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Das Land, aus dem die Träume sind

»Unsere offenbare Bestimmung, uns über den Kontinent auszubreiten, rührt von der Vorsehung her und bezweckt die ungehinderte Entwicklung unserer sich Jahr für Jahr vervielfachenden Millionen Menschen.« John L. O'Sullivan in »United States Magazine and Democratic Review«, 1845. anläßlich der Annexion von Texas durch die Vereinigten Staaten.
aus DER SPIEGEL 45/1975

Am 15. Mai 1971 wurde eine Engländerin namens Helene Safire amerikanische Staatsbürgerin, eine unter 9 Millionen, denen diese Eigenschaft seit 1900 verliehen wurde. Die Eidesleistung der jungen Frau fand an einem ungewöhnlichen Ort statt, im Weißen Haus zu Washington. Ihr Mann, William Safire, war ein Helfer, ein Redenschreiber des Präsidenten Richard Nixon. Er hatte dem Präsidenten -- bei der ersten Mondlandung der Amerikaner im »Meer der Ruhe« -- das Stichwort »peace and tranquillity« in den Mund gelegt.

Der Eidesleistung wohnte als Patron Spiro Agnew bei, Sohn eines 1897 eingewanderten Griechen. Damals war Agnew noch nicht aufgrund ordinärer Verbrechen verurteilt, sondern Vizepräsident der Vereinigten Staaten.

Helene Safire mußte den Eid leisten, und dazu hatte das Amt für Einwanderung und Einbürgerung den Bundesrichter John Sirica bestellt, damals allenfalls bekannt für seine drakonischen Urteile als »Maximum-John«, und seiner Postkarten-Sprüche halber als »cornball patriot« belächelt. Er war der Sohn eines 1887 eingewanderten Italieners, eines, wie Präsident Nixon aus späterem Anlaß zu sagen liebte, »wop«.

Beide, Agnew und Sirica, würdigten die Bedeutung der Stunde. Sirica forderte die Versammelten auf, die Ehrt-Amerika-Feierlichkeiten der nächsten Woche zu besuchen. Wie weit war man doch, sinnierte Sirica, von jenen Tagen entfernt, wo ein Italiener namens Morano sich um seines besseren Fortkommens willen Moran nennen mußte.

Der Vizepräsident, dessen Vater unter dem Namen Anagnostopoulos eingewandert war, wartete mit anderem auf: »Mein Vater hat mir die Überzeugung vererbt, daß jeder Mensch in den USA, der seinen Weg machen will.

ihn auch machen kann.« Nie werde er, Spiro Agnew, solche wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu überwinden haben wie sein Vater. Nicht ob einer Italiener, Grieche, Engländer oder Deutscher sei, mache heute den Unterschied aus. Die Massenmedien zwar sprächen von »den jungen Leuten«, »den Schwarzen«, »den Armen": »Weil, these people are all Americans.« Während der Vizepräsident und der Bundesrichter sprachen, lief ein Tonband. Safire hatte gebeten, eines aufstellen zu dürfen. Er wußte nicht, daß seine Telephongespräche, die er an diesem Tage führte, illegal abgehört und aufgeschrieben wurden: auf Betreiben des Sicherheitsberaters und späteren Außenministers Henry Kissinger, der sich zu Anfang ohne solche Mutproben in der »Gang« des Präsidenten nicht hätte halten können. Übrigens stammte er aus Fürth.

Als Richter Sirica die Zeremonie verließ, bat er, ihm ein Photo mit dem Vizepräsidenten zu schicken. Safire ließ ihn seinen Namen buchstabieren: S-l-R-I-C-A. »Maximum-John« sollte seinem Namen später Ehre machen, als es galt, den auf Zeit gewählten König Richard Nixon vor der Zeit und reichlich spät zu enthaupten.

War diese Szene, von Safire in einem Buch unter dem doppeldeutigen Titel »Before the Fall« beschrieben, typisch Amerika? Typisch für das Land, in dem die Söhne immer noch etwas Besseres werden sollen als die Väter? Typisch für das Land, in dem jeder Einwanderer noch immer größere Chancen hat als irgendwo sonst, nach oben, ja nach ganz oben zu kommen? Typisch für eine junge Nation, für die junge Nation USA? Mit Sicherheit ja, und mit Sicherheit nein. Was sind die USA?

Die USA sind die Ausplünderer der Erde. Die USA sind die Retter der Menschheit. Die USA sind ein »Pestherd« (Wolfgang Harich). Die USA sind »the last, best hope of earth«, die letzte, zuverlässigste Hoffnung auf Erden (Abraham Lincoln). Die USA sind eine Übernation, die Menschheitsnation schlechthin. Die USA sind gar keine Nation.

Die USA sind die Zuflucht von Millionen. Die USA sind das Grab der Hoffnung von Millionen. Die USA sind die Kornkammer der Sowjet-Union. Die USA sind die Stiefeltern ihrer eigenen Kinder.

Die USA sind die schneeverwehten Leichen der Sioux am Wounded Knee, wehrlos zusammengeschossen von der U.S. Cavalry. Die USA sind das Beste, was den Hitler-Deutschen und den besiegten Japanern je widerfahren ist. Die USA sind das Schrecklichste, was den Reisbauern Indochinas je widerfahren ist. Die USA sind ein Energiebündel, bei dem von allem, was man darüber sagt, auch das Gegenteil stimmt.

Die USA sind die Republik mit der ältesten geschriebenen und noch in Kraft befindlichen Verfassung. Die USA sind ein »kalbsledernes Gesetzbuch« (John Dos Passos).

Urteile über die USA sind wohlfeil, sie klaffen weit auseinander. Dies schreibt der Soziologe Geoffrey Gorer: »Der Haß gegen die Autorität macht Amerika zu einem antimilitaristischen Land.« Dagegen der Historiker Arthur Schlesinger: »Wir müssen erkennen, daß der Impuls der Zerstörung unser Leben überschattet.« Dagegen auch Richard Goodwin, ein Kennedy-Mann: »Krieg und Rassenunrecht zählen zu Amerikas dauerndsten Hypotheken.«

Alexis de Tocqueville verwunderte sich 1835: »In den USA regiert die Gesellschaft sich selbst für sich selbst.« Dagegen Leo Matthias 1965: »Die Demokratie der USA repräsentiert die Herrschaft einiger weniger über rund 200 Millionen.« Ambrose Bierce, der Geschichten-Erzähler des Bürgerkriegs, sah die Amerikaner schon um die Jahrhundertwende als Menschen an, »in deren Brust das Sittengesetz so mausetot ist wie Queen Anne in der

* Oberes Bild: links Bundesrichter Sirica, von rechts Vizepräsident Agnew, Eheleute Safire; unteres Bild: rechts sitzend Washington, vor ihm stehend Jefferson.

tiefsten Tiefe ihrer Gruft«. Ramsey Clark, Justizminister unter Präsident Johnson, urteilt: »In Amerika haben wir das Verbrechen kultiviert.«

Der Kanadier Alexander Campbell hält die USA für »das einzige hochindustrialisierte Land, das noch immer ein echtes Proletariat hat«. Dazu Andrew Hacker: »Amerika ist die erste Nation in der Geschichte, die Erfolg hatte in dem Bestreben, der Mehrheit ihrer Bevölkerung materiellen Wohlstand und moralische Gleichheit zu sichern.« Aber: Die USA hätten weder Gesinnung noch Institutionen entwickelt, um das Los der »unnecessary people«, der unnützen Esser, zu verstehen und zu bessern.

Es gibt keine moderne Industriegesellschaft, in der die Schwachen so ausgeliefert sind, die vom Milieu Benachteiligten so zäh behindert werden. Könnte man von der Wahlbeteiligung (durchschnittlich 50 Prozent) auf das politische Interesse der Bürger schließen, so gäbe es keine andere Demokratie mit einem so geringen Interesse der Bürger an ihrem Gemeinwesen.

Ein Zehntel der 214-Millionen-Bevölkerung, mindestens, lebt unter dem Existenzminimum. Mehr als irgendwo sonst ruiniert Rauschgift die Industriebevölkerung. Kaum ein westliches und kein östliches Land garantiert seinen Bürgern so wenig Sicherheit gegen illegale Gewalt, gegen Überfall, Erpressung, Mord. In keiner anderen Demokratie paktieren die Behörden so offen mit dem Verbrechen.

Kein Kolonialkrieg war so abscheulich wie der, den die aus einem Kolonistenaufstand hervorgegangenen, in einem Bürgerkrieg »vereinigten« Staaten gegen die Bürgerkriegsrevolution in Vietnam geführt und, zu ihrem eigenen Besten, verloren haben. Wenn es stimmt, daß Amerika das Versprechen auf Bildung für größere Teile der Bevölkerung erfolgreicher erfüllt hat als irgendeine andere Nation der Welt, »vielleicht mit der Ausnahme der Sowjet-Union« (Ramsey Clark), so stimmt doch auch, daß in New York derzeit jedes fünfte Kind gar keinen Schulunterricht genießt. In Los Angeles führen Schulkinder Gasmasken gegen den Smog mit sich.

Eine Lawine aus Bruchstücken, Impressionen, Widersprüchen: Wie kann daraus jemals ein Bild entstehen, ein Bild mit Sinn, nicht nur eine atemlose Montage? Hat es Sinn, am Vorabend des 200. Geburtstags der amerikanischen Unabhängigkeit nach dem Sinn dieser 200 Jahre zu suchen? Kann man herausfinden, was aus dem Wust der Fakten und Phänomene wirklich und was belanglos war, so heftig es die Zeitgenossen auch bewegt haben mag? Gibt es durchgehende und beherrschende Züge in dieser Geschichte? Grundtendenzen?

Haben die USA die Geschichte Europas, die Geschichte des Bürgertums, haben sie unser heutiges Leben bestimmt? Wäre ohne die Vereinigten Staaten das moderne Bürgertum (marxistisch »Bourgeoisie") mit dem dreifaltigen Ideal aus individueller Freiheit, privatkapitalistischer Wirtschaft und demokratisch-republikanischer Herrschaft nur ein kurzer wirrer Traum, nur eine unvollendete Episode der menschlichen Geschichte geblieben? »Die Welt steht auf dem Kopf.«

So lautet die überaus wuchtige These zur welthistorischen Bedeutung der USA, die der amerikanische Soziologe C. Wright Mills Mitte der fünfziger Jahre vorgebracht hat -- und die nach allem, was inzwischen vorgefallen ist, nach Vietnam und Watergate, Chile und CIA, einigermaßen verblüffend klingt. Doch Mills war nicht auf Propaganda aus: Er galt vielmehr bis zu seinem Tod mit Büchern wie »Menschen im Büro« und »Die amerikanische Elite« als einer der scharfsinnigsten Kritiker der amerikanischen Gesellschaft. Seine Absicht war, die amerikanische Geschichte aus ihrer nationalen Begrenzung herauszuheben und sie einzuordnen in den übernationalen welthistorischen Prozeß, der über Aufstieg und Fall der Gesellschaftsordnungen, der Produktions- und Herrschaftsformen entscheidet.

»Die amerikanische Führungsschicht betrat die moderne Geschichte als eine praktisch unbehinderte Bourgeoisie«, schrieb Mills. »Keine andere nationale Bourgeoisie hat vorher oder seitdem solche Möglichkeiten und Vorteile gehabt ... Keine hat sich reiner und konsequenter entwickelt.« Schlüsselsätze für das Verständnis der USA, wenn man diese nicht nur als einen geographischen, politischen oder kulturellen Sonderfall sehen will, sondern als ein Element, und zwar als das stärkste und umfassendste Element der bürgerlichen Entwicklung. Nicht, wie Marx noch glaubte, England und Westeuropa, sondern die Staaten wurden zum potentesten Motor der »kapitalistischen Weltrevolution« (Gollwitzer).

»Die größte und vollständigste Revolution, die die Welt je gesehen hat, ist ruhmreich und glücklich vollbracht«, jubelte der radikale Bürger Thomas Paine 1783 nach dem Sieg der amerikanischen Rebellen im Unabhängigkeitskrieg gegen England -- der gleiche Tom Paine, dessen anti-monarchistische Streitschrift »Common Sense« die Kolonisten mit klassenkämpferischen Thesen angespornt hatte, sich von der britischen Krone loszureißen: »Die Paläste »der Könige sind auf den Trümmern des Paradieses erbaut!«

»Die größte und vollständigste Revolution« -- das war 1783 nicht übertrieben. Denn die amerikanische Unabhängigkeit war verbunden mit dem gründlichsten Umsturz der überlieferten Staats- und Rechtsauffassung; mit der in der Tat reinsten und konsequentesten Herstellung bürgerlicher Verhältnisse, »die die Welt je gesehen hat«, bis heute. Mit Recht spielte die Militärmusik der geschlagenen Engländer nach der Schlacht von Yorktown in Virginia den Gassenhauer »The world turnedupside down"' »Die Welt steht auf dem Kopf«.

Die Gedanken kamen aus Europa. Aber während das Bürgertum in England, in Frankreich, zu schweigen von Deutschland, seine Ideen und Forderungen immer nur mühsam unter Abstrichen und Kompromissen, unter blutigen und unblutigen Erschütterungen und lähmenden Rückschlägen partiell verwirklichen konnte, stellten die Amerikaner eine komplette bürgerliche Gesellschaftsordnung beinahe über Nacht auf ihre grüne Wiese.

Zug um Zug entledigten sich die Kolonisten nicht nur ihres fernen Monarchen, sondern seiner adligen Repräsentanten in den Kolonien. Die Lords und Hochkirchenfürsten wurden entmachtet; riesige königliche Ländereien von den Einzelstaaten beschlagnahmt, aufgeteilt und an bürgerliche Interessenten verkauft -- die erste Bodenreform der neueren Geschichte. Weit über 60 000 Königstreue verließen nach dem Sieg der Aufständischen das republikanische Territorium, mehr Leute, als aus Frankreich während der Revolution flohen.

Alle feudalen Eigentumsbindungen (wie alleiniges Erbrecht des Erstgeborenen) wurden gestrichen. Und die Trennung von Kirche und Staat, ein Kernpunkt der Aufklärungs-Ideologie' der in Europa jahrhundertelang umkämpft und mancherorts bis heute nicht entschieden worden ist, wurde im Parlament von Virginia 1786 durchgesetzt und, dank Jefferson und Madison, zum Prinzip der Union erhoben.

Doch diese Geburt der Staaten aus dem Geist der Aufklärung konnte nur gelingen, weil es Amerika besser hatte. Der Feudalismus. in Europa über Jahrhunderte eingewurzelt, hatte in der kurzen Zeit der Kolonisierung nicht Fuß fassen können und bestand nur als hohler Überbau. C. Wright Mills: »Keine Aristokratie mit ererbtem Monopol auf die hohen Militärränge stellte sich der Bourgeoisie entgegen. ... und hinderte sie an ihrer Selbsterschaffung.«

Bürgertum in den USA ist allerdings nicht gleich Bürgertum in Europa. Die Nöte eines vierten Standes konnten den Besitzenden in den USA keine schlaflosen Nächte bereiten. Es gab ja eben in dieser explodierenden Gesellschaft lange Zeit weder etablierte Armut noch etablierte Mächte, bei denen die Besitzenden aus Furcht vor der »sozialen Frage« demütigst hätten unterkriechen können. Bis heute hat sich die etablierte Armut, die es mittlerweile reichlich gibt, nicht furchteinflößend organisieren können.

Wo immer sich in den USA neue Feudalschichten etablierten, bezogen sie ihre Legitimation aus ziemlich frisch erworbenem Besitz, und nicht aus ererbten Privilegien. Erst recht mangelte es den USA an starken Nachbarstaaten, die wie in Europa militärische Zucht und Unterordnung erzwingen konnten. Waren das nicht alles, wie Carl Schurz später sagte, »außerordentliche Gunstbeweise der Vorsehung«, um das Entstehen einer ebenso freien wie kräftigen Republik zu ermöglichen?

Von der Axt im Walde bis zur Landung auf dem Mond -- die kurze und im Zeitraffer dramatische Geschichte der USA ist bei näherem, bei zeitgenössischem Zusehen recht prosaisch angelaufen. Der Aufstieg dieser paar Kolonien an entfernter Küste zum mächtigsten aller Völker, der biblische Zug ins Gelobte Land, sie nahmen sich zu Beginn recht bescheiden und gewöhnlich aus. Auch ihr zukunftsträchtigstes Dokument, die Unabhängigkeitserklärung des Jahres 1776, mutet in seiner Entstehung heute an wie ein knallender Witz.

Wer waren denn die noch nicht einmal vier Millionen Leute (unter ihnen 500 000 Negersklaven), die im Jahre 1775 die Bevölkerung der dreizehn aufsässigen Kolonien ausmachten -- eine Einwohnerschaft, kleiner als die Preußens beim Tod des Großen Friedrich?

Ihr Gebiet erstreckte sich entlang der amerikanischen Ostküste von der Südgrenze des heutigen Kanada bis zum heutigen Florida, über 1800 Kilometer Länge.

Gottesfürchtige Männer waren unter den Kolonisten, gewiß, auch religiöse Starrköpfe und Fanatiker, aber ebenso Abenteurer, gescheiterte Existenzen, Kriminelle. Schon im Jahre 1605 läßt Ben Jonson eine Figur in einem seiner Stücke das schöne Land Virginia preisen, wo »Bratpfannen und Nachttöpfe aus purem Gold« seien: »und überhaupt kannst du ganz frei dort leben, ohne Polizei und Anwälte und Schnüffler« (und Tonbänder).

Die Siedler und Kaufleute und Farmer und Advokaten in den einzelnen der dreizehn Staaten waren nach Zusammensetzung und Gebräuchen so verschieden wie etwa heute die Völkerschaften der EG. Gemeinsam war ihnen ein überdurchschnittlicher Unternehmungsgeist, mehr Bereitschaft zu Risiko und Gefahr, der Wille, sich durchzusetzen wie später Carnegie, Edison und Rockefeller, wie Kissinger und Agnew.

Schwerlich ahnten ihre Wortführer, daß ihre Nachfahren in Berlin und am Jalu stehen würden; schwerlich, daß sie die ganze Welt mit einem Geflecht amerikanischer Abhängigkeiten überziehen würden. Wollten sie »eine neue Welt erschaffen«? Das wollte der Pamphletist Thomas Paine, der nach getaner Arbeit von allen guten Bürgern (nicht vom Präsidenten Jefferson) gemieden wurde. Schließlich: Die Paläste der Reichen schossen schneller hoch als die Paradiese.

Aber die Kolonisten hatten bei dem Schotten David Hume gelesen, der Staat solle aufhören, die wirtschaftliche Betätigung seiner Bürger durch Zunft- und Gewerbeordnungen, durch Lizenzwesen, Zölle und Restriktionen zu gängeln (England trägt heute schwer daran, diese wohlüberlegten bürgerlichen Forderungen für sich selbst nicht erfüllt zu haben). Der Staat, das war damals eine Person: König Georg III.

Die Kolonisten wurden von der britischen Krone nicht wirklich unterdrückt, es ging ihnen vortrefflich. Ihre friedlicheren Wortführer schlugen vor, sich dem königlichen Vater in London respektvoll zu nahen und als gehorsame Kinder um Abhilfe ihrer Beschwerden zu bitten.

Die Mehrheit wäre mit solch einem Vorgehen wohl zufrieden gewesen. Aber die energische radikale Minderheit führte das Wort. Ihre Vertreter fühlten sich erwachsen, nicht als Kinder. Sie wollten selbst bestimmen und, nachdem sie vom Mutterland ein reichliches Zubrot mit auf den Weg bekommen hatten, hinfort nichts mehr abgeben.

Natürlich dachten sie vorerst nicht daran, so wenig wie ihre Vettern in London, das allgemeine Wahlrecht einzuführen. Noch Jahrzehnte sollten darüber hingehen, bis jeder »Zweifüßler aus dem Wald«, jeder arme Schlucker ohne Geld und Gut, das Wahlrecht hatte.

Wie sie eine Fahne brauchten -- jeder der dreizehn Staaten ein Stern -, so wollten sie dem König und der Welt ihre Absichten notifizieren. Bei dem Engländer John Locke (1632 bis 1704) fanden sie den auf ihre Situation zugeschnittenen Grundsatz, daß

* die Regierungen ihre Machtbefugnisse von der Zustimmung der Regierten herleiten und

* die Regierten das Recht haben, gegen eine Regierung, die ihre Rechte mißachtet, aufzustehen.

Thomas Jefferson, Pflanzer, Schriftsteller und formidabler Amateur-Architekt, hielt diesen Gedanken für »keines Beweises bedürftig«, und so steht es nun da (Abraham Lincoln bewies ihm später das Gegenteil).

Lockes heilige Trinität, der Schutz von »Leben, Freiheit und Eigentum«, wurde von Jefferson blumig aufgelockert, »Eigentum« (property) durch »Streben nach Glück« (pursuit of happiness) ersetzt.

Der Kongreß der Staaten in Philadelphia stimmte zu, aber geheuer war den Delegierten die Änderung nicht. Kaum in ihre Heimat zurückgekehrt, statuierten sie in ihren häuslichen Verfassungen wieder das Recht auf den Erwerb und den Schutz von »Eigentum«.

Denn darum ging es. Das Leben wurde bereits durch die Zehn Gebote geschützt. Die Freiheit war nur ein Versprechen, das spätere Geschlechter einlösen sollten. Es ging um den Schutz und, mehr noch, um den Erwerb von Eigentum. Happiness as usual.

Nein, die Gründerväter waren keine Träumer, waren in praktischen wie geistigen Dingen beschlagen, in Geschäft, Politik und Philosophie gleichermaßen zu Hause, Aber ihr Land, und besonders ihr Hinterland, war aus dem Stoff, aus dem die Träume sind.

Um die Freiheit aller Menschen, die laut Jeffersons vollmundiger Erklärung »gleich erschaffen« waren, ging es denn doch nicht so ganz. Während der ersten fünfzig Jahre ihres Bestehens avancierten die USA zum größten Sklavenhalter der Welt. 1825 beherbergten sie 36% aller Sklaven -- und das, obwohl nur 6% aller Schwarzen, die den Atlantik in Ketten überquerten, in den Staaten an Land geschafft worden waren. Klima, Produktionsbedingungen und vielleicht eine halbwegs vernünftige Gesinnung der weißen Herren ließen die Sklavenbevölkerung wachsen und sich mehren.

Mit welcher Ernsthaftigkeit und Nonchalance die Gründerväter 1776 heilige Grundsätze deklarierten und gar nie ernst nahmen: Das ist schwer zu fassen, es sei denn, man wird provisorisch erst einmal Marxist. Welch ein Nichtzufall, daß die Unabhängigkeitserklärung im gleichen Jahr herauskam wie die Bibel des liberalen Bürgertums »Wealth of Nations« von Adam Smith! Jefferson hißte die Flagge, aber die Truppe folgte dem Leitstern des Adam Smith: Eigennutz plus freier Wettbewerb gleich Wohlergehen, gleich »happiness«.

Im Unterhaus zu London mokierte man sich über diese freiheitsdurstigen Kolonisten, deren zweites Wort nun »Sklaverei« hieß, die aber dreißigmal soviel Sklaven unter ihrer persönlichen Fuchtel hielten wie das Mutterland. Jedem Freiwilligen des Staates Virginia, der sich bis Kriegsende verdingte, wurde zum Entgelt ein gesunder Sklave versprochen. George Washington und Thomas Jefferson, der Schriftführer der Unabhängigkeit, beide Virginier, waren und blieben bis an ihr seliges Ende Besitzer von mehreren hundert Sklaven.

Washington und die Seinen sahen sich während des ganzen Aufstands »mit einem Strick um den

Hals«. Die Krone verfuhr mit Aufrührern, die nicht so weit weg waren und derer sie habhaft werden konnte, nicht eben manierlich.

So verurteilten britische Richter just im Jahre 1775 irische Rebellen: »Ihr sollt auf Faschinen zum Hinrichtungsplatz verbracht werden, wo Ihr am Halse aufgehängt werden sollt -- nicht freilich so lange, bis Ihr tot seid. Noch bei lebendigem Leibe sollen Eure Körper abgenommen und Euer Gedärm herausgerissen und vor Euren Augen verbrannt werden. Dann sollen Eure Köpfe abgeschlagen und Eure Körper in vier Teile zerlegt werden, diese Teile sowie Eure Köpfe sollen dann zu Verfügung des Königs stehen. Und möge der Allmächtige Gott Euren Seelen gnädig sein.«

Im nachhinein sieht es so aus, als hätten die Rebellen gar nicht verlieren können, da die Engländer, wie der Ältere Pitt seufzte, »eine Landkarte erobern« mußten. Dem George Washington, der zeitweise über kaum mehr als 3000 Soldaten gebot, davon noch die Hälfte aufs Weglaufen erpicht, wenn sie nur Schuhwerk besessen hätten, muß das anders vorgekommen sein.

Zwar, seine britischen Gegner führten miserabel. Aber auch er, eine Art Milizgeneral, mußte sich seine Militärwissenschaft erst einmal aus der Bibliothek in Philadelphia besorgen. Eine Weile dankten die in sich uneinigen Rebellen-Staaten Stand und Widerstand nur der stoischen Unerschütterlichkeit ihres Generalissimus*.

Daß die Kolonialstaaten nach dem Sieg auseinanderlaufen würden, erwarteten viele und hofften sogar manche, die im großen Freiheitsringen an hervorragender Stelle eingegriffen hatten. Patrick Henry, der 1775 in der St. John's Church zu Richmond, Virginia, den Donnerhall-Aufschrei getan hatte »Give me liberty or give me death!«, wünschte keinen neuen Despoten anstelle des alten und plädierte gegen die neue Bundesverfassung.

Die Tatsachen waren aber stärker. Immer gab es Gründerväter, die den anderen das Besondere ihres gemeinsamen Vorhabens zu vermitteln wußten.

Der allround gebildete Jefferson verglich das Unternehmen am liebsten * Im Standardwerk »Kurze Geschichte der vereinigten Staaten« von Allan Nevins und Henry Steele Commager wird washington gepriesen. weil er sich »für seine Dienste im Revolutionskrieg nur seine Auslagen bezahlen ließ und sorgfältig über sie Buch führte. Diese »Ausgabenbücher« sind seit bald 150 Jahren bekannt. Sie belegen, daß Washington sich das zehnfache seines ihm sonst zustehenden Gehalts zuschanzte Sogar Patrouillenritte ließ er sich wie ein Nabob vergüten. Richard Nixon, was sein Geldgebaren angeht, konnte sich durchaus auf seinen ersten und wichtigsten Vorgänger berufen.

mit dem Zug der Argonauten. Er sah sich als einen neuen Jason, der das Goldene Vlies heimbrachte. Der deprimierende Ausgang der großen Revolution in Frankreich bestärkte so gegensätzliche Männer wie Washington und Jefferson und Alexander Hamilton in jener Grundüberzeugung, die sich in der Farewell-Botschaft des scheidenden ersten Präsidenten 1796 ausspricht. Das Ohio-Fieber geht, das Missouri-Fieber kommt.

Da ist die Rede von diesem »Experiment, das den Händen des amerikanischen Volkes anvertraut ist«; die Rede vom Schicksal der republikanischen Staatsform, das von diesem Experiment »auf fundamentale und vielleicht endgültige Weise« abhänge; von dem Beifall auch, der Zuneigung und der Nachahmung seitens aller Nationen, »denen solches Glück noch fremd ist": große Worte, richtige Worte, gefährliche Worte, tödliche Worte.

Amerika hatte es besser. Der Unabhängigkeitskrieg war glimpflich gewonnen worden, von einer Staaten-Konföderation, die von der atlantischen Küste nur wenige hundert Kilometer ins Land reichte. Die Bevölkerung explodierte nach Westen. Dort lag das Land, so weit und leer und wundervoll, von dem Thomas Paine gesagt hatte: »Soll ein Kontinent von einer Insel beherrscht werden?«

Amerika hatte es besser. 1783 schon zählte die Union gut doppelt soviel Quadratmeilen wie 1776. 1803 kaufte Präsident Jefferson dem Ersten Konsul Napoleon Bonaparte für fünfzehn Millionen Dollar -- nach heutigem Geld etwa der Wert des Axel-Springer-Konzerns -- ein Gebiet achtmal so groß wie Frankreich ab, das vom Atlantik bis zur Grenze Kanadas reichte ("Louisiana Purchase").

Florida, als »indispensable« für die Republik, wurde 1819 den Spaniern abgejagt ("Spanish Cession"), Texas 1845 von Mexiko per Krieg annektiert, Kalifornien 1848 von Mexiko »zediert«. Der gesamte heutige Streifen am Pazifik, diese laut Thomas Mann »segenspendende Küste«, war im europäischen Revolutionsjahr 1848 erreicht, dazwischen noch riesige Inseln der Wildnis und Nicht-Staatlichkeit.

Der Zug nach Westen, erst von Jägern und Fallenstellern, dann von Kleinsiedlern, dann von Farmern, Aufkäufern, Rechtsanwälten, Ärzten, Händlern, Geistlichen, Handwerkern, Spekulanten und sonstigen Kulturträgern, beginnt vor der amerikanischen Unabhängigkeit und endet noch nicht 1890, nach dem letzten Indianer-Massaker am »Wounded Knee«. »Als ich Ohio erreicht hatte«, schrieb ein Siedler, »verschwand mein Ohio-Fieber. Aber bald wurde ich vom Missouri-Fieber befallen, das den Puls höherschlagen läßt und mich weitertrieb.«

Die Westgänger konnten »mit dem Land groß werden«. Chicago war 1830 eine Händler-Niederlassung, 1854 liefen täglich 74 Züge in diesen größten Getreidemarkt der Welt ein. 1860, am Vorabend des Bürgerkriegs, hatten die USA mehr Einwohner als das frühere Mutterland Großbritannien.

Das segenspendende Territorium allerdings war nicht völlig menschenleer. Grundsätzlich galt, daß alle Menschen in die große amerikanische Weltbürgerschaft aufgenommen werden sollten, »die werden wollen wie wir«. Den Negersklaven gab man dazu erst gar keine Gelegenheit, und die Indianer wollten das nicht. Was tun? Für die »unnecessary people« hatte die Zivilisation nichts vorgesehen.

Sie hausten vor jedermanns Tür. Jefferson selbst wurde noch als Präsident beschuldigt, in jungen Jahren die Frau seines besten Freundes verführt zu haben, während dieser im Auftrag Virginias mit Indianern verhandelte. Jefferson achtete die Indianer, wie er in der Theorie auch ein Gegner der Sklaverei war. Aber sowenig es Lincoln 1861 um das Ende der Sklaverei ging, vielmehr um die Festigung der Union, so wenig hat irgendein Präsident, Jefferson eingeschlossen, sich zur Frage dieser »Söhne der Wildnis« etwas anderes einfallen lassen als versteckte oder offene Gewalt. 1791 schrieb Jefferson über die Indianer: »Die ökonomischste und menschlichste Behandlung ist, sie in den Frieden hineinzubestechen und im Frieden zu erhalten durch permanente Bestechung.«

Das war nicht gerade »liberty«, nicht »pursuit of happiness«, und von »alle Menschen gleich erschaffen« konnte auch nicht die Rede sein. Aber wenn Leute vorandringen und sich etwas aneignen wollen, was anderen gehört, lassen sie ihre Grundsätze gern zu Hause. Die US-Geschichte bis zur ruhm- und heillosen Flucht aus PnomPenh und Saigon wird bestimmt von dem Fehlen eines -- lästigen und/oder kultivierenden -- Widerstands. Wer sich das nötige »self-improvement« zutraute, wurde aufgenommen, der schäbige Rest vom Juggernaut beiseite gefegt.

Indianerhaut für die Pferdezügel.

Die ersten Opfer waren die Indianer. Alle, die östlich des Mississippi wohnten, sollten unter Jeffersons Nachfolgern über den großen Fluß in die westlichen Gebiete abgedrängt werden, erst mit gutem Zureden, dann, als das nicht half, unter Druck. Diese Territorien hielt man lange Zeit für unbewohnbar -- bis den ersten Zwangsexmittierten auch die ersten Weißen mit neuen Ansprüchen folgten.

Auch der Captain Abraham Lincoln hat an einem My Lai teilgenommen, wo fliehende Frauen und Kinder unterschiedslos niedergemacht wurden. Aber die meisten Indianer kamen nicht in Gefechten um.

Durch falsche Versprechungen, Erpressung, Einschüchterung, durch ständig demonstrierte Rechtlosigkeit, auch durch Alkohol und korrupte Indianer-Agenten wurden sie dazu gebracht, ihr Land zu verlassen ("Euer Großer Weißer Vater kann seine roten Kinder gegen ihre weißen Brüder nur westlich des Vaters aller Flüsse beschützen"). Man gab ihnen verdorbenes (Armee-) Essen, viele starben unterwegs.

Namentlich Präsident Andrew Jackson (1829 bis 1837), der erste große Volksmann und Anwalt des kleinen Mannes, erwarb sich seinen Ruhm als Indianer-General zwischen 1812 und 1818 (zur Amtszeit der Präsidenten

* Oben: Erstes Photo eines US-Präsidenten. 1845; unten: Leutnant Reade und Grenzer Austin finden den getöteten und skalpierten Jäger Morrison, Kansas, 1869,

Madison und Monroe). Er wurde der Ideologe der immer neuen Grenze.

Im Krieg gegen die Creeks 1812/14 hat er mehr Indianer zur Strecke gebracht als irgendein anderer amerikanischer Offizier. Er ist das für Hollywood unerreichte Vorbild aller John-Wayne-Generäle. In den Krieg ritt der 45jährige mit einem kaputten Arm. Die Verletzung stammte von einer Kugel nicht aus Indianerhand. Vielmehr, er hatte einem persönlichen Gegner mit einer Reitpeitsche ins Gesicht geschlagen, und der hatte das übelgenommen. Seine Truppen, gegen die er einmal, als sie nicht weiterwollten, seine Artillerie in Stellung brachte, schnitten sich aus Indianerhaut Streifen für ihre Pferdezügel und für Souvenirs.

Jackson hat den Amerikanern ihr »Manifest Destiny« vorgelebt, den Glauben, daß es die gottgegebene Bestimmung des weißen Mannes sei, den Kontinent bis zur Westküste von Ureinwohnern und Spaniern und sonstigen Nicht-Amerikanern zu säubern. Als bibelfester Mann nannte er das »Frieden stiften in Israel«. Das »Auge um Auge« der Bibel ergänzte Jackson in einer Botschaft: »Skalp um Skalp«.

Als er den Spaniern 1818 Florida abjagen wollte, auf eigene Faust und letztlich erfolgreich, drohte er dem spanischen Gouverneur, für die Grausamkeiten seiner, Jacksons, indianischen Hilfstruppen könne er nicht einstehen. Er kannte die göttliche Bestimmung der Vereinigten Staaten schon 1818: »Es wird Jahre dauern, um die uns innewohnenden Fähigkeiten zu entwickeln, bis wir von der jüngsten und Der 76 Jahre alte Apache war dreißig Jahre zuvor der Schrecken von Arizona.

schwächsten zur mächtigsten Nation des Universums aufgestiegen sind.«

Horace Greeley, später Präsidentschaftskandidat und als Zeitungsmann hartnäckiger Gegner der Sklaverei, schrieb nach einer Reise durch den Westen 1859: »Gott hat die Erde jenen gegeben, die sie sich untertan machen und sie kultivieren wollen, und es ist ganz vergeblich, gegen seinen gerechten Willen anzugehen.«

Gottes gerechter Wille war während der Jackson-Ära auf Kattun ("cotton") gerichtet, auf die Baumwollgebiete. Viele der dort lebenden Indianer trieben seit langem extensive Landwirtschaft. Aber sie kannten kein Privateigentum, keinen Markt für Land. Erstlich ging es also darum, das Land den Marktmechanismen zu öffnen, und zweitens um persönliche Bereicherung von Ex-Offizieren, Regierungskontrolleuren, Indianer-Agenten, Jackson-Anhängern und Jacksons selbst. »Speculation in Land is superior to Law or Physick« (Juristerei und Medizin), schrieb ein Jackson-Freund an Jackson.

Grund genug also für die weißen Väter, ihren roten Kindern Abwanderung oder Vernichtung anzubieten, »annihilation«, wie Jackson selbst sagte und schrieb. Die Indianer waren ja nicht einfach »Wilde«, nicht nur grausam von Natur, sondern »Naturkinder« schlechthin, anders als die englischen Kolonisten also unfähig, »erwachsen« zu werden. Das Recht auf Eigentum sagte ihnen nichts, wie sie auch nicht die Pflicht anerkannten, persönliches Landeigentum zu erwerben.

So beschwerte sich Lewis Cass, unter Jackson »Secretary of War« und wie die Kriegsminister vor ihm für die Indianer zuständig: »Gemeinschaften wie auch Einzelindividuen werden durch den Wunsch angestachelt, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Da ist nichts Statisches um uns herum. Wir alle mühen uns unser Leben lang ab, Reichtum zu erwerben oder Ehren oder Macht oder irgend etwas anderes, dessen Besitz uns geeignet scheint, die Tagträume unserer Einbildungskraft zu erfüllen; und die Gesamtheit dieser Anstrengungen garantiert den Fortschritt der Gesellschaft.

» ... lebt und stirbt wie Büffel, Bär und Ren.«

»Aber davon ist bei unseren Wilden wenig zu finden. Wie der Bär und das Rentier und der Büffel lebt der Indianer in seinen Jagdgründen, wie sein Vater gelebt hat, und stirbt, wie sein Vater gestorben ist ... Er guckt niemals um sich herum, kennt keinerlei Eifer, seine Situation mit der von anderen Menschen zu vergleichen und sie womöglich zu verbessern.«

Cass, im Alter von zehn Jahren, sah seinen Vater mit Indianerskalps nach Hause kommen. Der amerikanische Traum war ein Tagtraum, in Reichweite. Wer es nicht besser haben will, als sein Vater es hatte (Sirica' Kissinger, Agnew), wer nicht konkurrieren will, weil er genug zum Leben hat, wer nicht nach mehr Reichtum oder Macht strebt, paßt nicht in den amerikanischen Traum. Aber, dies ebenso Lewis Cass: »Die große moralische Schuld, die wir dieser unglücklichen Rasse gegenüber auf uns geladen haben, wird allgemein empfunden und anerkannt.«

Unglückliche Rasse, glückliches Land: »Wir nehmen Anteil an eurem Schicksal«, erklärte der Kriegsminister Calhoun einem Stamm, »weil ihr die ersten Besitzer dieses glücklichen Landes seid.« Andrew Jackson adoptierte ein Indianerkind, dessen Eltern in einem Gemetzel umgekommen waren.

Es galt, wie Jacksons Nachfolger, Präsident Martin Van Buren, sagte, die Indianer-Frage zu einem glücklichen und sicheren Ende zu bringen: »Justified to the world.« Nicht viel gehörte dazu, eine Gesellschaft vor Gott und der Welt zu rechtfertigen, die soviel weißen Unterdrückten und noch mehr weißen Tagträumern Raum und Reichtum bot, auch wenn das auf den Gräbern der Rothäute geschah.

500 000 Tote, dies wohl die Mindestzahl der in den USA vernichteten »ersten Besitzer«, hat schließlich auch der amerikanische Bürgerkrieg gekostet. Im nächsten Heft

Die ungleichen Brüder oder König Baumwolle gegen König Weizen

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