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KRANKENVERSICHERUNG Das letzte Rezept

aus DER SPIEGEL 40/1960

Im Beisein Konrad Adenauers machte am Donnerstag vergangener Woche der CDU-Parteivorstand praktisch jenem Selbstbeteiligungs-Plan für die soziale Krankenversicherung ein Ende, mit dem Bonns Poltergeist Theo Blank seit mehr als Jahresfrist immer wieder über die Bühne der Bonner Sozialpolitik spukte. Des langen Kampfes müde, ergriff das Parteigremium entschlossen einen Gesetzesvorschlag-Hammer und ließ ihn auf Blank niedersausen.

Dabei war das Bestreben des Bundesarbeitsministers lauter und vernünftig

gewesen. »Die Selbstbeteiligung an den Kosten«, so hatte Theo Blank seinen Feldzug eingeleitet, »soll im Bewußtsein des Versicherten einen Wandel dahingehend bewirken, daß er bei der Sorge um seine Gesundheit nicht mehr alle Verpflichtungen ... auf die Gemeinschaft abwälzen kann.«

Das letzte Rezept für die Reform, auf das nunmehr der CDU-Vorstand die Fraktion im Bonner Bundestag verpflichten will, ist auf Geheiß des Kanzlers von dem CDU-Mitglied und Direktor der Landesversicherungsanstalt Hessen, Heinrich Lünendonk, verfaßt. In den Bestimmungen des Gesetzentwurfs trägt die rege Lobbyisten-Tätigkeit der westdeutschen Ärzte Früchte, von denen während der vergangenen Wochen keine taktische Finesse ausgelassen wurde, um Blank mit seiner erzieherischen Idee der Selbstbeteiligung ins Unrecht zu setzen und das Ohr des Kanzlers zu gewinnen.

Am 17. August empfing Dr. Adenauer bereitwillig ein weiteres Mal die Spitzen der deutschen Ärzteschaft: Dr. Fromm von der Bundesärztekammer, Dr. Voges von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Häußler vom Hartmannbund, Dr. Berensmann vom Marburger Bund und Dr. Roos vom Verband der Niedergelassenen Ärzte.

Sie alle nahmen des Kanzlers Ohr für fünfeinhalb Stunden in Anspruch und lamentierten über angeblich schädliche Folgen für die deutsche Volksgesundheit, die durch eine breit angelegte Selbstbeteiligung der Versicherten heraufbeschworen würden.

Theo Blanks Entwurf hatte vorgesehen, daß unabhängig von den Jahresbeiträgen jeder Versicherte das Portemonnaie zücken sollte, wenn er ärztliche Hilfe in Anspruch nahm: Für jede einzelne Leistung des Arztes, etwa eine Untersuchung, die Verabreichung einer Spritze oder eine Bestrahlung, sollten 1,50 Mark Kostenanteil entrichtet werden. Blank meinte, damit werde die Selbstverantwortung gehoben und mancher unnötige Arztbesuch vermieden.

Die Ärztefunktionäre hingegen, die in Wahrheit von der Selbstbeteiligung in bar vor allem eine abschreckende Wirkung auf den Patientenzustrom befürchten, drangen auf den Kanzler ein, dann würden viele Krankheiten nicht rechtzeitig erkannt.

Des Kanzlers Reaktion auf diesen gewiß nicht unwesentlichen, von den Ärzten aber übertrieben dargestellten Einwand war derart, daß die Funktionäre dem Sozialreformer Blank am 2. September schon in recht siegessicherer Stimmung eine Art Kondolenzbesuch machen konnten. An dem Gespräch nahmen weder Referenten noch Sachbearbeiter des Arbeitsministeriums teil.

Das Organ des Bundesverbands der Ortskrankenkassen, die sich von Blanks Selbstbeteiligung eine Aufbesserung ihrer miserablen Finanzen erhofften, deutete diesen Umstand bereits dahingehend, daß die Schlacht für sie und Blank einen ungünstigen Verlauf nahm: »Aus dieser Konstellation läßt sich ... ablesen, wo die Grenzen der Macht und Freiheit des Bundesarbeitsministers liegen.«

Inzwischen hatten auf des Kanzlers Wink tatsächlich schon jener Heinrich

Lünendonk und der Sozialpolitische Ausschuß der CDU die Initiative ergriffen und die abschließenden Vorschläge ausgearbeitet. Lünendonks Konzept sieht vor, daß die Pflichtgrenze der sozialen Krankenversicherung von bisher monatlich 660 auf 750 Mark Einkommen heraufgesetzt und anstelle der Blankschen Selbstbeteiligung für diese Versicherungspflichtigen nur eine Krankenscheingebühr in Höhe von zwei Mark (für die Ehefrau eine Mark) eingeführt werden soll. Ein Vierteljahr lang kann der Versicherte aufgrund des Krankenscheins alle wirklichen Krankheiten und alle Wehwehchen behandeln lassen, ohne für die einzelne Leistung des Arztes in die eigene Tasche greifen zu müssen.

Bei freiwillig Versicherten mit Monatseinkommen von 750 bis 1250 Mark wird den Selbstverwaltungsorganen der Krankenkassen freigestellt, entweder auch die Krankenscheingebühr zu erheben oder eine Selbstbeteiligung in Form jenes unpopulären »Kostenerstattungssystems« einzuführen, das besagt: Der Versicherte muß zunächst seine Arztrechnung selbst bezahlen und bekommt einen Teil davon später durch die Kasse erstattet.

Lünendonk und sein CDU-Anhang wollen mithin für Versicherte bis zu 750 Mark Monatseinkommen das vernünftige Prinzip der Selbstbeteiligung kraft Gesetzes völlig ausschalten und für Versicherte mit Verdiensten zwischen 750 und 1250 Mark monatlich die Entscheidung über das Mitbezahlen den Krankenkassen überlassen. Darüber, wie die Kassen entscheiden werden, meint der sachkundige Sozialpolitiker und CDU-Abgeordnete Josef Stingel: »Keine Selbstverwaltung wird das je beschließen.«

Tatsächlich wird es sich jede Krankenkassenverwaltung überlegen müssen, ob sie in Zukunft nach dem Lünendonk-Rezept die Selbstbeteiligung für ihre Freiwillig-Versicherten einführen oder ob sie nicht lieber Kostensteigerungen durch eine generelle Beitragserhöhung auffangen soll. Die Einführung der Selbstbeteiligung würde unweigerlich zu einem Abwandern von Mitgliedern zu bessergestellten Kassen führen. Eine Beitragserhöhung hingegen schluckt der Krankenkassen-Patient leichter, weil er von ihr in Form erhöhter Sozialabgaben auf dem Gehaltszettel weniger gezielt getroffen wird als bei der Zahlung im Ordinationszimmer.

Praktisch bedeutet der nun ins Bonner Plenum einzubringende CDU-Entwurf, daß es generell bis zu 1250 Mark Monatseinkommen bei der leisetreterischen Krankenscheingebühr bleibt und die Kassen weiterhin auch für nicht ernsthaft Kranke und notorische Arzneischlucker Unsummen zahlen müssen. Blanks Erziehung zur Selbstverantwortung des Kranken ist auf die wenigen Versicherten mit Einkommen von mehr als 1250 Mark beschränkt, die noch freiwillig einer Kasse der Sozialversicherung angehören.

Der Bundesverband der Ortskrankenkassen zog resigniert, aber zutreffend das Fazit: »Eine Krankenscheingebühr von zwei Mark für den Versicherten und eine Mark für die Ehefrau ... wird keine Rückläufigkeit bei der Inanspruchnahme der Ärzte verursachen.«

Reform-Verfasser Lünendonk

Für Blank den Hammer

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