JUSTIZ Das letzte Wort
Nikolaus Berger sagt, er wolle in der Sonne sitzen. Er ist vor zwei Tagen von Hamburg auf die Insel Sylt gereist, weil er sich erholen wollte. Er sitzt auf der Terrasse der »Kupferkanne«, eines Lokals vor dem Watt in Kampen, und bestellt eine Apfelsaftschorle.
Berger ist Richter am Landgericht Hamburg. Er hat gerade einen Prozess zu Ende gebracht, der dreieinhalb Jahre dauerte, mit 157 Verhandlungstagen, 75 Zeugen, für den er 235 000 Blatt Papier gelesen hat. Er gilt als einer der längsten Prozesse in der Geschichte der Hamburger Justiz. Der Angeklagte war Alexander Falk, 38 Jahre alt, der vor vielen Jahren mit seinen Geschwistern das größte deutsche Stadtplan-Unternehmen geerbt hatte. Bergers Kammer hat Falk zu vier Jahren Haft verurteilt.
Berger trägt Jeans, ein rotes Poloshirt und weiße Turnschuhe. Im April 2009 geht er als Bundesrichter nach Karlsruhe. Er ist in die »Kupferkanne« gekommen, weil er jetzt frei ist und tun darf, was er lange Zeit nicht durfte: über diesen Prozess reden.
Es war ein Verfahren, über das vieles berichtet wurde, Unterschiedliches, Gegensätzliches, ein Verfahren, dem viele nicht mehr folgen konnten, und irgendwann hat sich Nikolaus Berger gefragt, wer dabei eigentlich für das Urteil zuständig ist, die Justiz oder eine andere Macht.
Berger sagt, er habe in diesem Verfahren einen Gegner gehabt, der lange Zeit unsichtbar geblieben war. Der Gegner habe mit Mitteln gearbeitet, die er, der Richter, 52 Jahre alt immerhin schon, bisher nicht erlebt hatte. Der Gegner habe versucht, die öffentliche Meinung so zu beeinflussen, dass der Angeklagte zum Opfer wurde. Der Gegner war Hans-Hermann Tiedje, ein früherer Boulevardjournalist, der heute als Kommunikationsberater arbeitet. Der Angeklagte Alexander Falk hat sich diesen Kommunikationsberater an die Seite geholt, so, wie Politiker es tun, Fußballprofis oder Schlagersänger.
Berger zieht die Sonnenbrille vom Kopf, zum Vorschein kommen kleine, wache Augen, er redet ruhig. Er sagt, dass man nichts dagegen sagen könne, wenn Prozessteilnehmer die Stimmung lenken wollten, wenn Anwälte auch außerhalb des Gerichts Plädoyers verfassten. Das gehöre zur Freiheit der Meinung. »Aber Tiedje«, sagt er, »ist die Kehrseite der Meinungsfreiheit.«
Neben Berger steht seine Fahrradtasche, er öffnet sie und zieht eine Klarsichthülle heraus, in der er Artikel gesammelt hat, die für ihn die gröbsten Verstöße gegen die Wirklichkeit waren.
Berger sagt: »Durch die Pressearbeit ist es über Jahre hinweg gelungen, ein falsches Bild aufzubauen. Dieses Bild hat Falk fast freigesprochen. Dieses Bild ließ sich nur aufbauen, weil sich die Justiz nicht wehren durfte. Ich musste mein Amt über menschliche Befindlichkeiten stellen. Ich habe in dieser Zeit Schmähungen über mich ergehen lassen müssen. Die größte Schmähung war, ich hätte mich nicht an Recht und Gesetz gehalten. Dieser Prozess war das Anstrengendste, was ich jemals erlebt habe.«
Nikolaus Berger hat, als er das Urteil sprach, nichts von all dem gesagt. »Das musste ich nicht. Es sprach erst mal alles für sich.«
Alexander Falk ist am Tag, an dem Berger in der »Kupferkanne« sitzt, auch auf der Insel. Er möchte sich auch erholen. Er kommt barfuß einen kleinen gepflasterten Weg zum Restaurant »Sturmhaube« hoch, ein paar Straßen weiter nur. Er trägt ein T-Shirt, Shorts, die Brauen sind von der Sonne ausgeblichen. Er sieht entspannt aus.
Als er vier Tage zuvor den großen Plenarsaal im Landgericht verlassen hatte und aus Hamburg aufbrechen wollte, fragten ihn Reporter, was er nun machen werde? »Feiern«, antwortete er und verschwand.
Die Frage ist, was es zu feiern gab?
Es gebe immer etwas zu feiern, sagt er. In diesem Fall habe er gefeiert, dass er die Worte des Richters nicht mehr hören müsse, der ihm immerzu erklärt habe, dass Flüsse aufwärts flössen, der Himmel gelb sei und die Erde eine Scheibe.
Es scheint, als lebe Alexander Falk in einer ganz anderen Welt als der Richter Nikolaus Berger. Das Gespräch an einem der Holztische vor dem Lokal dauert 20 Minuten, Falks Apfelsaftschorle ist zur Hälfte ausgetrunken, dann sagt er, es habe diesen Betrug nicht gegeben.
Er begründet das mit ein paar Sätzen, er trägt sie lächelnd vor, mit klarer Stimme. In seiner Welt ist er der Gute und die, die ihn nicht verstehen wollen, sind die Bösen.
Auf den beiden Terrassen von Kampen wird klar, dass dieser Prozess nie ein normaler Prozess gewesen ist, er wurde nie nur auf offener Bühne verhandelt. Dahinter gab es einen zweiten Prozess, ein Kammerspiel mit drei Personen. Dem Richter, dem Medienberater und dem Angeklagten.
Als Alexander Falks Vater, der Verlagsgründer, starb, vererbte der sein Vermögen an seine Kinder. Falk verkaufte das Unternehmen und erwarb mit seinem Erlös Internet-Firmen. Das begann Mitte der Neunziger, ein neuer Markt wuchs, die New Economy, es folgten Jahre des großen Internet-Booms.
Seit Sommer 2003 warf die Hamburger Staatsanwaltschaft Falk vor, er habe den Umsatz einer Firma, den der Ision Internet AG, mit Scheingeschäften aufgepumpt, er habe sie dann zu einem überhöhten Preis weiterverkauft. 22 Monate hatte Falk, einer der Aufsteiger der New Economy, in Untersuchungshaft verbracht, bis April 2005.
»Der Angeklagte Falk ist des gemeinschaftlichen versuchten Betrugs in Tateinheit mit gemeinschaftlicher unrichtiger Darstellung schuldig«, urteilte der Richter.
Das Urteil sei ungerecht, sagt Alexander Falk. Eine Möwe fliegt dicht hinter seinem Kopf. Am Morgen haben seine Anwälte die Unterlagen zur Revision eingereicht.
Zu Beginn der Verhandlung, sagt Alexander Falk, habe er ja noch den Diskurs mit dem Richter gesucht, trug ihm mehrstündige Power-Point-Präsentationen vor, hatte Wirtschaftsexperten beauftragt, die in Gutachten seine Unschuld bescheinigten.
Nach drei Monaten dann brach er den Dialog ab. Das sei eben so, wenn man merke, dass der Richter sich längst seine Meinung über einen gebildet habe. Seitdem hofft Falk auf die Zeit nach dem Urteil, auf die Revision, die darüber entscheidet, ob er wieder in Haft gehen wird oder nicht.
Er zog sich zurück in den Verhandlungen, sie schienen ihn nicht immer zu interessieren. Er saß vor seinem Laptop, nutzte die Zeit, beantwortete E-Mails, und wenn er Ruhe brauchte, weil er längst an neuen Projekten arbeitete, benutzte er Ohrenstöpsel, er drehte die Wirklichkeit leise.
Seine Anwälte suchen jetzt nach Rechtsfehlern, um die Revision zu begründen. Top-Anwälte sind das, zu denen Gerhard Strate gehört, der mal einen Freispruch für Monika Böttcher erwirkte. Falk hatte auch Sven Thomas an seiner Seite, der im Mannesmann-Prozess verteidigte; und Erich Samson, Rechtsbeistand der Barschel-Familie.
Eine Top-Truppe ist das, zu der auch Hans-Hermann Tiedje gehört. Tiedje steht in Berlin einer Firma vor, die Wirtschafts-, Politik- und Mediengrößen berät, in deren Vorstand auch Bernd Schiphorst tätig ist und im Aufsichtsrat Hans-Dietrich Genscher als Ehrenmitglied. Tiedje ist ein Profi, erfahren, einer, der immer noch eine Idee hat oder einen guten Kontakt. Er ist 59 Jahre alt und, das kann man sagen, ein Mann für die schweren Fälle.
Seine Firma beriet die Türkei, damit die es besser in die EU schafft, Tiedje stand im Wahlkampf Helmut Kohl zur Seite.
Zwei Wochen vor dem Urteil sitzt er in seinem Lieblingsrestaurant im Berliner Stadtteil Charlottenburg, über dem Guido Westerwelle wohne und Ronald Pofalla, sagt Tiedje. Er wischt mit Weißbrot durchs Olivenöl, raucht, spricht laut, sagt: »Dieser Prozess hätte in einer Bananenrepublik spielen können.« Er sei eine offenkundige Schweinerei. Darauf habe er einfach immer nur hinweisen wollen.
»Mein Ziel war es, den Prozess des denkenden Journalisten aufrechtzuerhalten.«
Tiedje sagt, er selbst sei immer auch Journalist geblieben. Er führt einmal in der Woche eine politische Talk-Runde auf N24, er ist Chefredakteur von »Tango« gewesen, der »Bunten« und der »Bild«-Zeitung.
Als Alexander Falk bereits inhaftiert war, der Prozess aber noch nicht begonnen hatte, gab es in der »Bild« eine Zeitlang Schlagzeile auf Schlagzeile zu diesem Fall. »Feiert Falk seinen Geburtstag zu Hause?«, »Wie befangen sind seine Richter?«, »Falk schon bald ein freier Mann?«, »Falk-Prozess - Hat die Hamburger Justiz Fehler gemacht?« Und so ging es weiter, als der Prozess dann lief. »Freispruch für Falk?«, »Zeuge entlastet Alexander Falk«, »Neues Gutachten - Alexander Falk unschuldig?«, »Muss Hamburg jetzt Schadensersatz zahlen?«, »Ein Freispruch erster Klasse?«
Hans-Hermann Tiedje sagt, er habe mit den Artikeln nichts zu tun. Doch als die Mutter des Angeklagten während des Prozesses Selbstmord beging, verließ Tiedje vorübergehend seine Unsichtbarkeit. In der »Bild«-Zeitung stellte er die Frage, »wie viel Mitschuld die Hamburger Justiz am Tod von Alexander Falks Mutter trägt«.
Es sind Sätze, die erst mal mehr öffentliche Wucht haben als Zeugenaussagen in Gerichtssälen. Tiedje war bei der Arbeit, er hat manchmal Treffen organisiert mit Journalisten in teuren Hotels, um denen seine Sicht der Dinge zu schildern. Und er hat Briefe versandt in die Chefetagen vieler Zeitungen, Zeitschriften, Magazine.
Darin standen Verheißungen, Ankündigungen, dass an den nun folgenden Verhandlungstagen etwas Großes passiere; da gehe etwas hoch, so erzählt es einer der Lokalreporter im Gericht. Er habe deswegen manchmal hingehen müssen zum Prozess, bis nach einigen Monaten deutlich wurde, dass nichts hochging.
Im Januar 2007 schrieb Tiedje wieder einen dieser Briefe. »Ich gebe die neuen Daten zur Kenntnis, damit für eine eventuelle Berichterstattung neu disponiert werden kann ...« Tiedje kündigte neue Zeugen an. »Wir werden jetzt sehen, was von den Vorwürfen gegen Alexander Falk übrig bleibt. Ich glaube, so gut wie nichts.«
Die Journalisten, die daran auch glaubten, wurden immer weniger. Hans-Hermann Tiedje, der immer noch eine Idee hat, musste sich etwas Neues einfallen lassen. Er ließ sich die Unterlagen kommen und schrieb nun selbst Texte.
Die Frage war, wer das, was er formulierte, drucken würde.
Ende Januar 2008 erschien in der »Financial Times Deutschland« ein Artikel, der »Schuldig im Sinne der Ankläger« hieß, sein Autor hieß Hans-Hermann Tiedje.
Veröffentlicht wurde der Text auf der Seite 26, einer Meinungsseite mit Gastkommentaren; es war vermerkt, dass Tiedje ein enger Falk-Vertrauter sei. Die Seite war an diesem Tag nicht kleinteilig wie sonst, sondern sie bestand aus einem Stück. Das war ein Erfolg.
Der Chefredakteur des Wirtschaftsblatts sagt, es habe innerhalb der Redaktion heftige Diskussionen gegeben. Und er sagt auch, dass ein Justitiar des Hauses sämtliche Fakten geprüft habe.
Tiedje beschreibt in dem Text den Verlauf des Prozesses - aus seiner Sicht. Er geht die Hamburger Justiz an, er spricht von Befangenheit und Unprofessionalität und kritisiert den Vorsitzenden Richter, er schreibt, er könne nur zu der Erkenntnis gelangen: »Richter Berger will Alexander Falk mit seiner Großen Strafkammer 20 verurteilen, unbedingt. Und um dieses Ziel zu erreichen, werden abenteuerliche Argumentationen in Kauf genommen.«
Der Hamburgische Richterverein reagierte sofort in einem offenen Brief. »Abgesehen von der vielfach ehrverletzenden Diktion des Beitrags ist bemerkenswert, dass evidente Unsachlichkeiten und Unstimmigkeiten unkommentiert publiziert werden konnten.«
Richter Berger blieb damals ruhig. Er hätte sich gern erregt darüber, als Mensch, aber er durfte es nicht, als Richter, und schwieg. Er wartete auf den Tag des Urteils, auf den er gut vorbereitet war.
Er hatte eine Presseerklärung aufgesetzt, die er nach dem Urteil verteilen ließ. Sie hatte vier Seiten und fasste komplizierte Sachverhalte in einfachen Worten zusammen. Berger sagt, er habe damit erreichen wollen, dass endlich das aus seiner Sicht Richtige in der Zeitung stand.
Am Tag des Urteils setzte er sich auf sein Rad und wusste, dass er heute lange reden würde. Er begründete das Urteil fünf Stunden lang. Er wusste, dass eine PR-Firma zu einer Pressekonferenz eingeladen hatte, Falks Anwälte versprachen Reaktionen, Aufklärung zum Urteil. Auch Tiedje hatte dazu eingeladen, zu 12.30 Uhr an die Alster, ins Hotel InterContinental, in einen Ballsaal.
Aber um 12.30 Uhr war Berger noch lange nicht fertig, und die Journalisten hörten ihm zu. Berger las so lange, bis die Journalisten gehen mussten, zurück in ihre Redaktionen, um aktuell zu berichten.
Einmal, gegen 13 Uhr, stand dann Hans-Hermann Tiedje in der Tür des Plenarsaals. Er sah ein bisschen verzweifelt aus. Er musste schweigen, denn jetzt redete der Richter.
Richter Berger war früher auch Sprecher der Hamburger Justizbehörde gewesen. Er kennt die Abläufe. Und Redaktionsschlüsse.
»An Freitagen sind die besonders früh«, sagt er, nimmt einen Schluck Apfelsaftschorle, lächelt jetzt. Der Ballsaal war leer geblieben, 56 Stühle, hergerichtet für die Journalisten. Nur ein Kellner lief auf und ab, in Sorge um seine Lachsschnittchen, die ihm trocken geworden waren.
»Tiedje«, sagt Berger, »ist für mich einer, bei dem sich in unheilvoller Weise bezahlte Skrupellosigkeit und Boshaftigkeit paaren.«
Nikolaus Berger hat seinen Gegner von Anfang an gesehen. »Ich habe ihn immer durchschaut«, sagt er. Er wusste von Tiedjes Treffen in den Hotels, seinen Briefen, den Artikeln, auch dem aus der »Financial Times Deutschland«, der, so sieht er es, »voll war mit Lügen«.
Er steigt auf sein Fahrrad, und bevor er losfährt, sagt er, dass ein Urteil, das von ihm als Strafrichter gesprochen wurde, in 16 Jahren noch nie aufgehoben worden sei.