorstellen: jünger als meine jetzige, hübscher, dumm und unterwürfig. Dazu blond, klein, pummelig und lustig, ein rechter Sonnenschein in Küche und Bett. Sehr bald schon würde ich es höchstens eine oder zwei Stunden hintereinander mit ihr aushalten und mich darum auch von ihr scheiden lassen müssen.
(Joseph Heller, »Was geschah mit Slocum?)
Die beunruhigende Tatsache. daß Ehen. die zwanzig Jahre und länger gehalten haben, dann doch kaputtgehen. ist wohl die am meisten diskutierte und am wenigsten verstandene Erscheinungsform der Midlife crisis. Beispiele gibt es ja genug, gerade prominente:
* Horst Ehmke, Bundesminister außer Diensten, war 20 Jahre verheiratet und 45 Jahre alt, als er sich von seiner annähernd gleichaltrigen Frau Theda scheiden ließ und Maria Hlavacová, damals 25, heiratete.
* Karl Schiller, Bundesminister außer Diensten, war in zweiter Ehe 19 Jahre verheiratet und 59 Jahre alt, als er sich von seiner etwa zehn Jahre jüngeren Frau Annemarie scheiden ließ und Etta Eckel, damals 38, heiratete (von der er inzwischen wieder geschieden ist).
* Christiaan Barnard, Herzverpflanzer, war 21 Jahre verheiratet und 47 Jahre alt, als er sich von seiner ein Jahr jüngeren Frau Louwtjie (Aletta Gertruide) scheiden ließ und Barbara Zöllner, damals 19, heiratete.
Aber es gibt auch Erklärungen. Und sie sind noch nicht einmal kompliziert. Zu keinem Zeitpunkt in der gemeinsamen Biographie der Ehepartner nämlich ist deren Zusammenhalt so schwach und deren Entwicklung so asynchron wie in jenen Jahren der Lebensmitte. die Gail Sheehy »Deadline Decade«, das Torschluß-Jahrzehnt, nennt.
Vermutlich denken die einander entfremdeten Ehepartner jetzt nicht zum erstenmal an die Möglichkeit des Auseinandergehens: aber »die Größe und der Ernst der gemeinsamen Aufgabe«. um Jürg Willis Worte zu gebrauchen. haben, »selbst bei tiefgehenden ehelichen Differenzen und Problemen«. diese Möglichkeit bisher in den Hintergrund gedrängt. »In den mittleren Jahren ändert sich die Situation grundlegend.«
Denn während das Paar in der Aufbau- und Produktionsphase bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit beansprucht war, ist jetzt »die Polstergruppe angeschafft, der Fernseh-Altar aufgebaut, das Einfamilienhäuschen geplant oder bezogen; es besteht kaum noch ein äußeres Ziel von einiger Relevanz. worauf das Paar hinlebt und wodurch es zusammengehalten und strukturiert wird« (Jürg Willi).
Für die Millionen Frauen, so konstatiert Gail Sheehy, die sich immer nur über den Mann definiert und durch ihn gelebt haben, beginnen in dieser Phase die Früchte seines Erfolges zu faulen. Wenn sie die Lebensmitte erreichen, fühlen sie sich nicht länger imstande, Erfüllungsgehilfen einer Zielvorstellung zu sein, die ihnen ehedem Sicherheit vermittelt hat, die sie nun aber als ausschließlich dem Mann zugehörig empfinden.
Gleichgeschlechtliche Freundschaften werden wichtiger.
Das heißt, jegliches Gleichgewicht ist in dieser Phase extrem gestört. Der Stellenwert ehelicher Gemeinschaft reduziert sich. Gleichgeschlechtliche Freundschaften werden wichtiger. Ich verstehe nicht, wie meine Frau ernstlich Mitgefühl von mir erwarten kann. wenn ich genügend Gründe habe, mich selber zu bedauern. Unter diesen Gründen ist auch sie.
(Joseph Heller, »Was geschah mit Slocum?')
Gail Sheehy ist beim Studium der einschlägigen Untersuchungen und als Ergebnis der über hundert Fallstudien. die sie selber angestellt hat, zu der These gelangt, daß Männer und Frauen sich am ähnlichsten sind vor der Geburt, auch noch mit achtzehn, aber dann erst wieder mit sechzig Jahren. während sie in der Zwischenzeit entgegengesetzte Entwicklungen durchmachen und die größte Distanz eben in den vierziger Jahren erreichen.
Diese Distanz drückt sich zum Beispiel aus in einer Art Umkehr der psychologischen Geschlechtsmerkmale. Männer in der Lebensmitte entwickeln eine breiter gefächerte Sinnlichkeit, werden empfänglicher für urtümliche Freuden und Schmerzen, weniger aggressiv, mehr interessiert an Liebe als an Eroberung und Macht. Umgekehrt entwickeln Frauen in den dreißiger und vierziger Jahren häufig einen bis dahin unbekannten Drang zur Selbstbehauptung, zum Konkurrenzverhalten, zu vergleichsweise harten Reaktionen.
Die dramatischste Differenz dieser Lebensphase aber liegt zweifellos in den unterschiedlichen sexuellen Kapazitäten. Eine Frau ist fähig und oft auch disponiert, ihr erotisches Potential genau dann am kühnsten einzusetzen, nämlich knapp unterhalb der Vierzig. wenn die sexuellen Antriebe des Mannes allmählich erlahmen.
Diese zuweilen eklatanten Differenzen mögen für einen jungen Mann akzeptabel sein. Auf einen Mann in der Lebensmitte können sie emotional vernichtend wirken. Was er unter diesen Umständen zu bieten hat, ist wenig mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf einen heißen Stein.
Mindestens innerhalb ihrer ehelichen Beziehungen reagieren Männer auf derart deprimierende Erkenntnisse gern mit der Tendenz, sich von den Konflikten der Sexualität zurückzuziehen -- ihre ins Wanken geratene Libido vor der frustrierten Partnerin zu tarnen, indem sie Streit vom Zaun brechen oder sich bis zur totalen Erschöpfung in die Arbeit stürzen.
Ehemänner, die so reagieren, fangen leicht den Vorwurf ein, sie seien in den Wechseljahren -- so wie Ben in dem schon zitierten Osborne-Stück. wenn Sally ihm mit einem bitteren Wortwitz vorhält: »It's the men-o-pause. All right. Male menopause.«
Die Frage, ob es überhaupt so etwas wie ein Klimakterium des Mannes gebe, ist ein beliebter Gegenstand für den Streit der Gelehrten. Veränderungen in seinem Hormonhaushalt erfährt auch der Mann in der Lebensmitte. Die Produktion des männlichen Sexualhormons Testosteron fällt ab, aber eben längst nicht so steil wie die Ostrogen-Produktion bei Frauen in der Menopause.
Immerhin 85 Prozent aller Männer (dies referiert der kanadische Arzt Dr. Helmut J. Ruebsaat als gesicherte medizinische Erkenntnis) erleben lediglich das, was im Bereich der sexuellen Aktivität in den mittleren Jahren als normal gelten kann; das heißt, es dauert eben alles ein bißchen länger -- was ja nicht unbedingt ein Nachteil sein muß.
Wichtiger ist mit Sicherheit die psychologische Komponente -- genauer: die Furcht vor dem Verlust der Manneskraft. Schon geringfügige Anzeichen nachlassender sexueller Einsatzfähigkeit können einen Mittvierziger derart in Vollbringensängste stürzen, daß er im entscheidenden Augenblick dann tatsächlich nichts mehr vollbringen kann. Runde 90 Prozent aller Fälle von sekundärer Impotenz in der Lebensmitte resultieren -- laut Masters und Johnson aus einer verheerenden Kombination von Leistungsdruck und Versagensangst.
Verglichen mit dieser Misere der Männer ist das eigentliche Klimakterium, also die Menopause der Frauen, häufig eine relativ harmlose Angelegenheit. Selbst Simone de Beauvoir, die sonst durchaus geneigt ist, das Klimakterium als Krise zu bewerten, räumt ein, daß diese Krise weniger heftig durchlebt werde von solchen Frauen, die »nicht ausgesprochen auf ihre Weiblichkeit gesetzt haben«.
Andererseits: Welche Frau hat nicht auf ihre Weiblichkeit gesetzt? Welche Frau vermag schon darauf zu verzichten, ihre »sexuellen Werte« (Simone de Beauvoir) einzubringen -- nicht nur, um den Gatten zu fesseln, sondern vor allem, um sich in den meisten Berufen, die sie ausüben kann, so etwas wie Schutz und wenigstens die Illusion der Chancengleichheit zu sichern?
Die biologische Benachteiligung der femininen Physis, die keine Revolution des Sexualverhaltens und keine Reform der Gesellschaft aus der Welt zu schaffen vermag, führt Frauen im Erwachsenenalter früher als Männer an die Schwelle der Midlife crisis -- und dieses Kapitel in ihrem Leben ist häufig überschrieben: »Meine letzte Chance«.
Gail Sheehy, selber 39 Jahre alt. setzt das Schwellenalter als Ergebnis ihrer Untersuchungen bei 35 Jahren an. Wenn man die so gewonnenen Durchschnittsdaten gelten lassen will, dann schickt eine Mutter mit 35 ihr letztes Kind zur Schule. eine Ehefrau geht mit 35 auf Abenteuer aus oder kehrt zu ihrem Job zurück (beziehungsweise beides), und eine geschiedene Frau mit 35 sucht sich einen neuen Mann. Beim Ehepartner
in der Regel keine Anerkennung.
Auch die Frau in der Lebensmitte muß Bilanz machen. Und wahrscheinlich ist sie entsetzt über die engen Grenzen, die ihr das Leben bislang gezogen hat. Also wird sie diese Grenzen nicht anerkennen, sondern -- sagt Simone de Beauvoir -- sie »entdeckt, daß ihr Mann, ihre Umgebung, ihre Beschäftigungen ihrer unwürdig waren. Sie fühlt sich unverstanden«.
Es gibt zwei Möglichkeiten, auf diese Erkenntnis zu reagieren. Entweder die Frau überläßt sich »einem träumerischen. untätigen Trübsinn«, oder sie rafft sich auf und setzt ihrer als verfehlt erkannten Existenz das entgegen. was Simone de Beauvoir bezeichnet als »jene Persönlichkeit, die sie in sich als Kontrast zu der Erbärmlichkeit ihres Daseins entdeckt hat«. Sie verlangt nach Anerkennung.
Beim Ehepartner wird sie die in aller Regel nicht finden. Die meisten Männer, vollends wenn sie selber in der Krise stecken, dürften den Vorwurf grotesk finden, sie hätten zehn und mehr Jahre lang nichts für die Selbstverwirklichung ihrer Frauen getan.
Und nur ganz wenige Vierziger werden die Einsicht akzeptieren, die Max Frisch, immerhin erst im reifen Alter von 63 Jahren. so formuliert hat: »Nur mein Verhalten von Anfang an und von Tag zu Tag hat eine kluge Frau verleiten können zu der Meinung, ihre Selbstverwirklichung sei Sache des Mannes, der Männer.«
Das ist sie in der Tat nicht. Und also verabschieden sich immer mehr Frauen an diesem Punkt ihrer ehelichen Biographie aus der vordem gemeinsamen Zielvorstellung in den Versuch, ihr eigenes Ich aufzubauen, ihre eigene Entwicklung zu betreiben. Wenn sie dabei auch noch äußere Erfolge aufzuweisen haben, wird der Zusammenhalt der Ehepartner zusätzlich strapaziert.
In jedem Fall muß der Ehekontrakt um die Lebensmitte sozusagen neu verhandelt werden, da die Konditionen, die zum Zeitpunkt seines Abschlusses gegolten haben, offenkundig überholt sind. Gail Sheehy macht darauf aufmerksam, daß solche Neuverhandlung keinesfalls über Nacht gelingen kann, sondern eine Reihe von Anpassungen zeitigen muß, die sich über mehrere Jahre erstrecken. Scheidung ist durchaus nicht das einzig denkbare Ergebnis. Kein Wunder, daß mir immer wieder ein Grund einfällt, alles aufzuschieben: das Wohl der Kinder (was hat es denen schon genützt, daß wir es solange miteinander ausgehalten haben), Geld, die Firma, die Gesundheit meiner Frau, die Abendeinladung in der kommenden Woche oder die Verabredung ins Theater mit einem anderen Ehepaar, die man dann nicht einhalten könnte. Keiner von uns beiden hätte Lust abzusagen, da bleiben wir schon lieber miteinander verheiratet. Es ist viel einfacher, den Sturm über sich hinziehen zu lassen, bis die Stimmung umschlägt; dann kann ich mir wieder vormachen, daß ich sie im Grunde ja gar nicht verlassen will. Ich weiß eben nicht, wie man es anstellt.
(Joseph Heller, »Was geschah mit Slocum?")
Deutsche Scheidungsanwälte mit speziellen Erfahrungen neigen dazu. die möglichen Verhandlungsergebnisse zu dritteln: Ein Drittel der Partner trennt sich oder läßt sich scheiden; ein Drittel kommt zu neuen Konditionen und damit zu einer Intensivierung der ehelichen Gemeinschaft; ein Drittel findet die neue Basis nicht und bleibt bloß aus resignativer Bequemlichkeit beisammen.
Zum Ergebnis einer erfolgreichen Neuverhandlung des Partnervertrages kann, ja muß vielleicht sogar das Einverständnis über eine Revision jener klassischen Rollenverteilung zwischen den Ehegatten gehören, die dem Mann ausschließlich den Broterwerb und der Frau ausschließlich die Sorge für Kinder und Küche zudiktiert. Und das gar nicht unbedingt deshalb, weil nun immer die Frau Karriere machen und den Gatten als Hausmann agieren lassen will, sondern es mag sehr wohl der Mann sein, der in der Krise der Lebensmitte seine traditionelle Rolle nicht mehr spielen kann, spielen will.
Irgendwann in dieser kritischen Phase des Überganges gerät auch die vom Beruf bestimmte Identität eines Mannes in Zweifel. Und meist sind es gerade die Erfolgreichen, denen plötzlich jegliche Motivation abhanden kommt, den von ihnen selbst gesetzten Maßstäben weiterhin zu entsprechen.
Das soll übrigens nicht heißen, daß nur leitende Angestellte oder Intellektuelle eine Midlife crisis kennen. Wenn es richtig ist, daß der Mensch in der Lebensmitte sich ändern »nuß, dann gilt dies natürlich genauso für Arbeiter.
Signifikante Symptome (Alkoholismus, sexuelle Promiskuität) haben die Sozialpsychologen bei den Männern am Fließband genauso beobachtet wie bei den Managern -- mit dem einzigen Unterschied, daß der Arbeiter (wie zum Beispiel der Gesenkschmied Harry Thimmel aus dem Fernsehspiel »Liebe mit 50«, das ursprünglich ein Stück des britischen Autors Colin Welland ist) nicht mit der Sekretärin, sondern mit dem Schankmädchen aus seiner Stammkneipe durchgeht. Nur werden Suff und sexuelle Aushäusigkeit von dieser Gesellschaftsschicht nicht unbedingt als Krisensymptome reflektiert. Mit geringerer Drehzahl über die Runden kommen.
Die entscheidende Differenz besteht wohl eher darin, daß ein Arbeiter sich von vornherein nicht so viele Illusionen macht wie ein Mann aus dem Mittelstand oder gar ein Intellektueller. Er weiß im allgemeinen schon Mitte dreißig, daß er keine großen Chancen mehr hat, weiter aufzusteigen. Das Nachlassen der Kräfte ist für einen körperlich arbeitenden Menschen ein ganz eindeutiges, schwer zu verdrängendes Signal.
Aber je weiter einer gekommen und je höher sein sozialer Status ist, desto schwerer hat er es offensichtlich in dieser Zeit der Selbstprüfung.
Das alternde Wunderkind wird, wie der Anwalt Quentin aus Arthur Millers Schauspiel »Nach dem Sündenfall«, überwältigt von dem Gefühl, »daß ich nur noch von meinem Erfolg lebte«. Alles hat irgendwie seine Notwendigkeit verloren, ist nur noch Mittel zum Zweck -- die einzige Möglichkeit, die einer hat, das von anderen Menschen zu bekommen, was er braucht, nämlich Anerkennung, Geld und die Gewißheit. Einfluß auszuüben.
Das amerikanische Wirtschaftsmagazin »Business Week« hat solche Ermüdungserscheinungen einmal »Executive fatigue« genannt. Bekannt ist dieses Phänomen auch hierzulande. wenngleich es schwerer fällt als in Amerika. ausgesprochene Aussteiger unter den Topmanagern namhaft zu machen, die sich sozusagen als fröhliche Landmänner dem Schäfchen zugesellen, das sie irgendwo im trockenen haben. Aber ein Hauch von Resignation weht spürbar durch die Reihen der noch amtierenden Kriegsgeneration.
Eine mögliche Ausflucht ist die Tendenz, sich wenigstens aus der Schußlinie zurückzuziehen, dem permanenten Leistungsdruck und den nachdrängenden Jungen ein Stückchen auszuweichen und mit geringerer Drehzahl über die Runden zu kommen -- da man ohnehin kaum höher steigen kann und da die Reserven schwinden.
Die andere Möglichkeit, dem Dilemma zwischen Trieb und Trott eines etablierten Erwerbslebens zu entkommen, ist der Versuch. einen neuen Beruf zu ergreifen. eine neue Karriere zu begründen. So mancher müde Mittvierziger, dem zu seinem Job so recht nichts mehr einfällt, mag diese Idee reizvoll finden, auch romantisch.
Riskant ist sie allemal. Berufliche Enttäuschungen in der zweiten Lebenshälfte haben einen Unterton von Endgültigkeit. Die Mobilität der Vierziger ist drastisch eingeschränkt. »Wenn du es mit Vierzig nicht geschafft hast. dann schaffst du es überhaupt nicht mehr« -- dies gilt als Faustregel mindestens in Amerika.
Zeit zum Nachdenken für die Vierzigjährigen?
Die Männer, die den Wechsel dennoch wagen, tun das keineswegs alle aus dem nämlichen Grund. Es gibt mindestens fünf mögliche Motivationen:
* das Bestreben, einen schal gewordenen oder gar gefährdeten Erfolg durch einen neuen Erfolg zu ersetzen;
* der Wunsch. eine persönliche Spitzenleistung, die sozusagen zur Zirkusnummer zu werden droht, in Arbeit für das allgemeine Wohl umzusetzen:
* die Flucht vor den Folgen eines Ruhms, der (vorgeblich oder tatsächlich) langweilig geworden isL
* die simple Hoffnung. daß der Umgang mit neu (oder wieder) entdeckten Interessen, die ganz außerhalb des bisherigen Berufs liegen, versiegende Kräfte zu reaktivieren vermöge;
* ein letzter Anlauf, den verdrängten Wunschtraum wahrzumachen.
Auch dafür gibt es Beispiele (siehe Kasten Seite 42). Gemeinsam ist allen diesen Bemühungen. die zu eng gewordenen beruflichen und ökonomischen Definitionen des Selbst abzustreifen, allenfalls eine eigentümliche, mit dem Verstand allein gar nicht zu fassende Verbindung aus Flucht. Trotz und Traumtänzerei, die man das Gauguin-Syndrom nennen könnte.
Paul Gauguin war ein gutbürgerlicher Bankmensch in Paris, als er 1883, mit 35 Jahren, seinen lukrativen Job und seine wütende Ehefrau im Stich ließ, um später in die Südsee zu reisen und dort (unter aktiver Beteiligung kindhafter Eingeborener weiblichen Geschlechts) eine zweite Existenz als Maler zu begründen.
Aber noch mit 49 Jahren gab er einem in Öl gemalten. mit schönen Menschen bevölkerten Panorama den Titel: »Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?«
Abhauen ist offenbar auch nicht die Lösung. Das zeigt allein schon die Statistik der als vermißt gemeldeten Personen, von denen weitaus die meisten in die Probleme zurückkehren, denen sie haben entfliehen wollen. Neuerdings sind es dreimal so viele Frauen wie Männer, die entweder eine Scheidung begehren oder von zu Hause weggehen (nicht unbedingt zu neuen Liebhabern). Aber 80 Prozent kommen wieder.
Groß ist auch die Chance nicht, daß der vermeintlich auf Sylt ertrunkene Karl-Heinz W., von dem zu Anfang die Rede war, nun mit Frau Susanne S., zwei hervorragend gefälschten Pässen und einem gut gefüllten Bankkonto irgendwo in Südamerika sitzt -- und glücklich ist dabei.
Kein Mensch kann vor sich selber davonlaufen -- schon gar nicht, bevor er herausgefunden hat, wer er denn sein will auf der anderen Seite des Meridians, in der zweiten Hälfte seines Lebens.
Das dauert eine Weile. »Vielleicht kommen wir ja eines Tages dahin«, schreibt die amerikanische Autorin Barbara Fried*, »den Vierzigern die nämliche Art von Moratorium einzuräumen, die wir den Vierzehnjährigen bereits zugestehen -- die Chance also. sich für eine Weile zu absentieren von den Pressionen der Verantwortung und der Intimität; lange genug, um über alles nachdenken zu können und ohne deshalb gleich alles hinschmeißen zu müssen.«
Es mag helfen, Interessen zu pflegen, die man bislang aus Zeitmangel in die Schublade gelegt hat: Talente wiederzuentdecken, die der eingleisigen Zielstrebigkeit eines unter Volldampf vorwärtsstrebenden Dreißigers geopfert worden sind.
Aber der härteste Brocken für die meisten Mittvierziger wird wohl die Notwendigkeit sein, sich sozusagen abwärts anzupassen. Am Rande des steinigen, schwach beleuchteten Weges von der Rolle des Aufsteigers zum ausgewachsenen Selbst liegen auf Schritt und Tritt die vordem unterdrückten, ungewollten Teile der eigenen Person herum, die nun mitgenommen und in die neue Identität integriert werden müssen, wenn diese für den Rest des Lebens Gültigkeit haben soll.
»Was ich wirklich verarbeiten muß«, so zitiert Gail Sheehy einen erfolgreichen amerikanischen Architekten von 43 Jahren, »sind die Empfindungen der
* Im Schlußkapitel einer Neuauflage ihres erstmals 1967 erschienenen Buches »The Middle-Age Crisis«
Passivität, der Abhängigkeit, der Schwäche, der Gebrechlichkeit -- alles Erscheinungen, die ich im verstandesmäßigen Bereich abscheulich finde.«
Resignation ist das zentrale Thema der Midlife crisis -- und ihre Lösung; dann nämlich, wenn es gelingt, dem Begriff Resignation einen positiven Inhalt zu geben.
Das Unvollkommene überwinden, indem man es hinnimmt.
Gemeint ist »Resignation im Sinne bewußter wie unbewußter Hinnahme der unvermeidlichen Frustration im großen Zusammenhang des Lebens insgesamt« -- dies die Definition des britischen Psychoanalytikers Elliott Jaques. der in einem 1965 erschienenen Aufsatz ("Death and the Mid-Life Crisis") den Begriff von der Krise der Lebensmitte vermutlich erfunden hat.
In der Lebensmitte müssen unvermeidliche Unvollkommenheiten nicht mehr als schreckliches Versagen empfunden werden, die eigene Arbeit muß nicht mehr unbedingt perfekt sein. Dieser gereiften Resignation, so Elliott Jaques, entspringt die wahre Heiterkeit. die das Unvollkommene überwindet. indem sie es hinnimmt.
Ich glaube vielleicht, daß ich aufgehört habe, mich zu verteidigen. Irgend jemand hat mal gesagt, ich sei schlapp und nachgiebig geworden. Daß ich mich sozusagen selbst verkleinert hätte. Das stimmt aber nicht. Ich glaube vielmehr, daß ich jetzt meine richtigen Proportionen gefunden habe. Und daß ich mit einer gewissen Demut meine Grenzen akzeptiert habe. Das macht mich freundlich und ein bißchen traurig.
(Johan zu Marianne in Ingmar Bergmans »Szenen einer Ehe«.)
Johan und Marianne, das Paar aus Bergmans Film »Szenen einer Ehe« haben die Midlife crisis hinter sich gebracht. Im Grunde sind beide gescheitert, besonders Johan. Er hat einen beruflichen Bankrott erlebt, alle seine hochfliegenden Pläne haben sich zerschlagen. Er hat sich von Marianne getrennt und schließlich scheiden lassen.
Aber trotz Trennung und Scheidung bleiben beide weiterhin eng aufeinander bezogen. Jürg Willi sagt, es sei in dieser Entwicklung »die ganze Melancholie, Wärme, stille Resignation und das Selbstmitleid der mittleren Jahre«.
In der Schlußszene des Films ist Johan 53, Marianne 45, die Scheidung liegt fünf Jahre, die Eheschließung 20 Jahre zurück. Die beiden reden miteinander ohne Bitterkeit.
»Es ist sehr lustig«, sagt Johan, »über all das zu sprechen, was nie etwas geworden ist.«
Im nächsten Heft
SPIEGEL-Gespräch mit dem Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich über die Krise in der Lebensmitte