ENGLAND / VOLKSCHARAKTER Das Lach-Thermometer
Auch die Deutschen, es ist wahr, besitzen ein gewisses Verständnis für Unsinn«, so befindet Sir Harold Nicolson, Diplomat, Politiker und Schöngeist, in einem Essay über den englischen Sinn für Humor, das in einem soeben erschienenen Sammelband enthalten ist*, »aber für den puren Unsinn, Unsinn um des Unsinns willen, muß man Briten konsultieren.«
Ein wesentlicher Bestandteil des englischen Humors, meint der belesene Sir Harold, ist die Freude am völligen Unsinn, wie sie sich etwa in den Versen des in England berühmten Schriftstellers Edward Lear (1812 bis 1888), des britischen Wilhelm Busch, ausdrückt. Lear zeichnete und dichtete etwa so:
Hinter der Vorliebe der Engländer für solche und ähnliche Reime, in denen Kühe auf Bäume klettern, ältere Herren mit Raben Quadrille tanzen und junge Damen beim Harfenspiel Karpfen fangen, verbirgt sich nach Ansicht Nicolsons ein für den denkfaulen Engländer typischer Aufstand gegen die Vernunft.
»Der Unsinn«, schreibt Nicolson, »ist seinem Wesen nach eine Revolte gegen die Macht des logischen Denkens; er ist die äußerste Befreiung vom Zwang der Logik. Und wenn - wie der französische Philosoph Bergson behauptet - Sinn, Logik gleichbedeutend ist mit Arbeit, dann bedeutet Unsinn sicherlich Spiel. Im Unsinn finden die Kindlichkeit, die Verspieltheit, die Phantasie und die Denkfaulheit des Engländers ihre willkommensten Ventile und Entschuldigungen. Die Demütigung der Logik erfüllt den Engländer, und zwar auch den gebildetsten Engländer, mit ungemischtem Entzücken.«
Bezeichnend für den englischen Humor, so meint Nicolson, Ist nicht die Ironie oder die Satire, auch nicht der »wit«, die englische Form dessen, was die Franzosen »esprit« nennen. Auf all diesen Gebieten sind andere Völker den Engländern überlegen. Unnachahmlich bleiben die simpleren Formen, von naiver Freude an kleinen Wortspielen bis zu der relativ höchsten Form des englischen Humors, eben den völlig unsinnigen Versen Lears.
Die Wurzeln dieses englischen Humors erblickt Nicolson in einem langen Katalog
englischer Nationaleigenschaften, guten und schlechten. Er nennt: gute Laune, Toleranz, Naturliebe, gesunden Menschenverstand, Achtung mehr für Charakter als Intelligenz, Abneigung gegen Extreme.
Der Humor übernimmt dabei nach Nicolson bei seinen Landsleuten oft die Rolle einer psychologischen Abwehr. Ähnlich wie die Verse von Edward Lear ihnen erlauben, die unbequemen Fesseln der Logik abzuschütteln, gehen die Briten gern mit einem Witz über Dinge hinweg, die zu begreifen zu anstrengend wäre.
So erklären sich die unendlich spießbürgerlichen Witze über Ausländer, über moderne Malerei, Psychologie und Neuerungen aller Art, die der Engländer nicht oft genug hören kann, während sie den Fremden verwirren. Die Neigung, das Schwierige lächerlich zu machen, sei eine »normale Reaktion des Engländers«, schreibt Nicolson.
Er feiert den englischen Humor als ein
»wertvolles Schmiermittel für die Maschine der Gesellschaft«, hegt aber keine sehr hohe Meinung von ihm. Er verdeutlicht das mit einem Bild aus der Technik.
»Stellen wir uns vor«, schreibt er, »es wäre möglich, die Grade des Lächerlichen so genau zu definieren wie die Temperatur und wir könnten ein Thermometer des Lächerlichen konstruieren, auf dem die verschiedenen Temperaturgrade auf einer Skala von Null bis Hundert eingetragen werden.2
»Nehmen wir an«, schreibt Sir Harold weiter, »daß die Grade Null bis 40 die niederen Werte darstellen, dort wo der Witz rein körperliche Reaktionen auslöst. Nehmen wir ferner an, daß zwischen 20 und 25 Grad das elementare Gelächter von Kindern und sehr einfachen Menschen einsetzt, und nehmen wir außerdem an, daß 70 bis 100 Grad die höchsten Werte intellektuellen Gelächters darstellen, jene Gelegenheiten zum Lachen nämlich, zu deren Verständnis ein hoher Grad geistiger Energie vonnöten ist. Meiner Behauptung nach fällt dann der Sinn des englischen Volkes für Humor etwa in das Gebiet zwischen 20 und 55 Grad.«
* Harold Nicolson: »The English Sense of Humour": Verlag Constable, London; 15 sh.
There was an Old Man of Berlin,
Whose form was uncommonly thin;
Till he once, by mistake,
Was mixed up in a cake,
So they baked that Old Man of Berlin**.
Diplomat und Schöngeist Nicolson
Unsinn ist englisch
** Übersetzt etwa:
Es war mal ein alter Mann in Berlin,
der ungewöhnlich dünn erschien,
bis man ihn aus Versehen
in einen Kuchen hat gerührt
und in den Ofen eingeschürt.
So buken sie den alten Mann von Berlin.