»Das Land der 1000 Vulkane«
Die fünf Herren aus Ost-Berlin, kurz vor Weihnachten auf Westbesuch im Bonner Umweltministerium, kamen gleich zur Sache. Zielstrebig baten sie ihre Gastgeber darum, mal einen Blick in die westdeutschen Umweltgesetze werfen zu dürfen.
Hernach schleppte das Ost-Quintett kiloweise Papier mit nach Hause. Ob Bundes-Immissionsschutzgesetz oder »Technische Anleitung Luft«, Wasserhaushaltsgesetz oder die Paragraphen über Chemikalien, Pflanzenschutzmittel und Abfallentsorgung - die Koffer der Ost-Berliner Besucher, berichtet ein Westbeamter, »wurden immer dicker«.
Mit der schweren Papierlast wollen sich die Ost-Experten daheim die Arbeit erleichtern. Denn mit heißer Nadel soll in Ost-Berlin ein neues Umweltrecht gestrickt werden. »Wir müssen schnell handeln«, hatten die DDR-Vertreter den verblüfften Kollegen in Bonn erklärt, da sei es doch am einfachsten, »auf Bewährtes« zurückzugreifen.
Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) nahm es erfreut zur Kenntnis. Doch seine Beamten wissen auch, daß die Umweltrechtstandards aus Deutschland-West so schnell gar nicht auf die Situation in Deutschland-Ost übertragbar sind: Würden derzeit in der DDR westliche Grenzwerte gelten, schätzt der Hamburger Umweltstaatsrat Fritz Vahrenholt (SPD), müßten »gut die Hälfte aller DDR-Betriebe stillgelegt werden«.
Denn als Maßstab dafür, was an Schmutzfrachten aus Kraftwerksschloten und industriellen Abwasserrohren herausgelassen werden darf, ist im Westen zumeist das technisch Machbare (Amtsjargon: »Stand der Technik") vorgeschrieben. Die oftmals noch aus der Vorkriegszeit stammenden Anlagen in Leipzig, Leuna oder Lauchhammer auf diesen Stand zu bringen ist, zumindest vorerst, unmöglich.
Das verheerende Ausmaß der umwelttechnischen Defizite in der DDR wird erst in jüngster Zeit, seit der Wende in Ost-Berlin, allmählich offenbar: Jahrzehntelang waren Umweltdaten, die den SED-Staat als gigantische Giftküche bloßstellen, geheim.
Erst jetzt ist auch publik geworden, wie sehr DDR-Bürger unter der Umweltvergiftung leiden: Einer vom SPIEGEL in Auftrag gegebenen Umfrage zufolge rangiert der Wunsch nach mehr Umweltschutz gleichauf mit dem nach Demokratisierung (98 Prozent), noch vor einer »besseren Versorgung mit Gütern« (90 Prozent).
Die Umweltvergiftung durch DDR-Betriebe sprengt alle Dimensionen, allein das Kraftwerk Boxberg bei Cottbus schlägt diverse Schmutzrekorde: Die Braunkohleöfen dieses einen Werkes, immerhin schon Nachkriegsmodelle, blasen mehr Schwefeldioxid (SO2) in den düsteren Himmel über der Lausitz als alle Kraftwerke Norwegens und Dänemarks zusammen: rund 460 000 Tonnen, Jahr für Jahr.
Die chemischen Werke Buna bei Halle (Slogan: »Plaste und Elaste aus Schkopau") kippen mit 20 Kilogramm Quecksilber täglich fast zehnmal soviel in die Saale, wie der westdeutsche Chemieriese BASF in Ludwigshafen in einem Jahr in den Rhein abläßt - mit dem Quecksilber könnten jährlich drei Millionen Fieberthermometer hergestellt werden.
Das Kohleverschwelungswerk Espenhain südlich von Leipzig läßt pro Tag 4,4 Tonnen Schwefelwasserstoff in die Luft - genug, um zwei Milliarden Menschen, würden sie den Giftstoff direkt einatmen, damit umzubringen. Das Hüttenkombinat »Albert Funk« in Freiberg bei Karl-Marx-Stadt verstreut Arsen- und Bleistaub über die Region; Spuren davon fanden sich im Urin und in den Haaren von Kindern.
Besonders im Süden der DDR, von Pirna bis Eisenach, von Dessau bis Frankfurt/Oder, ergießen sich aus den Abwasserrohren der Chemie- und Carbidbetriebe schier unendliche Schmutzfluten in die Flüsse, blasen die Schornsteine der Bleihütten und Braunkohlekraftwerke wahrhaft Atemraubendes in die Luft - die DDR gleicht jenem »Land der tausend Vulkane«, das Michael Ende in seinem Kinderroman »Jim Knopf« beschreibt.
Ein »Kummerland« (Ende) ist der SED-Staat auch für die Menschen: Vor allem im Raum Halle/Leipzig grassieren Asthma, Bronchitis und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Mehr als anderswo, so stellten DDR-Hygieniker schon vor Jahren fest, sterben die Leute dort auch an Krebs. Von den Bewohnern des Bezirks Halle, das geht aus behördeninternen Unterlagen hervor, sind mehr als 73 Prozent »unzulässig hohen Schwefeldioxid-Konzentrationen ausgesetzt«.
Viele der DDR-Bürger, die im letzten Jahr in den Westen übersiedelten, gingen auch aus Öko-Gründen, berichteten DDR-Umweltschützer letzten Monat dem Bonner Minister Töpfer bei dessen jüngstem Besuch in Ost-Berlin - sie flohen vor dem Dreck in der Luft, dem Gestank der Flüsse und den Giftstoffen im Boden, die längst die Grundwasserstöcke und damit vielerorts auch schon das Trinkwasser erreicht haben.
Die kleine DDR ist, was Umweltschmutz, Energieverschwendung und Landschaftszerstörung anbetrifft, ein Land der Superlative, ein ökologischer Schlagetot der Spitzenklasse: *___In der DDR wird mit 5,6 Millionen Tonnen pro Jahr mehr ____von dem Waldgift Schwefeldioxid emittiert als irgendwo ____sonst in Europa - sie ist, gemessen an ihrer Größe, ____nach einer Aufstellung des Bundes für Umwelt und ____Naturschutz Deutschland (BUND) »fünfmal so stark mit ____Luftschadstoffen belastet« wie die Bundesrepublik. *___Ein einziger der rund 3,5 Millionen Zweitakt-Wagen vom ____Typ Wartburg und Trabant bläst soviel Kohlenmonoxid aus ____dem Auspuffrohr wie 100 westliche Katalysator-Autos - ____der Trabi, von der Zeit zum »Auto des Jahres« 1989 ____gekürt, ist zugleich die schlimmste mobile ____Giftschleuder des Jahrzehnts. *___Durch unwirtschaftlich arbeitende Kraftwerke, veraltete ____Stromleitungen und sinnlose Subventionen für ____Privatverbraucher wird so viel Primärenergie ____verpulvert, daß ein Land wie Dänemark seine komplette ____Energieversorgung aus den Einsparpotentialen bestreiten ____könnte - als Energieverschwender steht die DDR weltweit ____auf Platz eins. *___Durch die Gifteinleitungen der Chemiebetriebe sind in ____der DDR dreimal mehr Flußkilometer biologisch tot, als ____die Wolga, der längste Strom Europas, an Wasserstrecke ____hat. Auf rund 10 000 Flußkilometern, in etwa einem ____Drittel der DDR-Gewässer, ist nach Expertenschätzung ____jegliches Leben erloschen, nur drei Prozent der Seen ____haben noch Trinkwasserqualität. *___Mit einer Million Tonnen wird in der DDR täglich mehr ____Braunkohle gefördert ____als in irgendeinem anderen europäischen Staat - 40 ____Quadratkilometer Boden, die Fläche von 8000 ____Fußballplätzen, müssen dafür jedes Jahr umgepflügt ____werden.
Nach dem Braunkohle-Abbau wirkt die Erde in diesen Gegenden so unbewohnbar wie der Mond. Der Tagebau in den 36 Braunkohlegruben, die sich vor allem bei Halle, Leipzig und Cottbus durch die Landschaft fressen, biete allerhand Möglichkeiten, etwa »die Umgebung von Leipzig schöner zu gestalten, als sie jemals war«, frohlockte das DDR-Fernsehen noch 1985. Vergangene Woche jedoch konnte ein Reporter des nach der Wende neu gegründeten TV-Magazins »Ozon« vom Hubschrauber aus nur »Wüstenlandschaften, ausgetrocknete Brunnen« und »Dörfer unter der Walze« erblicken.
Ein böses Erwachen gab es in den letzten Monaten allenthalben in der DDR: Plötzlich gibt der Naturschutzbeauftragte des Bezirks Magdeburg, Heinz Quitt, unumwunden zu, daß »der Hochharz« schon »vollständig, und zwar stark, geschädigt« ist. Experten des Leipziger Bezirks-Hygieneinstituts meldeten letzten Monat, ein Viertel der Wasserwerke im Umland speise Trinkwasser mit unerlaubt hohem Nitratgehalt in die Leitungen der Privathaushalte.
Den Bürgern von Pirna an der Oberelbe wurde nun endlich, dank Öko-Glasnost, klar, warum sie sich manchmal so unwohl fühlen: Sie inhalieren fünfmal mehr giftigen Schwefelkohlenstoff, der zu Apathie und Aggressivität führen kann, als es nach DDR-Recht noch zulässig ist. Inzwischen ist selbst die Gesellschaft für Natur und Umwelt aufgewacht, eine in den siebziger Jahren, als sich ein erstes Öko-Aufbegehren im Volk rührte, von Staats wegen verordnete Bürgerinitiative. Die Umweltgruppe, deren Mitglieder sich jahrelang weitgehend aufs Bäumchenpflanzen zu beschränken hatten, legte jetzt eine Liste von einem knappen Dutzend »Umweltkatastrophengebieten« vor; dazu zählen das Areal Bitterfeld/Wolfen (siehe Seite 35), die Region südöstlich von Karl-Marx-Stadt, der Bereich Frankfurt/Oder sowie die Räume Leipzig, Halle und Zwickau.
Landesweit liegen 9000 Seen im Sterben, sie verkrauten und verschlammen wie beispielsweise der Templiner See, dessen ursprüngliche Tiefe (52 Meter) sich auf vier Meter verringert hat - der Rest ist Schlamm.
Rund acht Milliarden Kubikmeter Abwasser kippen DDR-Betriebe Jahr für Jahr in die Flüsse, etwa halb soviel, wie es überhaupt an nutzbarem Grundwasservorkommen in der extrem wasserarmen Republik gibt. »Zwei Drittel unserer Wasserläufe«, berichtet Günter Streibel, Ökologie-Professor an der Ost-Berliner Humboldt-Universität, »sind mittel bis stark belastet« - mithin dringend sanierungsbedürftig.
Auf der dem SPIEGEL vorliegenden amtlichen DDR-Gewässergütekarte, die offiziell noch immer als geheime »Dienstsache« unter Verschluß zu halten ist, sind die Flüsse, die das südliche Industriegebiet durchqueren, zumeist mit der SED-Symbolfarbe Rot markiert: selbst als Betriebskühlwasser nur »bedingt brauchbar«.
DDR-Kläranlagen, sofern überhaupt vorhanden, arbeiten durchweg miserabel, die Kanalisation ist vielerorts schadhaft. Ein nagelneues Abwasserreinigungssystem in der Dresdner Trabantenstadt Gorbitz beispielsweise verwandelte kürzlich die örtliche Kaufhalle in einen Fäkaliensumpf, die Ärzte im Krankenhaus von Radebeul mußten in einem gewöhnlichen Raum operieren, weil Abwässer sogar den OP überflutet hatten.
Was vor allem in den südlichen Industrieregionen bei Merseburg, Leuna oder Piesteritz in die Elbzuflüsse gekippt wird, vergiftet nicht nur DDR-Gewässer, sondern schwappt in den Westen herüber: Am Elb-Pegel Schnackenburg führt der deutsch-deutsche Grenzfluß achtmal mehr giftiges Quecksilber als der Rhein, sechsmal mehr Lindan und ein Hundertfaches des gefährlichen Pflanzenschutzmittels Dimethoat, das unter dem Markennamen Bi 58 in Bitterfeld produziert wird.
Sorgen bereiten auch die Pestizide, die von den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften versprüht werden, zumeist aus der Luft. Düngemittel, berichtet der Leipziger Landschaftsforscher Gottfried Schnurrbusch, landeten oftmals in »faustgroßen Klumpen« auf dem Acker. Auch die großen Gülleteiche der Mastbetriebe haben dazu beigetragen, das Grundwasser so zu verseuchen, daß DDR-Bürger laut Schnurrbusch »über kurz oder lang Probleme mit dem Trinkwasser« bekommen.
Der Boden ist bereits so gründlich geschädigt, daß »selbst solch robuste Wesen wie der Regenwurm spürbar dezimiert« worden seien. Rund 100 Mark pro Hektar Ackerland kosten nach Schnurrbuschs Rechnung die durch Umweltschäden bedingten Mehrarbeiten die Landwirtschaftsbetriebe jedes Jahr - dabei bringen die völlig überdüngten Böden nur etwa die Hälfte des Hektar-Ertrages, der in der Bundesrepublik mit sehr viel weniger Chemie erzielt wird.
Völlig unrentabel arbeitet auch die Energiewirtschaft, deren Kraftwerksschlote von Dresden bis Dessau, von Erfurt bis Cottbus Luft und Landschaft verpesten. In Leipzig etwa ist die Luft im Jahresdurchschnitt so dick, daß statistisch gesehen täglich Smog-Warnung ausgelöst werden müßte. Im Erzgebirge sind die Höhen weithin kahl - 90 Prozent des DDR-Waldes, berichtete schon vor Jahren der in den Westen übergesiedelte Forstwirt Hans-Henry Wieczorek, seien geschädigt.
In der Sächsischen Schweiz am Oberlauf der Elbe sind manche Sandsteingipfel vom Einsturz bedroht. Und allüberall nagt die aggressive Luft auch an Kunstdenkmälern.
Noch wissen die Regierenden in Ost-Berlin gar nicht genau, wie sehr sie ihr Land vergiftet haben. Allenthalben fehlen Meßgeräte, mit denen es möglich wäre, den Grad der Luft- und Wasserverschmutzung präzise zu bestimmen.
Im Bezirk Halle beispielsweise, wo in 23 Landkreisen 40 Prozent aller Chemie-Erzeugnisse der DDR produziert werden, gibt es gerade mal elf Luftmeßstationen. Die Geräte der Kollegen in Leipzig »sind etwa zehn Jahre alt, fallen oft aus, und es kostet viel Kraft, sie immer wieder zu reparieren«, sagt der Leipziger Bezirkschef für Lufthygiene, Helmut Bredel.
Der Umweltbeauftragte des Chemiekombinats Bitterfeld, Karl Enders, wußte bislang nicht, wie giftig die Brühe ist, die er und seine Kollegen vom benachbarten Fotochemischen Kombinat in Wolfen dem Spittelwasser genannten Flüßchen, das in die Mulde mündet, zuleiten: Die Meßstation des Großkombinats ist nicht einmal in der Lage, die besonders gefährlichen Chlorverbindungen zu erfassen.
Eine Probe aus dem Spittelwasser, von der Hamburger Umweltbehörde untersucht, ergab, daß die Brühe mit 8280 Mikrogramm pro Liter 100mal soviel an gefährlichen Chlorverbindungen enthält wie die Elbe vor Hamburg, mehr als 100mal soviel Phenole und etwa das 40fache an organischem Kohlenstoff.
Beim Test mit Wassertieren war die dunkelbraun gefärbte Suppe selbst in tausendfacher Verdünnung akut tödlich und damit noch 500mal giftiger als Hamburger Hafenwasser in den höchstbelasteten Becken.
Das Flußwasser aus der DDR ist zudem hochgradig mit Dioxinen verseucht - in einer Konzentration, die nur mit »noch nicht gereinigten Sickerwässern« der berüchtigten Deponie Georgswerder in Hamburg vergleichbar sei, wie Vahrenholt sagt.
Das Spittelwasser und Hunderte anderer Gewässer zu reinigen, die verseuchte Luft und den vergifteten Boden zu sanieren - das alles kostet dreistellige DM-Milliardenbeträge. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik mußten Staat und Wirtschaft allein von 1975 bis 1988 rund 324 Milliarden Mark ausgeben, um das Allernötigste zu erreichen: Der Schwefeldioxid-Gehalt in der Atmosphäre wurde reduziert, eine weitere Verschlechterung der Gewässerqualität, trotz steigender Produktion, verhindert.
Die DDR liegt um Jahrzehnte hinter West-Standards zurück. Jedes Jahr, so hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in West-Berlin ausgerechnet, richte die DDR für 30 Milliarden neue Umweltschäden an. Allein für die Sanierung des vergifteten Gewässersystems der DDR seien, so schätzen Experten, 100 Milliarden Mark notwendig. Noch einmal soviel würde es kosten, die Energieerzeugung auf umweltverträglichere Verfahren umzustellen.
Schon die nötigen Sofortmaßnahmen, sei es der Bau von Kläranlagen oder die Installation von Rauchgasreinigungen, gehen ins Geld. Zugleich aber, sagt Kurt Lietzmann, im Bonner Umweltministerium zuständig für die Zusammenarbeit mit der DDR, müsse »die Wirtschaft komplett umstrukturiert werden«.
Das gilt beispielsweise für die Carbid-Chemie, die Verschwelung von Braunkohle zu Koks, einem Vorprodukt für die Kunststoff-Herstellung, wie sie etwa in Böhlen, Deuben oder Espenhain betrieben wird. Dieser Wirtschaftszweig gehört nach Ansicht von Vahrenholt »schleunigst verschrottet«. Das Kabinett Modrow erwägt neuerdings eine Schließung der Giftküchen südlich von Leipzig. Bezüglich der Carbid-Chemie würden derzeit »zwei Varianten« diskutiert, berichtete der Umwelt-Verantwortliche im Ost-Berliner Ministerium für Schwerindustrie, Diethelm Müller, vergangene Woche: eine »Reduzierung« des Anlagenbestandes »auf die Hälfte« nach »Sanierung der anderen Hälfte für mehr als eine halbe Milliarde Mark« oder aber eine »Stillegung« aller Werke »bis 1992«.
In Mölbis bei Espenhain wird es so lange nicht dauern können. In diesem düstersten Dorf der DDR, 345 Einwoh* In Jänschwalde (Lausitz). ner, eine Kirche, kommt es vor, daß über Nacht alle Blätter von den Bäumen fallen. »Das ist das Gas«, sagen die Leute. Für die deutlich erhöhte Krebsrate in dieser Region hatten die Behörden noch im vorigen Jahr die Bewohner verantwortlich gemacht: »Die Espenhainer rauchen zuviel.«
Erst letzten Monat, am »runden Tisch« mit Umweltschützern, gaben Regierungsvertreter die immensen Gesundheitsgefahren zu. »Es ist sehr, sehr ernst«, berichtete ein Mediziner. Spöttisch kommentierte das DDR-Fernsehen: »Die Zeit ist reif, auch Schornsteinen das Rauchen zu untersagen.«
Beschlossen hat die Regierung Modrow bereits, die Verfeuerung von Braunkohle zur Energiegewinnung von derzeit 320 Millionen Tonnen jährlich auf 200 Millionen herunterzufahren. Künftig will Ost-Berlin die Gaspipeline aus Rußland anzapfen, die südlich an der DDR vorbeiführt.
Wenn es nach dem Willen westdeutscher Anlagenbauer ginge, würde der Energiebedarf der DDR künftig weitgehend mit Atomstrom gedeckt. Der zur Siemens AG gehörenden Kraftwerk-Union (KWU) beispielsweise käme der Export von Nukleartechnik in die DDR gar nicht ungelegen - die KWU-Auftragsbücher sind nicht eben prall gefüllt.
Auch Bundeswirtschaftsminister Helmut Haussmann (FDP) will in der gerade gegründeten deutsch-deutschen Energiekommission demnächst über Atomkraft reden - zum Verdruß westdeutscher Umweltschützer: Es wäre »ein Aberwitz«, kritisiert der Sprecher der Anti-Atom-Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, Wolfgang Ehmke, wenn die Umweltnot der DDR ausgenutzt würde, »der maroden Atomindustrie einen neuen Absatzmarkt« zu verschaffen.
Auch der Ost-Berliner Physiker Sebastian Pflugbeil, Autor einer im Auftrag der DDR-Kirchen verfaßten Energiesparstudie, lehnt neue Kernkraft-Projekte ab. Für die DDR, wo etwa in Rheinsberg und Greifswald zwei Kernkraftwerke sowjetischen Typs am Netz sind, seien weitere Atomvorhaben »nicht geeignet«, denn, so Pflugbeil, »wir brauchen schnelle und billige Lösungen«.
Viel hilfreicher als ein »Wirtschaftskolonialismus des Westens«, urteilte letzte Woche auch Klaus-Martin Groth, Staatssekretär im West-Berliner Umweltsenat, wären »intelligente Struktur- und Energiekonzepte« für die DDR. In dem ostdeutschen »Paradies für Energiereformer« (Tageszeitung) könnten nach einer Studie des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung allein durch effektivere Haushaltsgeräte, bessere Energieausnutzung in der Industrie und durch Umrüstung der Heizwerke rund 5300 Megawatt eingespart werden; das entspricht der Leistung von etwa fünf DDR-Kraftwerken.
Wärmedämmung, Thermostate und Ersatz von unwirtschaftlichen alten Heizungen täten ein übriges (siehe Seite 75). Zugleich müsse der Wirkungsgrad der Kraftwerke erhöht werden. Derzeit, berichtet das Institut, »gehen vier Fünftel der eingesetzten Kohle in die Luft«.
Die Bundesrepublik hätte allen Grund, sich an einem ökologischen Umbau der DDR-Wirtschaft finanziell zu beteiligen - schon aus purem Eigennutz. Denn jede Verbesserung der verpesteten DDR-Luft zum Beispiel wirkt sich direkt auch auf West-Berlin und Westdeutschland aus, jedes Klärwerk am Oberlauf der Elbe hilft auch die Unterelbe zu sanieren.
Überdies müßte sich Westdeutschland moralisch zu einer Art Wiedergutmachung verpflichtet fühlen: Seit mehr als zehn Jahren wird die DDR von den westdeutschen Bundesländern als Müllkippe mißbraucht - während drüben die Altlasten von morgen entstehen, wird hüben kräftig Geld gespart.
Denn es ist ungleich billiger, West-Müll in Schöneiche oder Vorketzin bei Potsdam abzukippen, wo die Deponien nicht einmal über eine Basisabdichtung verfügen, als in der Bundesrepublik Entsorgungsanlagen nach westlichen Standards zu bauen.
Zum Spottpreis lieferten beispielsweise Firmen aus dem High-Tech-Ländle Baden-Württemberg vergangenes Jahr rund 60 000 Tonnen Giftmüll in der Deponie Schönberg östlich von Lübeck ab, 12 000 Tonnen verseuchte Erde gingen mit 40 000 Tonnen Sonderabfällen aus West-Berlin nach Vorketzin. Dabei, sagt der Stuttgarter Grünen-Landtagsabgeordnete Michael Jacobi, habe diese Deponie »den Sicherheitsstandard eines Rübenackers«. * Am Donnerstag letzter Woche vor der DDR-Deponie Schönberg.
Längst ist sicher, daß der Giftacker das DDR-Grundwasser verseucht: In den Dörfern rundum mußten bereits acht Trinkwasserbrunnen geschlossen werden. Doch immer noch rollt in Vorketzin alle drei Minuten ein Müllaster heran.
Auch die Deponie Schöneiche, auf der pro Jahr eine Million Tonnen West-Berliner Abfälle landen, giftet vor sich hin. Im Grundwasser nahebei wurden erhöhte Ammonium- und Sulfatwerte gefunden. Gleich nebendran steht eine Verbrennungsanlage für West-Berliner Giftmüll, die allerdings vorerst außer Betrieb gesetzt werden mußte - der Ofen hatte zuviel Quecksilber und jede Menge hochgefährliche Dioxine in die Luft geblasen.
Alles in allem landen pro Jahr etwa vier Millionen Tonnen westdeutscher Haus- und Giftmüllabfälle in der DDR, davon wurde allein eine Million Tonnen in Schönberg bei Lübeck eingelagert. Dieser größte Giftmüllplatz Europas ist zwar neuerdings mit Sicherheitstechnik nach westlichen Vorschriften ausgerüstet, doch gefährliche Gifte sind längst ins Grundwasser gesickert.
In Schönberg wie auch beim Giftacker Vorketzin feierten am vergangenen Donnerstag Umweltschützer aus Ost und West eine Wiedervereinigung besonderer Art. Sie forderten bei der ersten deutsch-deutschen Blockade von Mülltransporten aus der Bundesrepublik, die DDR dürfe nicht »das Klo Europas werden«.
Tags darauf verlangte auch Töpfer einen »schnellstmöglichen« Stopp von Müllexporten aus westdeutschen Bundesländern - er möchte die DDR für die West-Berliner Abfälle offenhalten. Hingegen wird Modrow demnächst auch in der Müllpolitik eine drastische Wende machen: Nach Auslaufen der Verträge Mitte der neunziger Jahre sollen die DDR-Kippen für West-Abfälle geschlossen werden.
Rund 170 Millionen Valuta-Mark verdiente die DDR noch im vergangenen Jahr an dem Müllimport, schätzungsweise rund eine Milliarde Mark sind in den vergangenen zehn Jahren insgesamt aus dem Westen überwiesen worden - viel mehr Geld als die rund 340 Millionen West-Mark, die jetzt im Rahmen von deutsch-deutschen Umweltprojekten im Gespräch sind.
Was da geplant ist, nennt Hubert Weiger vom BUND einen »Tropfen auf den heißen Stein«. Der BUND fordert einen »ökologischen Marshallplan« für die DDR. »Etwa 100 Milliarden Mark in zehn Jahren«, rechnet auch Vahrenholt vor, müßten aus der Bundesrepublik in die DDR fließen, um das Allernotwendigste zu finanzieren.
Dieser Betrag könnte beispielsweise durch zinsverbilligte Devisenkredite finanziert werden. Das würde nach Vahrenholts Rechnung eine Milliarde Mark pro Jahr kosten.
Abgewickelt werden könnte die Finanzierung der DDR-Umwelthilfe durch eine Institution, die 1948 zur Beseitigung der Kriegsschäden in Westdeutschland gegründet wurde - und die, nahezu vergessen, noch immer existiert: Der Öko-Beistand für die DDR, meint Vahrenholt, wäre »endlich eine echte Aufgabe für die Kreditanstalt für Wiederaufbau«.