»DAS KANN DOCH NICHT UNSER HITLER SEIN!«
Der Weltkrieg-I-Meldegänger Adolf Hitler stand bei seinen Vorgesetzten des Infanterie-Regiments »List« im Ruf eines zuverlässigen, aber unmilitärischen Soldaten ohne Führereigenschaften. Fritz Wiedemann, damals Regimentsadiutant, später - von Februar 1934 bis Januar 1939 - persönlicher Adjutant des großdeutschen Führers, nennt ihn einen »bescheidenen und ruhigen Untergebenen«. Dem Buch Wiedemanns, »Der Mann der Feldherr werden wollte«, das jetzt im Blick + Bild Verlag erschien (270 Seiten; 22,80 Mark), sind folgende Auszüge entnommen:
Wann ich mir zum ersten Male diesen Gefreiten ... näher angesehen habe, weiß ich heute nicht mehr. Auf jeden Fall gehörte er zu denjenigen Soldaten, die mir unmittelbar unterstanden und mit denen ich mich deshalb im Laufe der Zeit genauer beschäftigte, um zu wissen, auf wen man sich wirklich verlassen konnte.
Zwischen Hitler und mir stand nur noch der Vizefeldwebel und Regimentsschreiber Max Amann, der spätere Reichsleiter der NSDAP und Leiter des Franz-Eher-Verlages. Im Rang hat sich also die Reihenfolge Wiedemann - Amann - Hitler nach 1933 ins Gegenteil gekehrt. Hitler wurde Reichskanzler, Amann Reichsleiter, und ich stand auf dieser Stufenleiter als Hitlers Adjutant unten ...
Die Meldegänger wurden zu kleinen Dienstleistungen herangezogen und begleiteten den Kommandeur oder mich bei regelmäßigen Rundgängen durch die vordere Linie. Von solchen Begleitgängen her erinnere ich mich gut an Hitler als einen ruhigen, etwas unmilitärisch aussehenden Mann, der sich zunächst in nichts von seinen Kameraden unterschied. Erst mit der Zeit gewannen wir den Eindruck, daß er etwas weiterreichende Interessen hatte als seine Kameraden, die zumeist vom Lande aus dem Bayern südlich der Donau stammten. Aber auch das war in einem Regiment wie dem unsrigen nichts Ungewöhnliches.
Bezeichnend ist die folgende Erinnerung. Als Hitler Reichskanzler geworden war, besuchte mich eines Tages der Weiss Jackl, seines Zeichens Bauer und Bürgermeister im oberbayrischen Hopfenbaugebiet, ehemaliger Angehöriger des Regimentsstabes Res. Inf. Regt. 16.
Als er mich fragte: »Herr Hauptmann, haben Sie damals, als der Hitler noch Ordonnanz bei uns war, gemerkt, daß aus ihm mal etwas Besonderes werden könnte?«, versuchte ich mich diplomatisch mit der Gegenfrage aus der Affäre zu ziehen - ich war ja immerhin der Adjutant »des Hitler": »Sie waren ja noch viel enger mit ihm zusammen als ich, haben Sie etwas gemerkt?«
»Na, uns hat er ja manchmal politische Vorträge gehalten«, antwortete der Weiss Jackl. Daß er vielleicht einmal bayrischer Landtagsabgeordneter werden könnte, das hätten wir schon gedacht, aber Reichskanzler - nie!«
Im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozeß in Nürnberg wurde ich von dem stellvertretenden US-Hauptankläger, Professor Kempner, ins Kreuzverhör genommen. Er richtete u.a. die Frage an mich: »Sie sind doch im Kriege der Vorgesetzte Adolf Hitlers gewesen. Können Sie uns sagen, warum er nicht zum Unteroffizier befördert wurde?«
»Weil wir keine entsprechenden Führereigenschaften an ihm entdecken konnten«, antwortete ich.
»Also, weil er keine Führerpersönlichkeit war!« beendete Kempner das Verhör unter dem Gelächter der Anwesenden - auch der Angeklagten. Kempner war der Meinung, einen prächtigen Witz gemacht zu haben.
Was ich Kempner geantwortet hatte, traf jedoch zu. Hitler hatte damals nach militärischer Auffassung wirklich nicht das Zeug zum Vorgesetzten. Ich sehe einmal davon ab, daß er nach den Friedensbegriffen eines aktiven Offiziers keine besonders gute Figur machte; seine Haltung war nachlässig und seine Antwort, wenn man ihn fragte, alles andere als militärisch kurz. Den Kopf hielt er meist etwas schief auf die linke Schulter geneigt ...
Da er im Gegensatz zu seinen Kameraden keine Liebesgabenpakete aus der Heimat erhielt, haben wir ihm einmal 10 Mark aus dem Kantinenfonds geben wollen, damit er sich zu Weihnachten etwas kaufen konnte. Hitler hat das abgelehnt.
So ist er mir als ein besonders ruhiger, bescheidener und zuverlässiger Untergebener in Erinnerung geblieben, mit dem ich auch außerdienstlich gern ein paar Worte wechselte ...
Ein Vorfall ist mir noch in ganz besonderer Erinnerung geblieben, wohl deshalb, weil ich mich dabei zum ersten Male mit Hitler etwas länger unterhielt.
Kurz nach meiner Versetzung zum 16. Res. Inf. Regt. hatten wir in der Villa
in Fournes, in der sich die Regimentskanzlei befand, auch ein kleines Speisezimmer für die Offiziere des Regimentsstabes eingerichtet. Einen der vielen Kriegsmaler, die uns dort besuchten, baten wir, uns für dieses Speisezimmer ein Bild zu malen.
Wir bekamen auch ein recht sinniges, dessen Sujet nicht gerade das für ein Speisezimmer geeignetste war. Es zeigte nämlich einen sterbenden Soldaten, der im Drahtverhau vor dem Graben lag. Die untergehende Sonne tauchte das Ganze in ein leicht violettes Licht.
Ein Bild, wie es die romantisierende Kriegsbegeisterung der damaligen Jahre zu Hunderten gebar. Aber der Wandanstrich unseres Zimmers paßte nicht. Ich rief deshalb Amann und fragte ihn: »Haben wir nicht im Stab einen Mann, der uns das Zimmer anstreichen kann?« Amann, der im Gegensatz zu Hitler immer besonders zackige Antworten gab, sagte hackenklappend: »Jawohl, Herr Oberleutnant, so einen haben wir, ich schicke ihn sofort!« Und dann kam der Gefreite Hitler. Ich sagte ihm: »Schauen Sie sich das Bild einmal an. Das soll da hängen bleiben. Aber der Wandanstrich paßt gar nicht. Was meinen Sie, sollen wir mehr einen blauen oder mehr einen roten Anstrich nehmen, und können Sie das machen?«
Hitler sah sich die Wand und das Bild an, schlug mir dann einen mehr bläulichen Ton vor. Dann holte er sich Leiter und Farbe und begann zu pinseln.
Ich habe ihm wiederholt bei der Arbeit zugesehen und mich mit ihm dabei unterhalten. Damals kannte ich ihn noch nicht näher, und abgesehen von seiner unmilitärischen Haltung und einem leichten österreichischen Akzent fiel er mir vor allem dadurch auf, daß er offenbar im Leben schon einiges hinter sich hatte und zu den ernster veranlagten Menschen gehörte.
Ein Jahr später lagen wir an der Somme. Unsere Regimentsbefehlsstelle war ein minierter Unterstand in Le Barque, einer vollkommen zerschossenen Ortschaft südlich Papaume ... Zum Ausruhen und Schlafen fand sich kaum ein Platz. Die minierten Stollen waren zu eng, um richtige Schlafstellen einzurichten.
So hockten also die Melder eng aneinandergelehnt im Gang, meist mit angezogenen Beinen, und schliefen dort todmüde trotz dieser unbequemen Lage. Es war Nacht, und ich wurde durch die Detonation und das Stöhnen der Verwundeten aufgeschreckt.
Sechs Meldegänger waren verwundet, alle an der rechten Seite. Unter ihnen war auch mein Meldegänger Hitler. Seine Verletzung erwies sich jedoch als nicht schwer, und als ich mich zu ihm niederbeugte, sagte er: »Es ist nicht so schlimm, Herr Oberleutnant, gelt, ich bleibe bei Euch, bleibe beim Regiment!«
Da lag er nun, der Mann, der so gern Kunstmaler werden wollte ... und hatte keinen anderen Wunsch als den, beim Regiment bleiben zu dürfen.
Als ich in den zwanziger Jahren wieder einmal in München war, sah ich überall riesengroße Plakate, die eine Versammlung im Zirkus Krone ankündigten und als Redner ... Adolf Hitler. Zufällig traf ich unseren ehemaligen Gerichtsoffizier des 16. Res. Inf. Regt., Dr. Diess, und meinte: »Ich lese da von einem Adolf Hitler als Versammlungsredner - das kann doch nicht unser Hitler sein, der kann doch gar nicht reden!«
»Das ist aber unser Hitler!« antwortete Diess. »Den würdest Du nicht mehr wiedererkennen. Der zieht sich jetzt, wie er glaubt, elegant an, hat sich den Schnurrbart gestutzt und hält Volksreden. Und den Beifall der Massen hat er immer da, wo er ihn haben will!«
Nun, mich interessierten Politik und politische Versammlungen nicht, und ich hatte diesen Vorfall bald wieder vergessen. Erst als ich zu einer Zusammenkunft ehemaliger Angehöriger des 16. Res. Inf. Regt. nach München fuhr, traf ich Hitler wieder.
Zunächst begrüßte mich - es war im Löwenbräukeller - mein ehemaliger Regimentsschreiber Max Amann, der bereits in der NSDAP eine Rolle spielte und versuchte, mich für die SA zu begeistern. »Wir brauchen Sie als Führer für die SA, kommen Sie zu uns!« SA ich wußte gar nicht so recht, was das eigentlich war.
Bevor ich antworten konnte, trat Hitler selbst auf mich zu, begrüßte mich und wiederholte lebhaft Amanns Vorschlag. Ich hatte inzwischen über die Partei Hitlers einiges in den Zeitungen gelesen und konnte mich für diese Gedanken nicht begeistern. »Ich bin Bauer geworden und möchte in Ruhe meine Rüben bauen«, antwortete ich, worauf sich Hitler wortlos zurückzog.
Daß er inzwischen ein anderer geworden war, konnte ich auf den ersten Blick feststellen. Er trug seinen Bart so, wie er damit in die Karikatur der Welt eingegangen ist, hatte einen Cutaway an, mit dem er unter allen Teilnehmern auffiel, und zeigte ein sicheres Auftreten.
Die Art, wie er mit mir sprach, erinnerte nicht mehr an den früheren, etwas unmilitärischen Meldegänger; das war jetzt ein Mann, der inzwischen aus sich heraus etwas geworden war und eher gewöhnt, Befehle zu erteilen, als solche zu empfangen ...
Hitler hatte wohl den Eindruck, daß er an diesem Abend nicht ganz am Platz war. Er wechselte ein paar Worte mit ein paar alten Bekannten, schob sich erhobenen Kopfes durch die Menge, zu der er keinen richtigen Kontakt fand, und verschwand bald wieder. Soviel ich
weiß, war es die erste und letzte Zusammenkunft ehemaliger Regimentskameraden, die Hitler mit seiner Gegenwart beehrte. Man hatte damals schon das Gefühl, daß ihm Versammlungen nicht zusagten, bei denen er nicht reden und die erste Rolle spielen konnte:
1929 saß ich mit einem alten Regimentskameraden, dem früheren Leutnant d. Res. Dehn, im Münchner Kaffee Heck. Dehn war Jude. Wir sprachen über alte Zeiten und frischten Erinnerungen an manches gemeinsame Erlebnis wieder auf. Auf einmal sagte Dehn: »Wiedemann, schauen Sie mal da hinüber, da sitzt Ihr alter Meldegänger Hitler mit seinem Verein.« Ich sah hinüber und begegnete Hitlers Blick, der mich ebenfalls erkannte. Wir erhoben uns fast gleichzeitig und trafen in der Mitte des Lokales zusammen.
Hitler fragte mich nach meinem Ergehen und verfiel dann sofort in einen politischen Vortrag, der darin gipfelte, daß das Diktat von Versailles an allem Übel schuld sei, womit er offenbar nicht ganz unrecht hatte. Dann schilderte er mir lebhaft, warum er den Young-Plan bekämpfte, von dem ich nichts verstand. Nach diesem nicht sehr langen Gespräch trennten wir uns in freundschaftlicher Weise.
Seit dem ersten Zusammentreffen im Löwenbräukeller war er zweifellos wieder gewachsen. Er war nun nicht mehr der Führer einer kleinen Partei, über die sich viele Leute mokierten und die man nicht recht ernst nahm; er war jetzt eine Macht, mit der man in der Politik rechnete. Das merkte man an seiner ganzen Haltung, an seinem selbstbewußten Auftreten.
Mir gegenüber war er jedoch der alte geblieben. Zwar stand er nicht mehr stramm, aber er behandelte mich so, wie ein bedeutender Mann einen ehemaligen Vorgesetzten behandelt, den er nach Beendigung seiner Dienstzeit in bürgerlichen Verhältnissen wiedertrifft. Er hat auf mich damals durchaus Eindruck gemacht.
Regimentsmelder Hitler
»Haben wir im Stab einen Mann ...
Regimentsadjutant Wiedemann
... der uns das Zimmer streichen kann?«
Redner Hitler
»Er hat sich den Bart gestutzt...
... und hält Volksreden": Führer Hitler, Führer-Adjutant Wiedemann (2. v. r.)