Das Kreuz mit den Deutschen
Auch Kammmolch, Deichhummel und Kreuzkröte gehören zu Gottes Schöpfung. Und weil sich die geschützten Tiere im Biotop »Missionarsgrube« auf der Hangelarer Heide so gern paaren, musste der Heilige Vater ein wenig weichen.
Hier, an der Missionarsgrube, hätte eigentlich die Abschlussmesse des katholischen Weltjugendtreffens stattfinden sollen, doch der Bund für Umwelt und Naturschutz klagte im Namen der Molche, und deshalb mieteten die Organisatoren als neuen Schauplatz der heiligen Messe nun eine aufgeschüttete Braunkohlengrube bei Kerpen-Türnich.
Gottes kleine Geschöpfe zählen mehr in Deutschland als das Begehren des Papstes.
»Wir sind gekommen, um IHN anzubeten«, ist das Motto des Weltjugendtags (WJT), der rund 800 000 junge Gläubige aus allen Kontinenten für sechs Tage rund um diese ehemalige Braunkohlengrube versammeln wird.
Die Organisatoren stehen unter Erfolgsdruck. Sie müssen dem Papst und sich selbst beweisen, dass Deutschland noch glauben kann. Es muss Bilder geben wie jene im April, als sich rund um den Petersplatz die Jugend der Welt versammelte. Köln soll ein neues Rom werden.
Das Weltjugendtagsbüro sitzt im Kölner Bankenviertel, zwischen Investmentfirmen und Finanzberatern. Manfred Kollig von den Arnsheimer Brüdern ist hier der »Bereichsleiter Liturgie«. Seine Aufgabe ist es, dem Glauben eine Form zu geben.
An der Wand neben Pater Manfred hängt der Ablaufplan des Weltjugendtags 2005, ein quadratmetergroßes Mosaik aus Kästchen, Spalten und Tabellen. In einer minutengenauen Choreographie wird das Ereignis vorweggenommen. »Der Heilige Vater macht eine Kniebeuge«, so steht es geschrieben für den 21. August. »Der Heilige Vater besprengt die Glocke mit Weihwasser.« Die Gemeinde singt »Laudate omnes gentes«. Im Organisationsbüro heißt Pater Manfreds Liturgieplan nur noch »das Drehbuch«.
Inszeniert wird nicht weniger als eine historische Begegnung: Der neue Papst trifft auf die Jugend der Welt, jedenfalls auf die Jugend, die glaubt, an Gott und den Papst. Es ist eine pilgernde Großstadt, die da für sechs Tage anrückt, schwitzend, singend, mit Rucksäcken auf dem Rücken und in Hosen, die zu tief unter den Hüften hängen.
Auf der anderen Seite steht der Papst. Ein 78-jähriger Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie, der die letzten 23 Jahre im stillen Gespräch mit jahrhundertealten Dogmen, Enzykliken und Episteln verbracht hat.
Als der Papst noch Kardinal war, da waren ihm diese tücherschwingenden Massenveranstaltungen zutiefst verdächtig. Den Verbänden in Deutschland warf er vor, ihre Katholikentage seien zu anpässlerisch dem Zeitgeist gegenüber. Es war die Initiative seines Amtsvorgängers, die Jugend der Welt zu rufen, nicht seine. Aber der neue Papst wird nach Köln kommen, als Stellvertreter des alten. Und die jungen Gläubigen werden ihn jubelnd empfangen.
Unbemerkt vom deutschen Publikum hat sich in den vergangenen Monaten die katholische Zivilgesellschaft in Bewegung gesetzt. Dem Papst und den Pilgern soll, wenn schon kein blühender, so doch ein existierender Glaube vorgeführt werden. In der Fit&Fun-Gesellschaft längst ausgestorben geglaubte Vereine mit stolzen Namen regen sich: Pfadfinderschaft Sankt Georg, Arbeiterjugend, Landjugendbewegung. Von Dresden aus wird seit über einem Monat ein 3,80 Meter langes »Weltjugendtagskreuz« durch die Republik geschleppt.
Alles ist vorbereitet. Es gibt eine sozial gestaffelte Pilgergebühr, in der Krankenversicherung, Haftpflicht, Vollpension, Unterkunft und Transport enthalten sind.
Es gibt 500 000 Pilgerrucksäcke mit Regencape, Wasserflasche, Sonnenschutz, Fahrkarte, Stadtplan und Liederbuch. Und mit einem kleinen, verschweißten Säckchen, das einen Rosenkranz enthält, aber nach etwas anderem aussieht. Die Telefonseelsorge hält mehrsprachige Bereitschaft, um »religiösen Psychosen und Suizidversuchen« zu begegnen.
»Natürlich hätten wir auch mit moderner Technik eine Lichtkathedrale bauen können«, sagt Pater Manfred, der große Inszenator. »Aber wir haben uns für Finca-Kerzen entschieden. Wir wollten die Reduzierung auf das Eigentliche. Picasso, den späten Matisse, nicht die barocke Fülle.«
Der deutsche Katholizismus will sich perfekt organisiert zeigen. Als ob es einen Zusammenhang gäbe zwischen Logistik und Frömmigkeit. Vielleicht ist es auch Angst, die den Aufwand diktiert.
Denn wenn Benedikt XVI. am Donnerstag gegen zwölf Uhr auf dem Köln-Bonner Flughafen landet, betritt er ein Land, das ihm inzwischen fern steht. Die erste Auslandsreise des deutschen Papstes ist eine Heimkehr in die Fremde. In diesem Land werden mehr Orthopädieschuhmacher und Pferdewirtinnen ausgebildet als katholische Seelsorger. In einer Stadt wie Magdeburg wurden gerade noch acht Prozent der Menschen im Zeichen des Kreuzes getauft.
In Köln wird dem Papst zugejubelt werden. Aber die deutschen Kirchen werden deshalb im Herbst keine zusätzlichen Stühle bereithalten müssen. Zwei Drittel der Deutschen glauben an ein höheres Wesen, doch wirklich wichtig für ihr Leben ist der Glaube nicht einmal der Hälfte davon.
Die meisten Deutschen haben sich in einer privaten Glaubenswelt eingerichtet. Der Urknall taugt ihnen als Gründungsmythos, die Klimakatastrophe als Ersatz für die Apokalypse. Für das eigene Leben und das nötige Quäntchen Ekstase gibt es, je nach Lebensphase, Sex & Drugs & Rock'n'Roll oder ein Konzertabonnement für zwei.
Gebetet wird höchstens mittwochs und samstags, wenn die Lottokugeln rollen. Gebeichtet wird im Chat-Forum. Die Antwort auf die Sinnfrage wird selbst gebastelt: ein bisschen Jesus, viel Karriere und im Zweifel ein Blick in die Augen der eigenen Kinder. Und den Weltjugendtag der Gläubigen werden viele Deutsche so distanziert betrachten wie eine Versammlung der Zeugen Jehovas.
Aber woran glauben die Deutschen wirklich? Eine TNS-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL zeigt: Deutschland ist kein gottloses Land - im Gegenteil, es hat sogar viele Götter. Es gibt ein Bedürfnis nach Glaube, nicht aber nach dem Christentum.
Kurioserweise hat die Säkularisierung die Jugendlichen zwar von Gott entfernt, die Attraktivität von Religion aber kaum vermindert: Zwei Drittel der jungen Leute sagen, es sei modern, an etwas zu glauben.
In der Jugendkultur boomen die religiösen Zeichen und Symbole. Das Kreuz am Hals und der Ché auf dem T-Shirt. Die Zeitgeistlichen des Blattes »Max« haben den Rosenkranz gerade zum »unverzichtbaren Accessoire an Frauen- und Männerhälsen« für diesen Sommer erklärt.
Es ist die Zeit der Laienpropheten. Die Bestsellerlisten lesen sich, als sei in Deutschland der Gottesstaat ausgerufen worden. Wo vor zwei Jahren noch Dieter Bohlen lag, stapelt sich jetzt Erbauungsliteratur - als stünden im September nicht Wahlen bevor, sondern die Apokalypse.
Kardinal Ratzingers Schriften waren zeitweise ausverkauft. »Schluss mit lustig«, Peter Hahnes gesammelte Sonntagspredigten, lösten das »Moppel-Ich« an der Spitze der Sachbuchbestseller ab und läuteten die Gegenreformation in den Buchläden ein. Sankt Peters Gemeinplätze sind mittlerweile in der 46. Auflage zu haben. Offenbar gibt es einen Bedarf für die Wertediskussion - und eine Ratlosigkeit, wie sie zu führen ist. Glaube an Gott jedenfalls bedeutet schon lange nicht mehr Nähe zur Kirche. Nur 32 Prozent der Bundesbürger haben großes oder sehr großes Vertrauen in die Kirchen, und fragt man nur nach Papst Benedikt XVI., so schneidet der mit 36 Prozent nur wenig besser ab.
In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen kommt er nicht so gut an, die Jungen bringen dem Papst weniger Vertrauen entgegen als die Gesamtbevölkerung.
Und ausgerechnet dieser Papst soll nun die Jugend auf dem Weltjugendtag in Köln begeistern, ihren Glauben stärken und sie näher an die Kirche binden.
Im Vatikan gilt Deutschland als verlorenes Land. Das Zentralkomitee aufmüpfig, die Kirchen leer, die Gläubigen verschüchtert. So stehen die deutschen Katholiken in einer Bringschuld. Die deutsche Kirche möchte der Welt ihre Frömmigkeit beweisen, indem sie eine perfekte Organisation bietet.
Die ersten Vorveranstaltungen des Weltjugendtreffs sind bereits vorbei. Alle Bistümer hatten vergangene Woche bereits Betkreise, Diskussionen und Dritte-Welt-Märkte organisiert, doch Tausende Schlafplätze blieben vielerorts leer - weit weniger Jugendliche als gedacht reisten in die deutschen Provinzen. In manchen Messen wurde in den Fürbitten schon jener Gemeinden gedacht, die keinen Jugendlichen abbekommen hatten. Die Angst geht um, dass auch Köln eine Pleite werden könnte.
Der Glaube, so wie ihn die katholische oder auch die evangelische Kirche lehrt, ist in Deutschland eine Minderheitenposition. Die Infratest-Umfrage für den SPIEGEL ergab, dass selbst diejenigen, die sich für gläubig halten, oftmals weit entfernt von kirchlichen Positionen liegen.
An ein Leben nach dem Tod, eine zentrale Glaubenswahrheit des Christentums, glauben nur knapp zwei Drittel aller Katholiken und sogar kaum die Hälfte der Protestanten. 27 Prozent der Gläubigen sagten, Gott sei nicht allmächtig - diese Vorstellung widerspricht ebenfalls jeder Christenlehre.
Konservative wie Kardinal Meisner hoffen nun auf eine Generation, die von ihren Eltern nie erfahren hat, was das Evangelium ist. In der Schule war die frohe Botschaft eine unter vielen, und Madonna war die Blonde mit der Hand am Schritt.
Die deutschen Jugendlichen sind »metaphysische Exilanten«, sagt der alte Kardinal. Joachim Meisner sitzt vor einem fröhlich-bunten Ölbild im Konferenzsaal von Radio Vatikan, nicht weit entfernt von der Engelsburg in Rom. Das Bild zeigt eine Schar Päpste, die um Benedikt XVI. kreisen. Die Farbe muss noch feucht sein. Der Kardinal spricht aufgeräumt, heiter, mit ausladenden Gesten. Er erinnert ein wenig an Luis Trenker. »Die Eltern unserer Jugendlichen«, ruft er, »sind ja meistens alte 68er, und dagegen rebellieren die Jugendlichen, und deswegen kommen sie nach Köln.«
Viele Jugendliche wissen mit den Werten der Siebziger nichts anzufangen. »Emanzipation und Selbstverwirklichung« - waren das nicht die Begriffe, deretwegen die Eltern sich scheiden ließen?
Kardinal Meisner ist guter Dinge. Ratzinger ist Papst, und sein Erzbistum Köln ist - nach acht Jahren der Vorbereitung - endlich für eine Woche Rom. »Wie der Heiland auf dem See Genezareth« werde Benedikt vom Rheinschiff aus predigen, prophezeit der Kardinal. Und das werde hoffentlich eine Dynamisierung des Katholizismus bewirken, und keiner müsse sich mehr seines Glaubens schämen, sondern könne »erhobenen Hauptes« durch Deutschland gehen, »unser armes Vaterland«, das die christliche Botschaft »bitter nötig hat«.
Er erzählt, wie ihn der Herr Bundespräsident am Abend des Konklaves zur Seite genommen und gefragt habe, ob man die Wahl eines deutschen Papstes wohl als Absolution betrachten könne für die beiden Weltkriege.
Die katholische Kirche will mit dem Weltjugendtag eine Jugend auf sich aufmerksam machen, die nicht sehr werteorientiert aufgewachsen ist. Die Jahrgänge 1979 bis 1990 sind mit Computer, Viva und Internet groß geworden. Deren Wahrnehmung der Wirklichkeit ist eine ästhetische. »Für sie sagt der Nike-Turnschuh mehr aus über eine Person als die Mitgliedschaft in der katholischen Kirche«, sagt Matthias Sellmann von der Katholischen Sozialethischen Arbeitsstelle in Hamm. »Die Kirche hat es mit einer Generation zu tun, die durch Symbole kommuniziert, und nicht durch Begriffe, Diskurse oder Programme.«
Das war die Leistung von Johannes Paul II. Er betonte die Symbolik. Er konnte sich über Symbole verständlich machen, auch als seine Stimme fast unhörbar geworden war. In der globalisierten Welt besetzte er die Leerstelle des Welt-Gewissens, des Welt-Vaters.
Papst Wojtyla, das Fels gewordene Gegenbild zur Spaßgesellschaft, hoffnungslos unmodern, unbequem, unbeirrbar. Manche Jugendlichen hatten damit kein Problem - Verhütungsverbot hin, Befreiungstheologie her.
Die Faszination Karol Wojtylas ist nicht zu vererben wie der Stuhl Petri. Joseph Ratzingers Ausstrahlung ist dagegen stets der Glanz des Denkens gewesen, die Brillanz fundamentaltheologischer Klarheit. Wärme ging von ihm nicht aus.
Seine Mittwochsansprachen auf dem Petersplatz sind theologische Oberseminare, Predigten, an deren Ende man kein Amen, sondern eine Liste der Fußnoten erwartet. Der Papst heideggert dann von »Selbst-Erniedrigung« und »Entäußerung«, vom Heilswillen und »morphé«, während den Pilgern unten auf dem Platz die Mittagssonne auf die Mützen brennt. Der Beifall der Gläubigen ist am stärksten, wenn er den Namen seines Vorgängers erwähnt. Benedikts Worte steigen zu Kopfe, zu Herzen gehen sie noch nicht.
In seinen ersten 100 Tagen hat sich der neue Papst bemüht. Aus dem Dogmenhüter ist ein freundlicher alter Herr geworden, in der Lage, sich im Cabrio und mit Sonnenbrille, Marke »Serengeti«, durch Rom fahren zu lassen. Er lächelt, winkt und wirkt bisweilen, als sei ihm eine Last abgenommen. »Wir wussten bis dahin ja nicht, dass er überhaupt die Arme heben konnte«, sagt ein deutscher Kardinal.
Benedikt XVI. wird die Jugendlichen - in ihrer Mehrzahl Spanier, Italiener, Franzosen - auf den Kölner Rheinwiesen und dem Marienfeld zum Jubeln bringen. Vielleicht wird es ihm auch gelingen, eine Sprache der Gesten und der Symbole zu finden, ohne seinen Vorgänger zu kopieren. Aber was, wenn das Event vorüber ist?
Auf zentralen Plätzen Kölns hängt als Willkommensgruß ein Plakat mit den Gesichtern der 126 Langzeitfreiwilligen aus dem Büro des Weltjugendtags. Alle sehen gutgelaunt aus und lächeln, und schon von Weitem wirkt das sehr christlich.
Das Gesicht im Planquadrat B 17 gehört Veronika Dickert aus Nürnberg. Es ist hübsch wie das der Covergirls am Kiosk. Dickert ist bei den Salvatorianerinnen im Kloster untergebracht. Sie sagt, da gäbe es
Freiwillige, die lebten eine Glaubensstrenge, als bastelten sie an einer Kurienkarriere: »Die nehmen alles viel zu ernst. So kann kein junger Mensch leben.«
Manchmal glaubt sie, nicht genug glauben zu können. »Das ist mein Problem.« Wer Biologie-Leistungskurs hatte, ist für die Schöpfungsgeschichte verloren. Veronika Dickert ist 20 Jahre alt und mag Tennis, Oscar Wilde und Dan Brown. In die Kirche geht sie, wenn sie das Bedürfnis danach verspürt: »Nicht, um mich eine Stunde lang von jemandem voll labern zu lassen, der schon viel zu lange alt ist.«
Glauben bedeutet ihr, sich in Frage zu stellen und sich nicht mit der einfachsten Antwort zufrieden zu geben. Sie will selbst entscheiden, was sie aus dem Dogmenschatz übernimmt und wie sie es tut.
Natürlich hat sie einen Freund. Zum Jugendtag wird er nicht kommen. Da fährt er Patrouille mit der Bundeswehr in Kabul.
Sie reden mit einer für Nichtkatholiken erstaunlichen Selbstverständlichkeit über Sünde, Beichte, Heilige. Das Büro mit seinen Freiwilligen aus 42 Ländern ist die Vorwegnahme einer himmlischen Welt, in der nicht nach dem Therapeuten gerufen wird, wenn jemand sagt: »Ich spüre den Heiligen Geist in mir.«
Die Kanadierin Véronique Rondeau sagt: »Ich will sehen, wie andere den Glauben leben.« Die letzten Treffen in Toronto und Paris hätten ihr Leben verändert. »Der Papst hat gesagt, wir sollten uns nicht mit dem Mittelmaß zufrieden geben. Der Glaube ist tief, radikal, reich.«
Johannes Paul hat dem Weltjugendtag das Motto ausgesucht: »Wir sind gekommen, um IHN anzubeten.« Es ist ein Programm gegen die Sozialdemokratisierung des Glaubens. Es geht nicht um politische Übersetzungen des Evangeliums. Es geht um Hinknien, Anbeten, ausdrückliches Von-Gott-Sprechen. Und das vor aller Augen, mit allem Drum und Dran eines 2000 Jahre alten Rituals.
»Metaphysische Asylanten«? Es ist zweifelhaft, ob sich die Hoffnung Joachim Meisners erfüllen wird. Der Kölner Kardinal weiß möglicherweise noch nichts vom Ergebnis der ersten umfassenden Milieustudie, die von den deutschen Bischöfen in Auftrag gegeben worden ist.
Um zu erfahren, was einem im Beichtstuhl nie gesagt wird, wurde das Heidelberger Marktforschungsunternehmen Sinus Sociovision mit einer Umfrage beauftragt. Bereits vor der Veröffentlichung im September sorgten die ersten Zwischenergebnisse intern für Unruhe. Das Image der Kirchen ist auch nach der Oster-Euphorie vom Petersplatz schlecht, noch schlechter als erwartet. Die Kluft zwischen Jugend- und Kirchenkultur ist kaum noch zu überbrücken.
»Der Event Weltjugendtag wird diese Kluft ein paar Tage verdecken«, sagt der Freiburger Religionssoziologe Michael Ebertz, »aber dann kehrt die Normalität zurück, friedlich, höflich, friedhöflich.«
Mag sein, dass die Kinder der 68er nicht wüssten wohin mit ihrem spirituellen Eros. Aber dass sie massenhaft an die Pfarrämter klopften, sagt Ebertz, sei ihm neu.
Die Jugendlichen wissen zu trennen zwischen Dogma und Alltagsleben. Es gibt keine zwingende Verbindung zwischen Weltanschauung und praktischer Lebensführung, Werte werden ausprobiert. Deswegen gibt es, zum Kummer der Kardinäle, auch kein Zurück mehr in die Glaubenszeiten, als das Wort des Herrn Pfarrer noch etwas Besonderes war. Sie wünschen sich weder die Fünfziger zurück, noch die Sechziger, als man am Sonntag brav in die Kirche trottete und sich konfirmieren oder firmen ließ, weil es alle machten.
Heute müssen sich Kirchen gefallen lassen, genauso auf ihre Brauchbarkeit geprüft zu werden wie Outfits von Benetton oder H&M. Wer überzeugende Standards anbieten kann, der wird ernstgenommen. So der tote Papst, so nicht die huschenden Gestalten aus dem Gottesdienst, Priester, die sich in jeder Geste für ihre Existenz zu entschuldigen scheinen zu wollen.
Die Jugendlichen, die glauben, kommen nicht zum Glauben, weil sie Ratzingers »Einführung in das Christentum« gelesen haben. Sie lesen nicht viel, sie schauen lieber. Es ist die expressive Dramatik religiöser Inszenierungen, die ihnen Respekt abverlangt. Das hat eine emotionale Kraft.
Der Religionssoziologe Matthias Sellmann: »Eine vergessene Glaubenserfahrung könnte neu gemacht werden: dass Gott nicht nur wahr und gut ist, sondern vor allem schön. Das wäre etwas für moderne Menschen, davon bin ich restlos überzeugt.«
So könnte es sein, so kann man sich einen modernen Glauben vorstellen, aber wie steht es um den real existierenden Glauben in dem »Wir sind Papst!«-Land Deutschland? Was würde der deutsche
Papst sehen, wenn er sich lösen könnte von dem Spektaculum in Köln und sich aufmachte zu einer Pilgerfahrt?
Im Osten der Republik etwa träfe der Papst auf Städte und Dörfer voller Ungläubiger, nur jeder Dritte glaubt hier an Gott, viele Kirchen sind verfallen, gerade in dem Teil der Republik, in dem die Kirchen den Menschen Orientierung und Halt gaben in den Jahrzehnten der Diktatur, in den Monaten des Aufbegehrens und den Jahren der Wende.
In Templin allerdings wird Gottes Haus gepflegt, dort lebt jemand, der Auskunft geben kann über die Gemeinden der Gottlosen. Unter dem Reetdach der ehemaligen Gutskirche von Alt Placht hat sich Horst Kasner ein Refugium geschaffen. Lange Jahre stand die Kirche leer und verfiel. Als die Mauer fiel, begann ihre Wiedererstehung. Dachte Pastor Kasner. Doch bald erkannte er, dass es leichter war, die Kirche aufzubauen, als sie zu füllen. Die Entchristianisierung der sozialistischen Gesellschaft hatte ein religiöses Niemandsland hinterlassen. Waren zu Beginn der DDR noch etwa 15 Millionen Menschen Mitglieder einer Kirche, blieben an ihrem Ende nur 5,5 Millionen übrig. Die Verlorengegangenen kamen nicht wieder, und die Verbliebenen wurden weniger. Ende 2003 zählten die evangelische und die katholische Kirche in Ostdeutschland und Berlin noch 3,7 Millionen Mitglieder.
»Die Repräsentanz der Kirche«, sagt Kasner, »ist größer als ihre Substanz.«
Kasner kam im Herbst 1958 von Hamburg nach Templin, er war 32 jahre alt, ein junger Pfarrer, der in Heidelberg studiert hatte und immer wusste, dass er zurückwollte in den Osten, aus dem er kam. »Im Westen gab's Pfarrer genug«, sagt Kasner. Er suchte eine Herausforderung. Er nahm seine Frau und seine Tochter Angela mit, die später einen Mann namens Merkel heiratete.
Die Tochter steht jetzt einer Partei vor, die sich christlich nennt: der Partei der rheinischen Katholiken und des rheinischen Kapitalismus. Ihr gelang das als geschiedener Protestantin, die keine Kinder hat. Sie ist, wenn man so will, eine der wenigen Erfolgsgeschichten der Ost-Kirche.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Kirchen, die im Sozialismus zu Horten des Widerstands wurden, sich leerten, als die DDR verschwunden war. Kasner erinnert sich an die langen Schlangen vor dem Rathaus in Templin. Es waren Menschen, die aus der Kirche austreten wollten. »Sie glaubten, als Bundesbürger seien sie automatisch in der Kirche und müssten Kirchensteuer zahlen«, sagt Kasner. »Es kamen Leute und wollten aus der Kirche austreten, die gar nicht in der Kirche waren.«
Anfang 1990, als das Ende der DDR absehbar war, kamen plötzlich 90 Templiner Lehrer zu Kasner. Sie wollten von ihm über jüdische und christliche Religionsgeschichte unterrichtet werden, ein Zertifikat zum Ende des Kursus wäre schön. Er merkte bald, warum die Lehrer kamen: Sie wollten ihre Stellen sichern. »Die dachten, mit der CDU wird Deutschland jetzt ein christliches Land«, sagt Kasner.
Pastor Kasner ist inzwischen pensioniert, er widmet sich jetzt der kleinen Kirche im Wald. Touristen kommen und beten, Paare lassen sich trauen, Eltern bringen ihre Kinder zur Taufe.
Viele der Paare, die hier von Kasner getraut werden wollen, gehören keiner Kirche an. Hier oben sitzt Kasner mit ihnen und fragt, warum sie kirchlich heiraten, aber nicht in der Kirche sein wollen. »Irgendwann sagen die dann: 'Es muss doch
noch etwas geben, das uns enger zusammenhält als das Standesamt.'«
Sie wollen auch Kirchenlieder singen, obwohl sie keine Kirchenlieder kennen. Und beten, obwohl sie keine Gebete kennen. »Und dann«, sagt Kasner, »kommt der Punkt, wo sie sagen: 'Und ein Segen muss auch sein.'«
Er lächelt jetzt zum ersten Mal, als sei er gerührt.
An der Frage des Religionsunterrichts haben sich im Osten Deutschlands Kulturkämpfe entzündet. In Brandenburg können Schüler wählen zwischen Religionsunterricht und dem Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde. In Berlin ging der Senat einen Schritt weiter und beschloss, Ethik ab 2006 als Pflichtfach einzuführen. Religion soll nur noch freiwilliges Wahlfach sein. Kirchenvertreter, Eltern, Schüler und Lehrer zogen deswegen im Juni mit Transparenten wie »Gott ist größer als der Senat« vor das Rote Rathaus und übergaben dem Senat 55 000 Unterschriften für die Wahlfreiheit zwischen einem konfessionsfreien Ethikunterricht und einem konfessionellen Religionsunterricht.
Wenn sie in der Kirche keinen Trost finden, woran halten sich die Menschen dann fest in Templin, einer Stadt, in der jeder Vierte arbeitslos ist? Der Pfarrer der Maria-Magdalenen-Kirche überlegt für eine Zeit lang und sagt dann, er habe keine Antwort. Er beobachtet, wie die Menschen so lange wie möglich festhalten am Auto, am Fernseher, am Urlaub. »Manche«, sagt er, »flüchten auch in die Sucht.« Am Sonntagmorgen sitzen sie am Templiner Marktplatz im »Schlemmer-Eck« und kippen »Wilthener Goldkrone«-Weinbrand.
Im Osten der Republik hat die Kirche kaum Gefolgschaft, und auch im deutschen Bundestag hat der Papst keine Legionen. Er hat eigentlich nur die Abgeordneten Norbert Geis (Aschaffenburg) und Manfred Carstens (Cloppenburg-Vechta). Bei den beiden kann er sich darauf verlassen, dass sie im Sinne der Dogmatik abstimmen werden. Anders als in Italien und Polen gibt es keine Fraktion, bei der die Position der Kurie irgendeinen Einfluss auf eine politische Entscheidung hat.
Der Kanzler führt Gott nie im Munde. Für Gerhard Schröder ist Glaube Privatsache und nichts für den Wahlkampf. Und damit ziemlich unwichtig. Bei der Vereidigung seines Kabinetts verzichteten fünf Minister auf die christliche Formel »so wahr mir Gott helfe«.
Im Bundestag war es weitgehend Konsens, dass Religion etwas für die Feierstunden ist und ansonsten Privatissimum. In der nüchternen Bundesrepublik setzt man lieber »Ethikkommissionen« ein, als an den Glauben der Abgeordneten zu appellieren. Die Debatte um Präimplantationsdiagnostik im Jahr 2002 ist auf diese Weise entschärft worden.
In der modernen Welt wird jede Religion durch andere Religionen relativiert, durch den Staat neutralisiert und durch die Wissenschaft entzaubert. Das ist die Errungenschaft der Aufklärung.
Doch auch im Bundestag scheint etwas in Bewegung gekommen zu sein. Am Religionstabu wird gekratzt. Der Erfolg des Wertewahlkampfs von George W. Bush und natürlich die religiösen Aufwallungen von Rom haben Eindruck gemacht.
Die Völkerwanderung zum toten Johannes Paul im April brachte auch Angela Merkel auf den Petersplatz. Sie erlebte, wie Hunderttausende von »Papa-Girls« und »Papa-Boys« sich 11, 12, 13 Stunden lang anstellten, um Abschied vom Papst zu nehmen.
Angela Merkel muss ziemlich ankatholisiert aus Rom zurückgekehrt sein: »Es gab keine Vorstandssitzung, in der sie nicht von der Begräbnisfeier des Papstes erzählt hätte«, sagt Philipp Mißfelder, der Vorsitzende der Jungen Union. »Sie war wie elektrisiert.«
Als Templiner Pfarrertochter war Merkel schon immer in der Lage, Bibelstellen in ihrem Sinne zu deuten. Aber Merkels Parteifreunde machen sich keine Illusionen. Die Parteichefin sei zwar christlich gestimmt, aber: »Mit Religion hat sie ernsthaft nichts am Hut«, so ein Vorstandskollege.
Offenbar kann man auch mit Werten, nicht nur mit Zahlen Wahlkampf machen. »Da formiert sich etwas«, sagt Mißfelder, selbst Katholik aus NRW, und erzählt von christlichen Salons in der Hauptstadt, die einen »Riesenzulauf« hätten.
Es kommen heute mehr Abgeordnete zum überkonfessionellen »Gebetsfrühstück« als früher. Man sieht die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt neben dem CSUler Norbert Geis, Christa Nickels, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Claudia Nolte, Wolfgang Thierse. »An Gott glauben, heißt auch zu wissen, dass ER allmächtig ist, dass seine Wege oft unergründlich sind und dass ich doch Verantwortung für mein Handeln habe«, sagt Göring-Eckardt.
Die katholischen »theo-cons« treffen sich im »Kardinal-Höffner-Kreis«. Dort wurde die Wahl Ratzingers als »Riesenchance für unser Land« gefeiert.
In diesen Zirkeln wird nachgedacht, ob die Ressource Glauben für die Politik genutzt werden kann. Die Trennung der Sphären soll nicht aufgehoben, aber in bestimmten Politikfeldern durchlässiger gemacht werden. Nicht im Sinne, dass von nun an das Bundesgesetzblatt von der päpstlichen Kurie Korrektur gelesen wird.
Doch warum, so wird gefragt, sollen bei der Frage eines Kriegseinsatzes, bei der Familienpolitik, dem Ehegattensplitting auch für Gleichgeschlechtliche nicht auch Glaubensüberzeugungen ins Gewicht fallen?
Bei den nächsten Debatten können die Grenzen zwischen den Fraktionen unschärfer werden. »In der Frage der Stammzellenforschung haben wir deutlich mehr Gemeinsamkeiten mit den Grünen als mit der FDP«, sagt Mißfelder.
Es gäbe, sagt Philipp Mißfelder, noch keine Galionsfigur für die theo-cons. »Aber da formiert sich was.« Bush hat vorgemacht, dass man einen Wahlkampf auch mit Werten, nicht nur mit Zahlen gewinnen kann: »Die Menschen packt man nicht mit der Reform des Rentensystems«, meint der JU-Chef. »Sie wollen ein klares Bekenntnis zur Familie. Wenn ich in Versammlungen offensiv zu meinem katholischen Glauben stehe, dann klatschen die Leute.«
Aber die vielen Deutschen, die nicht glauben, woran glauben die? Welche Wertvorstellungen beherzigen sie, welchen Idealen wollen sie folgen? Und: Unterscheiden sich Gläubige und Nichtgläubige überhaupt in ihren Wertvorstellungen? Oder spielt es überhaupt keine Rolle mehr, ob einer an Gott glaubt oder nicht?
Für 72 Prozent der Strenggläubigen ist es »besonders wichtig«, Kinder zu haben, aber nur für 46 Prozent derer, die dem Glauben nichts abgewinnen können - so die Zahlen der Infratest-Umfrage, im Auftrag des SPIEGEL erhoben. »Eine gute Partnerschaft führen«, halten 83 Prozent der Strenggläubigen für sehr wichtig, bei den Nichtgläubigen sind es neun Prozent weniger.
Zentrale Begriffe der Bürgerlichkeit wie »Heimat« oder »Gemütlichkeit« stoßen bei den Gläubigen auf deutlich höhere Zustimmung als bei den Nichtgläubigen: Gemütlichkeit schätzen 71 Prozent der Strenggläubigen als besonders wichtig ein, aber nur 47 Prozent der Nichtgläubigen. Ob »Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen«, »Ehrlichkeit« oder »Umweltbewusstsein« - bei all diesen Begriffen liegt die Zustimmung unter den Strenggläubigen deutlich höher als bei den Nichtgläubigen. Mit anderen Worten: Wer an Gott glaubt, hat tatsächlich ein anderes Wertegerüst als jemand, der keinen Gott anerkennt.
Die Nichtgläubigen sind im Schnitt moderner eingestellt, sie sind fortschrittsgläubiger und emanzipierter. Dass in einer guten Beziehung Rücksicht auf die Berufswünsche der Frau genommen werden muss, leuchtet mehr Nichtgläubigen (81 Prozent) als Gottesfürchtigen (69 Prozent) ein.
Die Nichtgläubigen halten Selbstverwirklichung für wichtiger, sie stimmen dem Satz »Ich will mein Leben genießen« deutlich häufiger zu, und die Ehe ist für sie schon lange nicht mehr heilig.
Wer nicht an Gott glaubt, der ist oftmals auch in anderen Bereichen skeptischer als die bekennenden Christen. Atheisten haben insgesamt weniger Vertrauen in den Staat, in die Polizei und in das soziale Netz, also in die Kräfte, die das Zusammenleben regeln.
Fragt man Atheisten allerdings nach Begriffen, die im weitesten Sinne für die Waren- und Arbeitswelt stehen, dann kehrt sich das Verhältnis um: Wenn sie überhaupt an etwas glauben, dann an sich selbst, an die Gewerkschaften, an die Macht der Banken sowie an Aldi, den großen Discounter.
Religiöse Symbolik und Gemeinschaft brauchen sie nicht, zumindest brauchen sie dafür den Glauben nicht.
Der Grundbedarf an spiritueller Feierlichkeit lässt sich heute decken, ohne dass man dafür jemals eine Kirche betreten müsste. Im Fußballstadion singen die Menschen inbrünstiger als in der Kirche, und wer sich einen Volkswagen kauft und den in der Autostadt Wolfsburg selbst abholt, für den wird eine schlichte Schlüsselübergabe in Szene gesetzt wie der biblische Schöpfungsakt.
Jede Gesellschaft, so der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz, brauche ein »Stellensystem der Antworten, das man traditionell Religion nennt«, und in unserer Gesellschaft sei es eben der Kapitalismus und der Konsum, der den
Menschen Antwort und Befriedigung verspreche, wenn auch nur fürs Diesseits.
Schon Anfang des vergangenen Jahrhunderts fühlte sich der Kulturphilosoph Walter Benjamin durch die Gestaltung von Geldscheinen an Heiligenbildchen erinnert und schrieb vom »Kapitalismus als Religion«. Tatsächlich sollten auf den frühen Geldscheinen sehr häufig diverse Gottheiten für Segen und Vertrauen sorgen: Fortuna mit dem Füllhorn auf dem 50-Gulden-Schein der Badischen Bank von 1871, auf einer südafrikanischen Fünf-Pfund-Note, auf einem österreich-ungarischen 100 000-Kronen-Schein.
Das Vertrauen in eine Währung kann religiöse Züge tragen. Es steckt voller Heilserwartung, so, wie bei den DDR-Bürgern, als sie 1990 die West-Mark bekamen. Und der Glaube ans Geld kann Identität stiften, so wie es die Mark für die Deutschen tat.
Die einen glauben an die Kraft der Marken, schwören auf Mercedes-Benz, BMW oder Porsche, auf Boss, Apple oder Rolex, die anderen vereint der Glaube an Kulturgötter oder Literaturpäpste. Unter deutschen Intellektuellen hielt man es bislang meist mit Woody Allen: Unser Katholizismus ist die Kultur.
Doch seit einiger Zeit ist es auch in diesen Kreisen nicht mehr völlig abwegig, sich zu seinem Glauben zu bekennen. Die Kultur kokettiert mit der Kirche. Es gibt eine neue Neugier auf das Alte. Die Münchner Kammerspiele haben Erfolg mit einer Aufführungsreihe über Religion, »Wer's glaubt, wird selig«. Harald Schmidt schafft es, in nahezu jeder Show ein Ratzinger-Zitat unterzubringen. Und nicht als Spottvorlage: »Ich stehe zur Kirche«, sagt er. »Ich bin 2000 Jahre gut damit gefahren.«
Der junge Autor Florian Illies gibt den Kirchen den Rat, sie sollten endlich aufhören, sich der Generation Golf anzubiedern, sondern ihren Standortvorteil nutzen: »Die Kirchen haben ein ungeheures Alleinstellungsmerkmal: die Kraft des Glaubens. Doch diese Kraft wird nur sichtbar, wenn sie selbstbewusst und mutig artikuliert wird - und nicht immer auf den Applaus der Konsumgesellschaft hofft.« Das hätte Kardinal Meisner nicht besser sagen können.
Schlüsselmoment dieser Annäherung zwischen Geist und Geistlichkeit war ein Treffen in der Münchner Katholischen Akademie am 19. Januar 2004. Jürgen Habermas, die Ikone der Aufklärung, traf zusammen mit dem Chefdenker des Dogmas, Joseph Kardinal Ratzinger - die jeweiligen Erben von Frankfurter Schule und heiliger Inquisition friedlich, ja einträchtig im Dialog. Vor 20 Jahren wäre es unmöglich gewesen, vor 10 Jahren vermutlich uninteressant.
Habermas würdigte die Bedeutung des Glaubens als Krücke der »entgleisenden Modernisierung« und als Stützstrumpf der Demokratie. »So trifft das Theorem, dass einer zerknirschten Moderne nur noch die religiöse Ausrichtung auf einen transzendenten Bezugspunkt aus der Sackgasse helfen kann, auch heute wieder auf Resonanz«, erklärte er. Es lege im Interesse des Verfassungsstaats, »mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speist«.
Wenn der Bürger weder auf Jutta Limbach, noch auf den Kanzler, geschweige denn auf Jürgen Habermas hören mag, dann muss die Kirche ran.
»Eine Moral, von der man weiß, dass man ihr Erfinder ist, hat nicht dieselbe unbedingte, transzendierende Bedeutung«, schreibt der Philosoph Rüdiger Safranski. Und folgert: »Es gibt also das Verlangen nach moralischer Transzendenz, weil der Mensch sich selbst nicht über den Weg traut: Was ich selbst erfunden habe, kann nicht so viel Wert haben.« Deshalb der Wille nach Gott.
Ratzinger revanchierte sich an diesem denkwürdigen Abend übrigens, indem er von der Notwendigkeit sprach, »das göttliche Licht der Vernunft sozusagen als ein Kontrollorgan anzusehen, von dem her sich Religion immer wieder neu reinigen und ordnen lassen muss«.
Viele der Ungläubigen glauben doch, nicht an Gott, aber an die Kraft von Klangschalen, Bachblüten und Oshos Schüttelmeditation.
Am Kölner Ebertplatz, nicht weit vom Weltjugendtagsbüro Pater Manfreds, liegt die Stepptanzschule neben der Kapelle Heilig Kreuz, wo ein Zettel darauf hinweist, dass hier die »Heilige Messe im römisch-katholischen Ritus des hl. Papstes Pius V.« angeboten wird. Offenbar eine Marktlücke in Köln. Im Souterrain einige Häuser weiter hat sich das Buddhistische Zentrum eingemietet. Jemand trägt gerade Kartons vom »Weingut Posthof« herein.
An der Wand hängt ein Foto zweier Herren, einer in rötliche Mönchstücher gehüllt, der andere vom Typus des ewig jungen Survival-Senioren. Unter dem Bild steht: »Der 17. Karmapa und Ole Nydahl betrachten eine Karte mit unseren Zentren in Europa.«
Der 17. Karmapa ist eine der zwei Reinkarnationen des Oberhaupts des buddhistischen Kagyü-Ordens, Ole Nydahl ist Dänemarks Erfolgsguru, und Angelika Eckhardt ist »sozial und ethisch gut drauf«, wie sie sagt.
Angelika Eckardt war einst gläubige Katholikin vom Bodensee, pilgerte nach Taizé und studierte Volkswirtschaft. Jetzt, mit 50 Jahren, sei sie Bodyworkerin, und wenn sie hört, dass für den Weltjugendtag 1000 Beichtstühle geschreinert würden, ist sie doch recht froh über ihre Entscheidung: »Es ist unerträglich, wie man sich schlecht machen soll, geißeln und um Gnade bitten. Diese Selbstdarstellung als Sünder ...«
Für Angelika Eckhardt ist Buddhismus ein Weg, spirituell zu sein, ohne zu glauben: »Wir haben Familie und Sex und gehen ins Kino. Alles ist gut. Sünde gibt es nicht. Die Frage ist immer: Was ziehst du für dich raus?«
Im Zentrum kokeln keine Räucherstäbchen, es gibt weder Statuen, noch Opferschalen, Gebetsglöckchen. Der Traum der Marktforscher: gutaussehende Menschen Mitte, Ende Dreißig. Ein Jurastudent, Kurt, eine Österreicherin in engen türkisfarbenen Jeans. Kein Beichtstuhl.
Klaus, der 47-jährige Altenpfleger, sagt Sätze über »Loslösung von Fremdbestimmung« und dass er das als sehr befriedigend empfände. Seine Mutter sei evangelisch, sein Vater Humanist und Oberlandesrichter im Ruhestand. »Es gibt keine äußere Wahrheit, keinen Gott. Es gibt Götter, aber was bringen sie mir? Die Wahrheit liegt in mir selbst.«
So muss Religion sein: sinnlich und mit Selbstbedienung.
Etwa eine viertel Million Menschen sollen sich in Deutschland dem Buddhismus zugehörig fühlen. Dazu 5000 Anhänger Oshos alias Bhagwan, 5000 Sikhs sowie zahlreiche Kleinstgruppen wie etwa »Zwölf Stämme«.
3,2 Millionen Menschen in Deutschland sind Muslime, 0,95 Millionen bekennen sich zum Hinduismus, 0,19 Millionen zum Judentum - doch keine Religion ist für Umsteiger so attraktiv wie der Buddhismus. Es soll mehr als 300 unterschiedliche Strömungen und Schulen geben. In Berlin wird die Lehre seit kurzem an einigen Schulen unterrichtet.
Der »Diamantweg-Buddhismus« des Ole Nydahl ist vor allem Lebenstechnik. Dafür ist die Nachfrage unbegrenzt. 120 deutsche Zentren soll es geben.
In ihrer soften Version macht die eigentlich hochkomplexe Hochgebirgsreligion auch Atheisten Spaß. Jeder macht sich selbst auf Buddha-Fahrt ins Nirwana, den Ort des dauerhaften Glücks. Als Einstiegspaket ist Buddhismus leicht zu erlernen, effizient als Trostsystem, vielseitig verwendbar und diskret in der Anwendung. Es gibt keinen Weltenlenker, keinen Papst. Das fasziniert Leute, die vor allem an eines glauben: an sich selbst.
Buddhismus ist der Glaubensersatz für Erfolgreiche. Eine Selbsterfahrungsreligion, mehr Haltung als Glaube, scheinbar ohne feste Regeln und mit dem Ruch des Extravaganten.
In Ansätzen haben sich auch die Volkskirchen auf diese andere Spiritualität eingelassen. Vielleicht in der Hoffnung, dass
auch Holzwege irgendwann wieder ins Gotteshaus führen.
Die Programme manch kirchlicher Veranstaltungen lesen sich bereits wie kalifornische New-Age-Postillen. Im Katholischen Bildungswerk Ludwigsburg etwa wird »Yoga-Sutra von Patanjali« angeboten. Sakraler Tanz und »frei zugelassener Atem in Leibräumen« ("Bitte Socken mitbringen"), »Fasten - Aufbrechen - sich neu entdecken« und zur Karwoche »Heilende Tage mit Tänzen und Meditationen« und »Schnupperkurs in Feldenkrais-Methode«, »Die acht Brokatübungen« mit Professor Jiao Guorui.
38 Prozent aller Deutschen sagten mittlerweile, dass am Ende seines Lebens der Mensch nicht vor seinem Richter steht, sondern vor einem neuen Leben auf Erden - sie glauben an die buddhistische Idee der Wiedergeburt.
Zum Glück gibt es noch einen Flecken in Deutschland, wo es sich ungestraft fromm sein lässt.
Zum Glück gibt es Marktl am Inn.
Dies ist der Ort, in dem Joseph Ratzinger vor 78 Jahren geboren und getauft wurde. Er hat zwar nur zwei Jahre in Marktl gewohnt, aber egal. Marktl ist jetzt berühmt. »Eine positive Naturkatastrophe«, nennt das der Bürgermeister
Der Ort, von dem man vor kurzem nur wusste, dass er an der Kreuzung zweier niederbayerischer Radwanderwege liegt, steckt nun voller Glaubenstouristen. Die Radfahrer fahren nicht mehr wie früher am Ort vorbei. An den Wochenenden ist die Stadtmitte jetzt abgesperrt, ein provisorischer Busparkplatz eingerichtet. Jetzt wollen die Leute Ratzingers Taufkirche sehen - obwohl die in den sechziger Jahren vollständig umgebaut wurde und aus Ratzingers Frühzeit nur noch ein Seitenflügel steht. Sie wollen sein Geburtshaus sehen, am liebsten von innen - weshalb die Besitzerin erst die Klingel abmontierte und nun das Haus verkauft.
Als Erstes haben die Einzelhändler begriffen: »Original Vatikanbrot« verkauft die eine Bäckerei, die andere hält mit »Papstmützen« dagegen, das sind eingekerbte, gezuckerte Brötchen. Im Café gegenüber gibt's für 2,20 Euro die Benedikttorte, eine Mascarponecreme mit einem Schuss Amaretto. Auf jedem Tortenstück steht mit Kakao geschrieben »B. XVI.«. Ansonsten: »Ratzinger Bratwurst mit Blumenblüten«, Pilgerwürste, Ratzinger-Kaffee, Ratzinger-T-Shirts und Original Papstbier in der Dorfkneipe.
Vor der Kirche hängt ein gesponsertes Spruchband, »Herzlich willkommen in der Taufkirche unseres Hl. Vaters Benedikt XVI.«, versehen mit dem Logo der Volks- und Raiffeisenbanken. »Hätte uns 1000 Euro gekostet« sagt Pfarrer Josef Kaiser, »so viel Geld hat die Gemeinde nicht.«
Herr Pfarrer, darf man den Glauben so kommerzialisieren?
Josef Kaiser kennt diesen Vorwurf. Er sagt: »Den Kommerz muss es geben. Wir wären doch verrückt, wenn wir das nicht mitnähmen.«
Der ganze Ratzinger-Rummel hätte schließlich auch sein Gutes: »So viel gebetet wie jetzt wurde noch nie in Marktl«, sagt Kaiser. Er könnte drei Gottesdienste am Tag halten, und dreimal am Tag wäre die Kirche voll - mit Fremden allerdings. Dass die Dorfbewohner in den vergangenen Wochen nennenswert katholischer geworden wären, hat der Pfarrer nicht beobachtet.
Kaiser ist jetzt 55 Jahre alt, seit zwei Jahren in Marktl. Neben seiner Dorfkirche versorgt er noch eine Nachbargemeinde, die ohne Pfarrer dasteht.
Neulich wurden in Passau vier Neue zum Priester geweiht. Gleichzeitig gab es aber zehn Abgänge, Rente oder Tod. Selbst hier, im Bistum Passau, einer der katholischsten Ecken Deutschlands, finden sich nicht mehr genügend potentielle Seelsorger. Demnächst wird Kaiser wohl noch eine dritte Gemeinde mitbetreuen müssen.
Da geht es in Marktl nicht besser zu als im Rest der Republik. 1992 gab es bundesweit noch 19 266 katholische Priester, 2004 waren es nur noch 16 326. Priester ist kein attraktiver Beruf mehr. In ganz Deutschland wurden vergangenes Jahr nur 210 katholische Priesteramtskandidaten neu ins Seminar aufgenommen.
Das ist der Glaube in Marktl am Inn. Der Papst zieht die Menschen an, aber ins Priesterseminar will deswegen noch niemand.
2200 von 2700 Einwohnern sind hier katholisch, etwa ein Viertel davon besucht den Gottesdienst am Sonntag. Das ist immer noch mehr als die rund sieben Prozent Gläubigen, die in den Großstädten noch zur Kirche gehen - aber auch Pfarrer Kaiser merkt, wie der Glaube schwindet.
Jeden Samstag vor der Abendmesse ist in Marktl Beichtgelegenheit. »Aber es kommt keiner«, klagt Kaiser. Er ist schon froh, wenn er viermal im Jahr jemandem die Beichte abnehmen kann. Vor einer Hochzeit, beispielsweise. »Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt«, sagt er dann den Brautleuten im Vorgespräch. »Wollen Sie da nicht vielleicht beichten?«
Die Art und Weise, wie die Menschen glauben, hat sich verändert, selbst im konservativen
Bayern. »Die alte Volksfrömmigkeit gibt es nicht mehr«, sagt der Pfarrer. »Die Leute sagen: Nö, heute nicht, und sie haben kein schlechtes Gewissen dabei.«
Von der Volkskirche zur Entscheidungskirche wandelt sich das Christentum in Deutschland. Wer heute noch dazugehört, hat sich bewusst entschieden.
Und wer nicht mehr hingeht, auch.
Alle 75 Sekunden tritt in Deutschland ein Christ aus der Kirche aus. Im Jahr 2003 verlor die evangelische Kirche 180 000 Gläubige durch Austritt, nur 60 000 neue kamen hinzu.
Bei den Katholiken sieht es kaum besser aus: Im März veröffentlichte die Deutsche Bischofskonferenz ein nüchternes Zahlenwerk: »Katholische Kirche in Deutschland - Statistische Daten 2003«. Die Zahl der Katholiken, so heißt es darin, nimmt stetig ab, seit 1974 jedes Jahr. Im Jahr 2003 - dem letzten, für das genaue Zahlen vorliegen - wurden rund 65 000 Kirchenmitglieder mehr bestattet als die Kirche durch Taufen neu hinzubekommen hatte. Weit mehr Menschen treten aus der Kirche aus als ein. Dies brachte 2003 ein Minus von 117 000 durch »Mitgliedschaftsentscheidungen«, wie es in dem Bericht heißt.
Noch niemals seit 1960 wurden in Deutschland so wenig Menschen katholisch getauft wie 2003. Genau 205 904 Taufen zählten die Katholiken, 3,5 Prozent weniger als im Vorjahr und gut 31 Prozent weniger als 1990. Anders gesagt: Die Katholiken sterben aus.
Der Weltjugendtag als Erweckungserlebnis, als Beginn einer Auferstehung der katholischen Kirche?
Immerhin, eine bessere Welt ist in Köln entstanden, über der ehemaligen Braunkohlengrube bei Kerpen-Türnich. Ein weites Feld des Glaubens, nur entfernt am Horizont die Kraftwerkschlote und ein Auslieferungslager von Real. Das Marienfeld ist eine Freiluftkathedrale mit - wie vom Bauherrn verlangt - »dimmbarer Platzbeleuchtung auf der gesamten Pilgeraufstellfläche«.
Der tausendjährige Kirchenfundus an Symbolen und Bildern ist ausgepackt worden. An jeder (behindertengerechten) Serpentine des Papsthügels steht ein Blumengebinde in Form eines Sterns, beleuchtet von (feuerpolizeilich abgenommenen) Kerzen, und darüber spannt sich ein durchscheinendes Dach (ausgelegt für Windstärke 6), das aussieht wie ein Raumschiff, aber die Wolke sein soll, aus der ER spricht.
Benedikt XVI. wird hier hinaufsteigen am Samstagabend zur Vigil und schließlich zur Abschlussmesse am nächsten Morgen. Er wird dann bereits die Kölner Synagoge besucht haben und mit Schröder, Merkel und der muslimischen Gemeinschaft konferiert haben. Den Betonboden des Köln-Bonner-Flughafens wird er nicht geküsst haben.
Vom Papsthügel wird Benedikt XVI. herunterschauen, in seiner Blickachse das Großlager von Real, und vermutlich wird er gegen den Konsumismus ansprechen, gegen den »Relativismus« wird er predigen, jene Weltsicht, die alle Wahrheiten in Zweifel zieht. Und unten werden vielleicht 800 000 Jugendliche sein, jubelnd und begeistert vom Papst, von IHM und von sich selbst.
Dann wird er abreisen, zurück nach Rom. Kaum ist der letzte Weltjugendtagsbesucher fort, werden in Köln die Plakate ausgetauscht. Es beginnt der Wahlkampf. Es wird um Rentenreform, Kopfpauschalen, Freibeträge gehen. Der Name Benedikt XVI. wird dann nicht mehr oft fallen.
Die Deutschen sind unwiederbringlich in eine postreligiöse Welt abgetreten. Sie möchten gern glauben können. Sie ahnen, dass es helfen würde, und deshalb respektieren sie jeden, der noch glauben kann. Sie selbst, in ihrer Mehrheit, können es nicht mehr. Sie lesen Peter Hahne, weil ihnen Ratzinger zu schwierig ist. Dann sagen sie: Recht hat er, so müsste es sein. Aber sobald ein Politiker ernsthaft anfinge, von Gott zu reden, würden sie augenrollend weiterzappen.
Die Pilgerwege des Marienfelds werden naturverträglich abgebaut. Die Bestecke sind kompostierbar. Nur die 3000 Hostienschalen von ThyssenKrupp sind ein Problem. Sie sind für die Ewigkeit gebaut und nicht zu entsorgen. Und so bald wird man sie nicht brauchen, in diesem Land.
Nur der Papsthügel soll erhalten bleiben, als Erinnerung an ein unwirkliches Ereignis. An etwas, das kaum zu glauben war. MARIO KAISER, ANSBERT KNEIP,
ALEXANDER SMOLTCZYK
WARUM ICH GLAUBE
Norbert Walter,
60, Chefvolkswirt der Deutschen Bank
»Von meinem Vater habe ich das Selbstvertrauen, von meiner Mutter das Gottvertrauen. Ich glaube an Gott, an die Dreifaltigkeit, an ein Leben nach dem Tode. So wie wir Menschen gebaut sind, brauchen wir einen Anker im Emotionalen, für mich ist dieser Anker mein Glaube, meine Religiosität. Ich komme aus Unterfranken und bin katholisch aufgewachsen. Das Beten gehörte bei uns zu Hause genauso zum Tagesablauf wie das Essen. Bis heute ist es für mich selbstverständlich, dass ich am Sonntag zur Messe gehe. Selbst wenn ich auf Dienstreise nach Asien muss, erkundige ich mich vorher, wo es in meiner Nähe eine Kirche gibt. Als Kind war ich Ministrant, Vorbeter, später Küster, und mit zehn Jahren wollte ich sogar Priester werden. Dass ich heute in der Wirtschaft arbeite, ist für mich kein Widerspruch. Ich diene nicht allein dem Mammon, denn auch in meinem Beruf habe ich immer die Rangordnung geachtet: An erster Stelle steht für mich der Mensch. Reich wird man nicht, indem man Menschen auspresst, reich wird man, wenn es einem gelingt, die Menschen um sich herum zu motivieren. Ich bin erfolgreich, weil ich ein Team motiviere. Treue, Loyalität und die Unantastbarkeit der Menschenwürde, dies sind für mich die Werte, auf die es ankommt.«
WARUM ICH GLAUBE
Alexa Hennig von Lange,
32, Schriftstellerin
»Die göttliche Instanz, an die ich glaube, würde ich nicht als Figur, sondern eher als eine Absicht bezeichnen. Die ,Absicht Gott', die alles zusammenhält. Ich habe früh realisiert, dass das Leben irgendwann zu Ende geht. Dieses Bewusstsein um meine eigene Endlichkeit hat mir große Sorgen bereitet. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich nur so etwas wie eine Sinnestäuschung bin, die keine Spuren hinterlassen wird, dass ich nicht real vorhanden bin und es daher auch nichts gibt, an dem ich mich festhalten kann. Alles ist endlich, das Leben, der Augenblick, die Zeit. Also musste ich mir etwas zurechtlegen, um zu glauben, dass ich nicht verloren gehe, wenn ich mal nicht mehr da sein werde. Meine christliche Erziehung hat mir dabei sehr geholfen. Ich glaube, dass alles einem Kreislauf unterworfen ist, der nicht von Menschen bestimmt ist, sondern von etwas Übergeordnetem. Ob man die Existenz Gottes beweisen kann, ist dabei nebensächlich, wichtig ist es, ihn in sich zu finden. Das heißt, ich höre auf meine innere Stimme, bete, realisiere und reflektiere mich. Aus diesem Bewusstsein heraus fühle ich mich verantwortlich, mein Leben zu nutzen, ohne ein anderes zu stören. Ich habe Achtung vor dem, was mich umgibt, und fühle mich verpflichtet, gedeihen zu lassen, anstatt zu verhindern.«
WARUM ICH GLAUBE
Caroline Link,
41, Filmregisseurin
»Mein Glaube an Gott oder eine 'höhere Instanz' hat ganz viel mit meinem Gewissen zu tun, mit Werten, die ich wohl verinnerlicht habe, und damit, dass es, naiver Weise, eine Rolle spielt, dass irgendeine Instanz 'registriert', wenn ich meinen eigenen Werten entgegenhandle. Ich fühle mich dieser Instanz also verpflichtet. Ich empfinde das aber nicht nur als Bürde, sondern auch als Trost, dass es da eine Verbindlichkeit gibt, eine Aufforderung, mich an diese 'Spielregeln' zu halten. Ich glaube in erster Linie daran, dass wir nicht nur für uns leben. Dass es die Verpflichtung gibt, Anteil zu nehmen, im Positiven wie im Negativen. Ich glaube, dass Gott möchte, dass wir uns zuständig fühlen! Für das Schicksal der anderen, dass wir mit leiden, aber uns auch mit freuen. Ich glaube, dass wir Verantwortung übernehmen sollen. Meine Vorstellung von Gott hat deshalb viel mit meiner Idee von Richtig und Falsch zu tun. Und mit Demut. Mit Dankbarkeit für das, was ich habe, für mein Leben, meine Familie, mein Kind, meinen Beruf. Wenn ich an Gott denke, spüre ich, dass es nur recht und billig ist, dass ich mir klarmache, wie reich und behütet mein Leben verläuft. Gott ist seit meinen Kindertagen für mich Trost und Schutz.«
WARUM ICH GLAUBE
Helge Schneider,
49, Musiker und Komiker
»Ich sehe mich als ganz kleinen Teil des Universums und habe Gott als Freund. Er ist ein Teil meines Lebens, vor dem ich keine Angst haben muss. Ich glaube an das Schicksal, den Zufall und das Unvorhersehbare. Das alles ist für mich Gott. Wenn ich versuche, ihn mir vorzustellen, fällt mir Luft, Natur, Weltall und ganz vieles mehr ein, hauptsächlich aber ein warmes Gefühl des Vertrauens. Sozusagen ein Gottvertrauen in das Unabwendbare. Alles, was mit Kirche zusammenhängt, ist ein Spiel, Brimborium. Die kirchlichen Rituale erinnern mich an eine vergessene Musik, wie Dixieland beispielsweise: Man hört das noch ganz gern, aber man lebt es nicht mehr. Ich akzeptiere stark religiöse Menschen, die ihr Leben danach richten oder es diesem großen Spiel gar vollständig zur Verfügung stellen wie die Päpste. Aber für mich hat die Kirche nur sekundär etwas mit Glauben zu tun. Der Glaube selbst ist viel stärker als irgendeine Institution. Ich bin mir sicher, dass die Menschen auch ohne Kirchen glauben würden.«
WARUM ICH GLAUBE
Senta Berger,
64, Schauspielerin
»Als Kind habe ich natürlich an einen Schutzengel geglaubt. In meiner Vorstellung sah er aus wie das Engelchen auf einer kleinen Oblate, die in einem Carepaket aus Amerika lag, zusammen mit Eipulver und Trockenmilch. Die Oblate klebte meine Mutter über mein Kinderbettchen und sagte: ,Das ist dein Schutzengel. Der passt jetzt auf dich auf.' Aber natürlich war sie, meine Mutter, mein Schutzengel. Von ihr habe ich gelernt - und ganz begreife ich das erst heute: den Glauben an die Menschen. Der rechte Glaube an Gott ist mir nie gegeben worden. Ich bete nie. Manchmal beneide ich die, die es können. Denn letztendlich ist das Gebet, das Gespräch mit Gott, ein Gespräch mit dir selbst. Das gibt Kraft. Aber ich habe immer an christliche Werte geglaubt und habe versucht, meine Kinder zur Zivilcourage zu erziehen, zu Liebe und Anstand und dass sie den Mut haben, die Wahrheit zu sagen. Ich glaube, dass wir alle gar nichts sind. Nicht einmal ein Sandkorn. Dass wir gar keine Bedeutung haben, außer der, die wir unserem Leben geben.«
* Auf dem Weg von Dresden nach Köln.