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ZIGEUNER Das Kreuz des Kreuz

aus DER SPIEGEL 13/1958

Vor dem Eingang der Kreisverwaltung in Münsingen auf der Schwäbischen Alb stellten sich am Sonnabend der vorvergangenen Woche 31 Bürger des Alb-Dörfchens Magolsheim mit zufriedenen Gesichtern zu einer Gruppenaufnahme in Positur; sie waren allesamt unmittelbar zuvor - im Sitzungssaal des Kreistags - zu Gefängnisstrafen zwischen sechs Wochen und neun Monaten verurteilt worden.

Die sonderbare Diskrepanz zwischen dem Urteil und der Zufriedenheit, mit der sich die 31 Verurteilten dem Photographen präsentierten, um ihr Bild für die Nachwelt festhalten zu lassen, machte deutlich, daß die Magolsheimer sich von dem Schuldspruch moralisch nicht getroffen fühlten, Objekt ihrer Straftaten waren Zigeuner.

Einer Zigeunerfamilie wegen hatten sich nämlich die 31 verurteilten Bürger des 425-Seelen-Dorfs Magolsheim im Juni 1957 zu einer Tat entschlossen, die im Strafgesetzbuch als Landfriedensbruch qualifiziert ist. Dazu konnte es allerdings nur kommen, weil nicht allein die Magolsheimer, sondern auch die Bürger der Gemeinde Herrlingen nur äußerst ungern Umgang mit Zigeunern pflegen. Solchem Umgang konnten sich die Herrlinger jedoch nicht entziehen, denn in ihrem Dorf ist seit Jahren der Zigeuner Franz Kreuz ansässig, der sich und seine neunköpfige Familie von den Erträgen eines Schrott- und Metallwarenhandels ernährt.

Obschon Franz Kreuz den Ruf eines leidlich rechtschaffenen Mannes genießt, bemühte sich die Gemeinde Herrlingen, ihn samt seiner Sippe loszuwerden. Ihre Versuche, den Altwarenhändler mit dem unbeliebten Stammbaum anderen Gemeinden aufzuhängen, blieben jedoch ohne Erfolg. Im Frühling des Jahres 1957 aber glaubte die Gemeinde Herrlingen ein zwar teures, aber erfolgssicheres und obendrein wohlanständiges Rezept gefunden zu haben: Sie verschaffte sich über einen Makler in der Alb-Gemeinde Magolsheim ein Haus. Unter den Kaufvertrag setzte zwar Franz Kreuz seinen Namenszug - in Form von drei Kreuzen -, den Kaufpreis aber, 14 000 Mark, bezahlte die Gemeinde Herrlingen.

Franz Kreuz, nunmehr Eigentümer des stattlichen Hauses Nr. 5 in der Hauptstraße von Magolsheim, machte sich und die Seinen zum Umzug bereit, der am 4. Juni stattfinden sollte. Indes, als der Zigeuner am Morgen dieses Tages in Magolsheim eintraf, war das Haus, das noch am Abend des 3. Juni solide und behäbig an seinem Platz gestanden hatte, nicht mehr vorhanden. Nur ein wüster Haufen Schutt und Scherben markierte die Stelle, an der Franz Kreuz sein neues Heim hatte finden sollen. Überdies hatten die Magolsheimer in der Nacht vom 3. zum 4. Juni scheinbar extrem fest geschlafen, jedenfalls fand sich zunächst kein Mensch im Dorf, der von dem Einsturz oder dem Abbruch des Hauses etwas gehört haben wollte.

Erst als die Reutlinger Kriminalpolizei anrückte und die Magolsheimer gründlichen Verhören unterzog, wurde der Tatbestand ermittelt, dessentwegen neun Monate später 31 Bürger des Dorfes als Landfriedensbrecher vor Gericht standen. Die Magolsheimer hatten das Haus eilends eingerissen, um zu verhindern, daß sich die Zigeunerfamilie Kreuz im Dorf niederließe. Die Kriminalpolizei hatte es bei ihren Ermittlungen nicht allzu schwer: Nachdem die Wahrheit erst einmal durchgesickert war, bekannten sich etliche der Amateur-Abbrucharbeiter zu ihrer vermeintlich gerechten Tat. Aus den 50 bis 60 Magolsheimern, die an dem Hausabbruch beteiligt waren, sortierten die Kriminalbeamten schließlich zwei Rädelsführer und 29 weitere Haupttäter heraus, die in vier Gruppen zu Werke gegangen waren:

- die erste Gruppe hatte das Dach abgedeckt;

- die zweite hatte mit Schlegeln und

Pickeln Zwischenwände, Türen und Fenster zerschlagen;

- die dritte hatte mit Hilfe von Traktoren die Außenmauern eingerissen, und

- die vierte hatte den Schutt teils abtransportiert, teils aufgeräumt.

Der Plan zu dieser Untat war am Abend des 3. Juni ausgeheckt worden, an dem eine Deutschamerikanerin, die Verwandte in Magolsheim besuchte, in der Magolsheimer Gastwirtschaft »Adler« zahlreiche Runden Freibier stiftete. Die Zecher waren bedrückt von dem Gedanken, daß fortan auch der Zigeuner Kreuz im »Adler« sein Bier trinken könnte, und erkannten schnell, daß nur noch der radikale Abbruch des Hauses diese Gefahr aus der Welt schaffen könne.

Weiteres Freibier der Amerikanerin und Zahlungserleichterungen des »Adler«-Wirts wie des »Engel«-Wirts brachten die Abbrucharbeiten in Gang, an denen sich bald jeder Bürger beteiligte, der etwas auf sich hielt. Auch der junge Dorflehrer glaubte es sich schuldig zu sein, zum Gelingen des Werkes beitragen zu müssen. Er betätigte sich als Marketender für die eifrig an der Zerstörung des Kreuz-Hauses Arbeitenden, indem er Bier herbeischleppte.

Daß die Magolsheimer Hausabbrecher sich als Helden fühlen durften, die schlimmes Unheil von ihrem Dorf abgewendet hatten, wurde ihnen wenig später von der Redner-Tribüne des Stuttgarter Landtags herab bestätigt. Dort warf sich der CDU -Abgeordnete Tiberius Fundel aus Indelhausen auf der Alb zum Verteidiger der Magolsheimer auf.

Sprach Fundel: »Ich brauche nicht besonders hervorzuheben, daß der Aufenthalt einer großen Zigeunerfamilie für ein kleines Albdorf, wie es Magolsheim ist, eine erhebliche und ständige Belästigung darstellt .

Zwischenruf des SPD-Abgeordneten Oskar Kalbteil, Oberbürgermeister von Reutlingen: Zigeuner sind auch Leut'!«

»Man denke nur an die Zeit der Heu - und Getreideernte, in der sich die Bewohner der betroffenen Gemeinde nicht ohne ernstliche Besorgnis auf ihre Felder begeben können.«

Seine ethnologischen Kenntnisse bewies Fundel durch die Vermutung, daß »der Aufenthalt von vorläufig nur einer Zigeunerfamilie wahrscheinlich den Zuzug weiterer Familien des Stammes zur Folge haben wird. Bald wird es so weit sein, daß man von dem Zigeunerdorf Magolsheim sprechen wird!«

Immerhin verkannte Fundel nicht, daß »die Zigeuner nach dem Grundgesetz gleichberechtigte Bürger unseres Staates sind«, fügte aber hinzu, daß sie sich »ihrer Umgebung nicht anzupassen vermögen, und daß diese Fremdstämmigen nach ganz anderen Gesetzen als unsere eigenen Landleute leben«.

Fundels Wunsch nach einer gesetzlichen Regelung des Zigeunerproblems bedachte der SPD-Abgeordnete Ebert mit dem Zwischenruf: »Neue Rassengesetze!« Darauf Fundel: »Das Verhalten der Magolsheimer kann nicht einfach mit einer lässigen Handbewegung als rechtswidrig abgetan werden. Die Moral steht in diesem Falle eindeutig auf seiten der Magolsheimer.«

Die so gestärkte Überzeugung der Magolsheimer, eine gerechte Tat vollbracht zu haben, wurde auch durch den Umstand nicht getrübt, daß sie den Hausabbruch teuer bezahlen mußten, denn da die Gemeinde Herrlingen nicht geneigt war, für den Trümmerhaufen auch noch 14 000 Mark zu bezahlen, so mußte eben Magolsheim den Hausverkäufer mit barer Münze schadlos halten.

Das Bewußtsein moralischer Lauterkeit kennzeichnete denn auch das Auftreten der 31 Angeklagten vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Tübingen. Zwar waren sämtliche Angeklagten darauf bedacht, sich nicht gegenseitig zu belasten; sie mühten sich auch, Trunkenheit oder Nichtwissen vorzuschützen, doch von der Ansicht, daß Zigeuner ein Übel sind, waren sie auch durch kluge Richterworte nicht abzubringen.

Magolsheims Bürgermeister Anton Wassner zum Beispiel, der wegen Beihilfe zur Zerstörung von Bauwerken zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde, gab unumwunden zu, er habe den Zuzug der verhaßten Familie unterbinden wollen, indem er beim Landratsamt in Münsingen die sofortige Einweisung einer Flüchtlingsfamilie in das bereits verkaufte Haus habe erwirken wollen, »notfalls mit Gewalt«. Der Bürgermeister offenbarte auch, was er getan hätte, wenn die Zigeunerfamilie Kreuz doch in Magolsheim seßhaft geworden wäre. Er hätte keine polizeiliche Anmeldung entgegengenommen und auf diese Weise dem Kreuz das Magolsheimer Bürgerrecht und damit die Existenzberechtigung verweigert.

Daß gegen den unzeitgemäßen Willen der Alb-Bauern, Fremdländer, insbesondere Zigeuner, nicht als gleichrangige Menschen gelten zu lassen, Staat und Gerichte offenbar machtlos sind, bewies in dem Prozeß der Mann, dessentwegen alles geschah: der Altwarenhändler, Analphabet und Zigeuner Franz Kreuz.

Er wohne, so sagte Kreuz als Zeuge aus noch immer in dem halbverfallenen Pferdestall, in dem für neun Personen ganze zwei Betten zur Verfügung stehen, und er werde da wohl auch noch lange wohnen bleiben müssen.

Dazu muß man wissen, daß das baden württembergische Innenministerium schon bald nach dem Hausabbruch der Gemeinde Herrlingen auferlegt hatte, dem Kreuz ein Einfachhaus mit fünf Zimmern zu bauen, das spätestens am 1. Mai 1958 bezugsfertig sein müsse. Bis jetzt ist es der Gemeinde, die den Kreuz partout loswerden möchte, aber nicht loswerden kann, noch nicht einmal gelungen, einen Bauplatz für das Haus aufzutreiben.

Altwarenhändler Kreuz und Familie: Sind Zigeuner auch Leut'?

Hauptstraße in Magolsheim: Haus Nr. 5 verschwand über Nacht

Verurteilter Bürgermeister Wassner

Unzeitgemäße Abneigungen

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