MUSIK / KARAJAN Das magische Plus
Der mittelgroße knabenhaft schlanke Mann im Frack hält das halmdünne Stöckchen an beiden Enden gefaßt. Er biegt es durch und läßt es sich wieder strecken, wiederholt diese Zerreißprobe einige Male - mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf, scheinbar unberührt von dem auf ihn konzentrierten Interesse, das ihn zum Mittelpunkt der überfüllten Arena macht. Dann schreckt er hoch, noch immer wie in Trance, strafft sich, die Rechte schwingt das Stöckchen, und mit dem ersten Herunterschlag beginnt das, worauf zweitausend Menschen mit fiebriger Spannung, abgestuft zwischen schwärmerischer Verzückung und kühl registrierendem Kunstverstand, gewartet haben: Herbert von Karajan dirigiert.
Er dirigiert derzeit in Amerika, zum erstenmal in seinem Leben, und dieses für einen fast fünfzigjährigen weltberühmten Künstler auffallend späte Debüt schien kurz vor dem Abflug der Berliner Philharmoniker zur Amerika-Tournee unter Karajan fast noch zu scheitern. Angeführt von dem geifernden Rundfunkkommentator und Columnisten Walter Winchell schlug die Musiker-Sektion einer amerikanischen Veteranen-Organisation Lärm wegen Karajans früherer NS-Parteimitgliedschaft.
Dabei hatte Karajans Gattin Anita, geborene Gütermann (aus der Nähseiden-Dynastie), schon vor einiger Zeit das überseeische Terrain für den einstigen Leiter der Preußischen Staatskapelle, des Orchesters der Berliner Staatsoper (Hausherr: Hermann Göring), erkundet*). Ihr konnte Hauptkläffer Winchell nicht gut den Aufenthalt im Mutterland der Demokratie verderben, Frau Anita galt nach vergangener Rassenmathematik als Vierteljüdin. Daß Görings Generalmusikdirektor 1943 ausgerechnet diese Ehe einging, buchen seine Anhänger heute von der Soll-Seite ab.
Jener späte Querschuß gleichsam vor den Bug der beiden für die Philharmoniker-Tournee gecharterten PAA-Clipper war nicht das erste Hindernis auf dem mit Stolpersteinen reichlich ausgelegten Weg des prominentesten deutschen Orchesters in die New Yorker Carnegie Hall und andere amerikanische Konzertsäle. Die seit fast zwei Jahren vorbereitete Amerika-Reise, für deren Transport-Kosten (50 000 Dollar) der langjährige Mäzen des Detroiter Symphonie-Orchesters, Henry Reichhold, gutgesagt hatte, drohte nach dem plötzlichen Tode Wilhelm Furtwänglers Ende vorigen Jahres zu platzen. Reichhold zog - reichlich spät - seine Zusage zurück.
Zwei Senioren der Dirigenten-Zunft, Bruno Walter und Sir Thomas Beecham, boten dem unerwartet kopflos gewordenen Klangkörper ihre Hilfe an. Aber beide sind alte Herren, die den Anforderungen von insgesamt 26 Konzerten in fünf Wochen samt Probenarbeit kaum mehr gewachsen gewesen wären. (Auch für Furtwängler waren Aushilfen vorgesehen.)
*) Nach Wiener »on dit« galt ihr spezielles Interesse dem Bostoner Symphonie-Orchester, dem bestdotierten, zugleich auch einem der besten Orchester der Welt. Dessen Chefdirigent Charles Münch ist alt und sucht einen Nachfolger. Karajans Tournee käme danach einer Kandidatur gleich, die aber aus politischen Gründen vorerst ohne Chancen zu sein scheint. Es hätte nahegelegen, sich mit einem oder mehreren der in den USA wirkenden, fast ausnahmslos vom Kontinent stammenden Star-Dirigenten wie Dimitri Mitropoulos vom New Yorker Philharmonischen Orchester, Charles Münch vom Bostoner oder Eugen Ormandy vom Philadelphia Symphonie-Orchester zu behelfen. Aber die kennt das amerikanische Konzertpublikum zu gut, der finanzielle Erfolg der Gastspielreise wäre fraglich gewesen.
Gesucht wurde vielmehr eine ausgesprochene Attraktion für das Land der musikalisch durchaus begrenzten Möglichkeiten, ein Dirigent, der in Amerika einen großen Namen hat und dennoch niemals oder - wie Furtwängler - lange nicht mehr drüben gewesen war. Er mußte als künstlerischer Reiseleiter außerdem gewisse Voraussetzungen erfüllen, mußte genügend menschlichen Kontakt mit den Musikern gewinnen können und nicht zuletzt befähigt sein, die Nachfolge Furtwänglers als ständiger Leiter des Berliner Philharmonischen Orchesters anzutreten.
Kurzum, gesucht wurde eine Art Ideal-Dirigent mit maximaler Publikumswirkung und höchster Begabung für Orchesterführung im weitesten Sinne. Gefunden wurde Karajan.
Er steckte in »Carmen«-Proben an der Mailänder Scala, als ihn der Hilferuf aus Berlin erreichte. Nach Bizets Oper, die er dirigierte und zugleich selbst inszenierte, sollte er Richard Wagners »Walküre« in gleicher Doppeleigenschaft an der Scala herausbringen. Er schien absolut unabkömmlich. Aber der Kontrakt mit dem verwaisten Furtwängler-Orchester kam zustande.
Die Lösung schien ideal. Der Name Herbert von Karajan war dank zahlreicher Schallplatten-Aufnahmen in Amerika recht bekannt, obwohl der 47jährige Dirigent selbst noch niemals in der Neuen Welt gewesen war. Erst in diesem Jahr wollte er mit dem Orchester der englischen Schallplattenfirmen »Columbia« und »His Master''s Voice«, dem Philharmonia Orchester London, die Vereinigten Staaten bereisen. Es wäre ein Konkurrenz-Unternehmen
zur freilich viel früher angesetzten Furtwängler-Tournee gewesen.
Die mehr vom Älteren empfundene als vom Jüngeren geförderte Rivalität der beiden Dirigenten aus verschiedenen Generationen war lange Zeit geradezu sprichwörtlich. Um so unglaubhafter erschien zunächst das Gerücht, Furtwängler habe noch auf seinem Sterbebett Herbert von Karajan zu seinem Nachfolger bestimmt. Wenn daran ein Wort wahr sein sollte, so ließe sich das nur aus einer Abart von Haßliebe erklären, die zu Furtwänglers Lebzeiten oft absonderliche Formen der Verfeindung annahm, sich dem Gerücht nach am Ende aber doch als Anerkennung der Persönlichkeit und der künstlerischen Leistung Karajans entpuppt hätte.
Die Spannungen begannen mit Karajans überraschend schnellem, fast sensationellem Aufstieg. Der in Salzburg geborene Schüler des Mozarteums hatte sich als Neunzehnjähriger mit einer kurzfristig übernommenen »Fidelio«-Aufführung in seiner Vaterstadt ersten Erfolg geholt, danach am Ulmer Stadttheater die Kapellmeister-Sporen verdient, bevor er 1935 - mit 27 Jahren und damit als jüngster Generalmusikdirektor Deutschlands - nach Aachen berufen wurde*).
Von hier drang sein Ruf bald nach Berlin. Viele Musikkenner sahen in ihm den Nachfolger, falls Furtwängler wegen seiner vielen anderen Verpflichtungen die Leitung der Berliner Philharmoniker abgeben sollte.
Etwa zum Jahreswechsel 1937/38 bot der damalige Intendant des Orchesters, Hans von Benda (heute Leiter der Musikabteilung des Senders Freies Berlin), Karajan eines der sogenannten »Dienstagkonzerte« an. Weil diese Konzertreihe nicht das Gewicht der »großen« Philharmoniker-Konzerte hatte, lehnte Karajan ab: Er wolle sich erst noch entfalten und dann in größerem Rahmen dirigieren.
*) Merkwürdigerweise kam auch sein heute amtierender mittelbarer Nachfolger, Wolfgang Sawallisch, vor zwei Jahren als jüngster Generalmusikdirektor Deutschlands nach Aachen. Auch er hat sich mit den Berliner Philharmonikern auffallend frühe Gastspielerfolge geholt. Im Frühjahr 1938 leitete Karajan dann eins der »großen« Konzerte der Berliner Philharmoniker. Der Erfolg war durchschlagend. Hans von Benda bot Karajan ein weiteres Konzert im Herbst an. Generalintendant Tietjen, der damals mit Furtwängler im Streit lag, lud Karajan ein, in der Staatsoper »Fidelio« und »Tristan« zu dirigieren.
Nach der »Tristan«-Aufführung erschien in der »B. Z. am Mittag« die berühmte »Wunderkritik« des Musikkritikers Dr. van der Nüll unter der Überschrift: »Das Wunder Karajan«. In dieser Rezension wurde der musikalische Generalissimus der Provinzstadt Aachen, ein junger Mann von knapp dreißig Jahren, den »fünfzigjährigen Dirigenten« als Beispiel hingestellt.
Karajan selbst war entsetzt, er ahnte die Folgen. Die internen Vorgänge lassen sich heute unschwer, aber nur unter der Voraussetzung rekonstruieren, daß man gewillt ist, einem großen Toten an der Kranzschleife zu flicken. Äußerlich geschah nicht mehr, als daß Karajan an die Berliner Staatsoper berufen wurde, daß dem Dr. van der Nüll auf Betreiben des Goebbels-Ministeriums verboten wurde, über Furtwängler zu schreiben, und daß Benda, der für die Saison 1939/40 mehrere Konzerte mit Karajan vereinbart hatte, Anfang 1939 auf Wunsch der gleichen Stelle zurücktrat.
Im Juni 1939 bot Bendas Nachfolger, Gerhart von Westermann, im Namen Furtwänglers Karajan einige Konzerte an. Karajan lehnte ab mit der Begründung, er verstehe die ganzen Vorgänge nicht. Er hat bis 1952 das Berliner Philharmonische Orchester nicht wieder dirigiert.
Anfang Februar 1955 äußerte der mit jahrzehntelanger Philharmoniker-Praxis
ausgestattete Orchestervorstand Fischer nach der ersten Karajan-Probe für die Amerika-Tournee offiziell: »Es verspricht, eine wundervolle Zusammenarbeit zu werden.«
Inoffiziell herrschte anfangs Meuterstimmung unter den Musikern, die in den letzten zwei Wochen vor dem Abflug nach Amerika zusätzlich zum üblichen Saisonbetrieb zwei Karajan-Konzerte in Berlin und eine kurze Westdeutschland-Tournee zu bestreiten hatten. Für diese 14 Tage hatte Karajan 21 Proben angesetzt, bei denen er das Erscheinen sämtlicher Orchestermitglieder verlangte.
Aber die Probenarbeit verlief dann dennoch relativ glatt. Karajan gilt als zwar anspruchsvoller, aber interessanter und darum nicht unbequemer Probierer, der im Umgang mit den Musikern stets verbindlich bleibt und sich, im Gegensatz zu berühmten Kollegen, niemals zu Ausbrüchen hinreißen läßt.
An seinem unbeherrschten Temperament ist selbst ein so eminent befähigter Dirigent wie der Rumäne Sergiu Celibidache gescheitert (SPIEGEL Nr. 50/1954), dem man zunächst die meisten Chancen gab, Furtwänglers verlassenen Thron zu besteigen. Merkwürdigerweise haben die beiden Kronprinzen Karajan und Celibidache der Herkunft nach manches gemeinsam. Das rumänische Exilblatt »Exilul Romanesc«, das in Nürnberg erscheint und in dem die nationalstolzen Rumänen zunächst den Sergiu Celibidache als einen der ihren gefeiert hatten, schrieb mit deutlich spürbarer Genugtuung, es sei »eine erfreuliche Überrraschung festzustellen, daß auch im zweiten Kandidaten für die Nachfolge Furtwänglers bei den Berliner Philharmonikern rumänisches Blut fließt«.
Tatsächlich entstammt Herbert Ritter von Karajan einem griechisch-mazedonischen Adelsgeschlecht (die Rumänen betrachten die Mazedonier als einen abgesplitterten Teil ihres Volkes). Selbstgefällig charakterisierte
»Exilul Romanesc« den mazedonischen Ritter des Taktstockes, dessen voller Familienname »Karajanopoulos« lautet: »Sein südliches Temperament verrät etwas vom charakteristischen Merkmal seiner mazedonischen Ahnen.«
Dazu aber kommt die österreichische Mentalität, die Liebenswürdigkeit des Sohnes der Mozartstadt Salzburg. Dort blies sein Vater, Primararzt des St.-Johann-Spitals, bei den Konzerten des Mozarteums die Klarinette. Südliche Blutmischung und sinnenfrohe Umwelt haben den Künstler Karajan geprägt, die vielfarbig schillernde Dirigenten - Persönlichkeit, über die sich selbst die verträglichsten Musikfreunde zerstreiten können. Für die einen ist er ein Magier des Taktstocks und eiskalter Klangzauberer, für die anderen reimt sich Karajan auf Scharlatan.
Die Diskussion scheint dabei nur um persönliche Eigenheiten zu kreisen und trifft doch das Problem der Orchesterleitung überhaupt. Im Grunde geht sie noch darüber hinaus: Im Zeitalter der Interpreten rührt eine Dirigenten-Debatte an die Grundlagen des Musikbetriebes.
Das Problem ist noch jung, nur wenig mehr als einhundert Jahre alt. Robert Schumann hat 1835 wohl als erster einen Dirigenten - es war Mendelssohn - wegen seines Dirigierens kritisiert: »Mich für meine Person störte ... der Taktierstab, und ich stimmte Florestan bei, der meinte, in der Symphonie müsse das Orchester wie eine Republik dastehen, über die kein Höherer anzuerkennen.«
Es war also nicht nur der damals in Deutschland noch wenig bekannte »Taktierstab«, der den Kritiker Schumann störte, sondern die Institution des Dirigenten überhaupt. Jahrhundertelang hatte Aufstampfen mit dem Fuß oder Angabe des Zeitmaßes vom Cembalo aus, mit dem Geigenbogen des ersten Violinisten oder mit einer Notenrolle für das Zusammenwirken einer Musikerschar genügt. Erst das 19. Jahrhundert entdeckte und entwickelte die Machtposition des vom Orchester äußerlich abgesonderten Dirigenten, wie sie schon der junge Richard Wagner wunschträumte: »Nicht Kaiser und nicht König, aber so dastehn und dirigieren ...«
Schon damals denunzierte der spätere Kapellmeisterkomponist die Zunft durch den offenen Hinweis auf das »Als ob«-Signum des Gewerbes. Daran hat bis zu Karajan hin die Kritik immer angesetzt: am schönen Schein der musikbedeutenden Geste, solange sie Selbstzweck blieb.
Aber eben darüber: Über die Zweckmäßigkeit und damit den Sinn nicht des Taktschlagens, wohl aber dessen, was daraus gemacht wurde, ist eine genaue Aussage nicht oder nur indirekt möglich. Zuständiges Kontroll-Organ ist hier das Ohr, und das ist in untrainiertem Zustand - wie es die Norm ist - ein recht schwer ansprechendes, träge reagierendes Instrument; das Auge ist schneller und - leichtgläubiger. Das erschwert das Dirigenten-Problem und bietet bloßer Rattenfängerei starken Anreiz.
»Die Gefahr ist gerade beim Dirigenten groß«, hat Wilhelm Furtwängler einmal gesagt. »Während bei anderen Künsten ein gewisses Maß leicht nachprüfbaren technischen Könnens Voraussetzung ist, entzieht sich die Beurteilung des Könnens eines Dirigenten nicht nur dem breiten Publikum, sondern häufig sogar gewiegten Fachleuten. Um so größer sind seine Möglichkeiten, auf dem Umweg über die theatralische Pose mit seinen Hörern in Kontakt zu treten - auf Kosten des Kunstwerks.
»Einer Welt vorgetäuschter, verlogener Gefühle, der Schauspielerei im übelsten Sinne ist da Tür und Tor geöffnet. Es nimmt nicht wunder, daß auf keinem anderen Gebiet eine so sinnlose Überschätzung ... statthat ...«
Aus dem Widerstand gegen die rational kaum zu legitimierende Funktion des modernen Orchestermachthabers, eines absolutistischen Herrschers im Bereich der Musik, erklären sich die vereinzelten Versuche, die führerlose Form der »Orchester-Republik«, des dirigentenlosen Orchesters, zu restaurieren. Solche Versuche gab es in den zwanziger Jahren bezeichnenderweise in Moskau, wo sich das »erste symphonische Ensemble« unter der russischen Abkürzung »Persymfans« etablierte, es gab sie auch in Amerika. Aber die »demokratischen« dirigentenlosen Orchester konnten sich auf die Dauer nicht durchsetzen.
Dagegen spricht auch nicht die Gründung des Orchesters »Symphony of the Air« aus dem alten Toscanini-Orchester in New York (SPIEGEL 48/1954). Das Orchester begann zwar »dirigentenlos«, spielte aber
seine ersten Konzerte, wie es verlauten ließ, ganz im Geiste Toscaninis, und es unterwarf sich bald wieder dem Taktstock, wenn auch nur von Gastdirigenten ganz verschiedener Güte. Mit der Abdankung Toscaninis ging dem einst so erstklassigen NBC-Orchester aber offenbar mehr als nur die monarchistische Verfassung verloren. Es ist mittlerweile sogar unter die Fuchtel des Jazz-Duke Ellington geraten*).
Dieser Niedergang läßt Rückschlüsse auf die Funktion der vielbeklatschten, oft umstrittenen Taktstock-Aristokratie zu. Es gibt heute ausgepichte Kenner, die den jeweiligen Dirigenten, abgesehen von Interpretationsmerkmalen, blind nur aus dem Orchesterklang erraten können, und es gibt Klangkörper, die ihren künstlerischen Rang fast ausschließlich dem Taktstock eines Dirigenten verdanken. Beispiele: die Wiener Symphoniker, teilweise auch das Philharmonia-Orchester London. Der Wundermann heißt in beiden Fällen Herbert von Karajan.
1949 schnitt er mit einer Aufführung der Neunten Sinfonie während der Salzburger Festspiele ungut ab. Daraufhin widersetzte sich Furtwängler - wie die zahlreichen Karajan-Anhänger in Wien wissen wollen - der neuerlichen Verpflichtung Karajans für eine Aufführung wiederum der Neunten bei den Festspielen im darauffolgenden Jahr, in dem Karajan auch eine Oper in Salzburg dirigieren sollte. Karajan bestand
*) Vielleicht war das der Grund, weshalb der greise Arturo Toscanini wider alle Beteuerungen, er sei endgültig vom Podium abgetreten, Ende Februar wieder nach Amerika zurückreiste, auf ein »gewisses Telegramm« hin, wie seine Umgebung verlauten ließ. angeblich auf beidem und sagte die Opernleitung ab, als ihm die Aufführung der Neunten nicht übertragen wurde*). Das bedeutete den Bruch mit den Wiener Philharmonikern.
Damals schien Karajan ohne Orchester zu sein, aber er schuf sich selbst eins. Aus dem Orchester der Wiener Symphoniker, einem im Schatten der weltberühmten Philharmoniker vegetierenden zweitklassigen Ensemble, machte er in relativ kurzer Zeit einen erstrangigen Klangkörper, mit dem er auf Auslandstourneen hervorragend abschnitt. Und ähnlich zog er in scharfer Schulung das Philharmonia-Orchester London zu einem Elite-Ensemble heran. Dabei half ihm, der bis dahin als schlechter Pädagoge galt, freilich der an den Tresor des musikliebenden indischen Maharadschas von Mysore angeschlossene finanzielle Fundus des Schallplatten-Orchesters.
Das Philharmonia-Orchester, das nicht mit den Londoner Philharmonikern zu verwechseln ist, wurde 1945 von Walter Legge, dem Gatten der Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf, gegründet. Das erste Konzert leitete der Altmeister der Taktstockkunst auf der Insel, Sir Thomas Beecham. Er hatte sich bereit erklärt, als symbolisches Honorar eine Zigarre anzunehmen, falls ihm das junge Orchester gefalle. »Wenn das Orchester schlecht ist, kann mich keine Summe für die erlittenen Qualen entschädigen.« Er bekam seine Zigarre.
Das Orchester setzt sich aus jungen ausgesuchten Spitzenkräften zusammen, die durchweg nur kurzfristige Verträge erhalten und erbarmungslos in die Wüste geschickt werden, wenn sie nachlassen oder versagen. Kaum eins der kontinentalen Spitzenorchester kennt solche nach rein künstlerischen Gesichtspunkten selbstverständlich anmutenden Bedingungen, auch nicht das einst unabhängige Berliner Philharmonische Orchester, das im Grunde längst in städtischen Diensten steht - mit entsprechend fest garantierter Pensionsordnung.
Das bestimmt neben anderen Faktoren den Stil, prägt die ganz verschiedenen Profile etwa dieser beiden Klangkörper, und daß Karajan in diesem Jahr sowohl mit den Berliner Philharmonikern als auch mit dem Londoner Philharmonia-Orchester nach Amerika fährt, bedeutet mehr als einen spannenden Wettbewerb. Es fördert vielleicht die gegenwärtige Auseinandersetzung zwischen dem Orchester-Ideal, grob ausgedrückt: der Alten und der Neuen Welt, zwischen dem »Musizier-Orchester«, wie es die Berliner Philharmoniker repräsentieren, und dem in Amerika ausgebildeten Typ des »Perfektions-Orchesters«, zu dem neben einzelnen deutschen Rundfunk-Orchestern auch das Londoner Philharmonia-Orchester gehört.
Beide Orchesterarten repräsentieren »zwei verschiedene Typen der Werkdarstellung, zwei künstlerische Weltanschauungen«, wie H. H. Stuckenschmidt in der »Neuen Zeitung« schrieb. »Sie gehen von entgegengesetzten Gesichtspunkten an Musik heran: der eine will Perfektion, der andere Integration.
»Perfektion, im Grunde das klassische Ideal der Vollendung, sucht sich in der äußersten Überwindung materieller Widerstände zu erfüllen; sie ist das Ziel, dem seit Beginn des industriellen Zeitalters der
*) Umgekehrt kam es im Bach-Jahr 1950 in Wien zu einer Verärgerung Furtwänglers, weil Karajan ihm angeblich den Singverein der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde für eine Aufführung der Matthäuspassion blockierte. Daraufhin legte Furtwängler, der seit 1921 »artistischer Direktor« dieser traditionsreichen Institution war, sein Amt nieder, das dann Karajan auf Lebenszeit übertragen wurde. Instrumentenbau, die Virtuosenschulung und die rationalistische Orchesterführung zustreben. Am Ende des Weges steht das nicht kicksende Horn, das mathematisch genau intonierte Kontrabaß-Flageolett, der Triller von der Genauigkeit einer elektrischen Klingel.
»Integration ist ein Ideal des Zusammenschließens ungleicher Einheiten. Ihre Erkenntnis entspringt der Beobachtung, daß ein Orchester (ähnlich wie ein Sozialwesen, eine Familie, ein Staat) mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Auf Integration muß jede höhere künstlerische Gemeinschaftsleistung hinzielen; ihr ''magisches Plus'' ist das Geheimnis aller guten Orchester.«
Es wird entwickelt und geweckt oder gar erst vermittelt durch jenes andere ebenso ungreifbare »magische Plus«, das den wirklich großen Dirigenten vom kapellmeisterhaften Taktschläger unterscheidet. Es läßt sich nur schwer aus Äußerlichkeiten ablesen, läßt sich rational kaum fassen. So gab Mendelssohn, der als einer der ersten in Deutschland mit dem »Taktierstab« hantierte, meist nur die Einsätze und die notwendigen Zeichen, ohne ständig zu dirigieren. Als Hans von Bülow
später in einem Konzert der Berliner Philharmoniker für die »Tannhäuser«-Ouvertüre nur den Einsatz gab und sich danach bis kurz vor Schluß des Stücks seelenruhig auf sein Dirigier-Podest setzte, war solches Pausieren in Wahrheit Posieren - ein Gag, der die Autorität des Dirigenten über das bis zur mechanischen Verrichtung gedrillte Orchester nur noch unterstrich.
Bülow war einer der ersten, die den früh erhobenen Machtanspruch der Kapellmeisterkomponisten Berlioz und Wagner realisierten, das Manifest ihrer Schriften »Die Kunst des Dirigierens« (Berlioz; 1844) und »Über das Dirigieren« (Wagner; 1869) verwirklichten. Er repräsentierte im wörtlichen wie im übertragenen Sinne den Typ des »königlichen Kapellmeisters« mit seinen Vorzügen wie mit seinen Allüren. So wird von ihm berichtet, daß er sich nicht scheute, vor Beginn des berühmten Trauermarsches der Beethovenschen Eroica schwarze Handschuhe aus der Tasche zu ziehen und anzulegen.
Über eine solche Äußerung reiner Theatralik läßt sich bereits nicht mehr streiten, wohl aber noch über Herbert von Karajans Eröffnungs-Pose, mit der er sich,
wie man sagt, vor aller Leute Augen in Trance versetzt, sowie über seine Gewohnheit, danach für die Dauer des Musikstücks die Augen nicht mehr aufzutun*). Schauspielerei oder individuelle Notwendigkeit für das »magische Plus«? Die Frage ist so alt wie Karajans Karriere.
Gegen die musikalische Reproduktion mit geschlossenen Augen spricht ganz allgemein Jean Cocteaus Wort, alle Musik, die man mit geschlossenen Augen höre (und das sagt auch: dirigiere), sei verdächtig, dagegen spricht scheinbar auch die Tatsache, daß Karajan mit geöffneten Augen probt. Aber das sind niemals »Durchspielproben«. Karajan exerziert immer nur Einzelheiten, wobei er, wie man glaubt, die Partitur, falls sie für ihn neu ist, endgültig auswendig lernt. Erst im Konzert schließt sich die Einzelarbeit zur Gesamtwiedergabe zusammen.
Diese äußerst rationelle, strategisch durchgeplante Probentechnik ist nicht ungewöhnlich, auch wenn sie sich stark vom mehr improvisatorischen Probenstil Wilhelm Furtwänglers unterscheidet. (Dessen Art war typisch für die mit reinen »Musizierorchestern« verbundenen großen Dirigenten, die sich nach wenigen Proben ganz auf das Ingenium ihrer Persönlichkeit bei der Aufführung verließen. In Deutschland ist heute Hans Knappertsbusch ihr repräsentativster Vertreter.)
Außergewöhnlich aber ist die Gedächtnisleistung Karajans. Als er in Berlin »Tristan« und die »Meistersinger« ohne Vorlage der beiden Riesenpartituren dirigiert hatte, gab es in der Tat einigen Grund, vom »Wunder Karajan« zu sprechen und zu schreiben.
Diese Gedächtniskraft mag Karajans Gewohnheit rechtfertigen, mit geschlossenen Augen zu dirigieren. Aber gründlichste Partiturkenntnis ist für jeden Dirigenten Voraussetzung nach dem Wort: »Der Kapellmeister soll die Partitur im Kopf und nicht den Kopf in der Partitur haben.«
*) Neuerdings geht er gelegentlich auch mit geschlossenen Augen vom Podium, was einen alten Wiener Musikvereins-Saaldiener zu der Meldung an seinen Vorgesetzten veranlaßte: »Herr Direktor, wir werden für Herrn von Karajan bald an'' Blindenhund engagieren müss''n.« Auswendigdirigieren ist allerdings ebensowenig wie das sogenannte »absolute Gehör« ein unbezweifelbarer Beweis für musikalisches Genie, wenn auch eine große Hilfe beim Handwerk: der Dirigent kann sich ganz dem Kontakt mit dem Orchester widmen. Aber Karajan verzichtet scheinbar auf diesen Gewinn, wenn er mit geschlossenen Augen dirigiert und sich so der unmittelbarsten und zugleich »magischsten« Art der Verständigung mit den Musikern begibt.
Auch darin wird der Unterschied zu Furtwängler und den Vertretern seines Typs deutlich. Furtwängler schaffte, wie er einmal selbst sagte, »ein Liebesband zwischen Dirigent und Zuhörer«. Bei Karajan ist ein hypnotisierendes Element im Spiel. Das bedingt die ganz anderen Mittel.
Bei ihm tritt an die Stelle des gleichsam »magischen Auges«, mit dem andere Dirigenten gern als Regler operieren, die lebhafte Mimik der die Musik mitvollziehenden Gesichtszüge, die Gestik der dem Klang-Erlebnis hingegebenen Gestalt: »... malte mit ästhetisch schönen Händen ästhetisch schöne Figuren in die Luft«, hieß es im Westberliner Boulevardblatt »Der Abend« nach einem Karajan-Konzert.
Der Stromkreis zwischen Dirigent und Orchester, aber auch zum Publikum, wird vorwiegend, so muß es scheinen, durch das visuelle Erlebnis der Musiker wie der Hör-Zuschauer geschlossen. Das Podium wird zur Bühne, manchmal nicht nur im übertragenen Sinne: Es ist kein Zufall, daß Karajan konzertante, also nichtszenische Konzertsaal-Aufführungen großer Opern wie »Fidelio« liebt (woraufhin man unter Anspielung auf Karajans oft theatralische Art der Interpretation anzüglich witzelte, demnächst werde er Beethovens Neunte einmal »konzertant« aufführen).
Tatsächlich ist in einer Zeit, die Musik als Genußmittel konsumiert, auch im Konzertsaal das optische Element mitentscheidend für den Erfolg. Das vom Film her auf den Effekt eingestellte Auge aus dem Konzerthausparkett sieht im Taktschlagen »schwarze Magie«, das große Tam-tam eines Medizinmannes der Musik. Der Dirigentenkult fördert den Mythos
vom Übermenschen auf dem Dirigier-Podest.
»Zur Entwicklung des Mythos gehörte vor allem eine wichtige Äußerlichkeit: daß der Dirigent dem Publikum zuerst einmal den Rücken zukehrt!«, bemerkt Kurt Blaukopf in seinem Buch über »Große Dirigenten"*). »Diese Wendung verstand sich durchaus nicht von selbst. Noch zu Mendelssohns Zeiten empfand man es zumeist als unschicklich, wenn der Dirigent sich vom Publikum abwandte.
»Der Dirigentenkult unserer Zeit hält sich an andere Regeln. Wir sehen den Orchesterchef nicht mehr im Profil und nicht mehr en face. Er hat sich vom zahlenden Publikum abgewendet und blickt direkt ins jenseitige Reich der Kunst. In Wirklichkeit sind seine Augen zwar auf die Musiker gerichtet, die er lenkt, aber das Gefühl des Publikums drängt zu seiner Illusion. Wenn dann gar noch einer auftritt, der so sehr ''auswendig'' dirigiert, daß er die Augen schließt, um sich ganz in die Musik zu versenken - dann hat die Illusion neue Nahrung und scheinbare Bestätigung.«
Zu diesem Thema hat sich Furtwängler einmal geäußert: »... Es gibt ... eine Art für den Dirigenten, dem Publikum entgegenzukommen, der Phrase, dem Schein zu dienen das Sichbeugen unter einen von außen, aus Modebegriffen herstammenden, inhaltslosen ''Schönheits-Kodex'' ... Der eine (Dirigent) geht mit festen Schritten, jeder Zoll ein Herrscher, aufs Podium und beginnt, ehe man noch Notiz davon genommen hat, daß er überhaupt da ist.
»Der andere bleibt in Versenkung minutenlang regungslos stehen, ehe er den Taktstock hebt - und dies womöglich nicht nur vor, sondern auch nach den Darbietungen. Der Psychologe, der dies durchschaut, zieht seine Schlüsse auf ''den, der es nötig hat'', das arglose Publikum fällt darauf herein!«
Die Bemerkung war sicherlich gezielt. Doch das illusions-fördernde Blinddirigieren
*) Kurt Blaukopf, »Große Dirigenten«. Verlag Arthur Niggli und Willy Verkauf. Teufen/St. Gallen. 202 Seiten. 10,80 Mark. Herbert von Karajans ist nicht die größte Attraktion auf diesem Gebiet. In Amerika hat der wegen seiner Extravaganzen berüchtigte Dirigent Leopold Stokowski Konzerte mit Buntlicht geboten, so wie er den Film »A hundred Man and A Girl« mit romantischer Musik und später Walt Disneys Farbfilm »Fantasia« mit Werken großer Meister bespielt hat.
Zu diesen Verirrungen des wohl bekanntesten amerikanischen Dirigenten läßt sich eine peinliche Parallele ziehen. Es gibt einen Film »Matthäus-Passion«, in dem zu Bachs Musik Kunstwerke großer Meister im Bild gezeigt werden. Der Musiker, der ein Werk des Thomaskantors als Filmmusik korrumpierte, heißt Herbert von Karajan.
Es ist nicht die einzige Parallele Karajans mit dem skurrilen Stokowski. Um des Effektes willen hat Stokowski Partituren retuschiert, zum Beispiel die Fagotte in Tschaikowskis gewiß nicht effektarmer Fünften Sinfonie einfach verdoppelt (wofür die Hörerschaft denn auch, wie berechnet, mit vehementem Beifall quittierte). Karajan begnügte sich mit einer zweiten Harfe in Smetanas Tondichtung »Mein Vaterland«.
Auffällig ist, daß beide ein Faible für die klangfarbenreiche, voluminöse Orgel haben. Stokowski kommt von der Organistenbank her, Karajan strebt angeblich zu ihr hin, wenn er sagt: »Die Orgel ist das Instrument, auf das man später zurückkommt - wenn man älter wird.« Er hat sich in Dornbirn eigens für seine Zwecke eine siebenmanualige Orgel bauen lassen.
Stokowski hat Orgelwerke von Bach für Orchester bearbeitet, was als Barberei gilt. Karajan schwärmt für die Orgelbearbeitung der im Original nicht instrumentierten Bachschen »Kunst der Fuge«, die sein Bruder für vier Orgelpositive eingerichtet hat und in dieser Form gelegentlich mit drei anderen Organisten aufführt - worüber sich ernsthaft diskutieren läßt.
Bei alldem sind Stokowski und Karajan unbestritten große Dirigenten, bei denen
nur die für jeden Orchesterleiter notwendige theatralische Komponente offensichtlich stärker ausgebildet ist als in anderen Fällen. Furtwängler zum Beispiel war »naturalistisch« bis in die Bewegung hinein. Als er sich einmal auf der Leinwand in Aktion sah, erschrak er selbst: »Das soll ich sein? ... Na, ich weiß nicht, ''ich'' bin nicht mein Typ ...!«
Denn auch er wußte: »Die Pose galt, speziell beim Dirigenten, schon immer nicht nur als erwünscht, sondern geradezu als ein unumgängliches Inventarstück seines Handwerks.« In dieser Hinsicht erweisen sich die dirigierenden Ästheten Stokowski und Karajan als Meister. Beide erzielen mit ihren - wie oft kolportiert wird: vor dem Spiegel einstudierten - Gesten maximalen Klangeffekt: der eine, wenn er ohne Taktstock nur mit den Händen den Ton gleichsam knetet und formt (wie Stokowski verzichten unter anderen auch Hermann Scherchen, Eugen Szenkar und Eugen Ormandy auf den Taktstock), der andere, Karajan, mit den wie aus völliger Versenkung heraus gesteuerten weich schwingenden und kreisenden Armbewegungen, die eine Melodielinie leise nachziehen, einen Bläserton aufblühen, einen Akkord ins Schweigen zurücksinken lassen.
»Der energiegeladene, durch jugendlichen Elan mitreißende, durch Klangsinn und Geste blendende Dirigiervirtuose von einst ist heute ein Musiker, der mit sparsamen Bewegungen, fast abwartend, den Klang aus dem Orchester hervorlockt«, stellte Werner Oehlmann im »Tagesspiegel« nach dem Abschiedskonzert der Berliner Philharmoniker vor der Amerika-Reise fest, den Karajan von heute mit dem der »Wunderkritik« vergleichend. In Berlin wird der Zuwachs an wienerischer Weichheit, den die einst als »eiskalte Magie« geltende Kunst Karajans inzwischen gewonnen hat, besonders stark empfunden. »Wie er sich auch entwickelt haben mag, ein Signum für seine Persönlichkeit ist noch nicht gefunden. Noch heute, fast zwei Jahrzehnte später, bleibt uns nur die Formel: ''Das Rätsel Karajan''.«
Dieses Rätsel scheint sich immer nur für kurze Augenblicke lösen zu lassen. Ein solcher Augenblick war da, wie der Berliner Musikkritiker bemerkt, als Karajan »das Tristanvorspiel begann. Wir wissen aus der alten Staatsoper, aus Bayreuth, wie das vor sich geht: wie die Violoncelli fast unhörbar einsetzen, wie die Achtelnoten des Themas unendlich gedehnt werden, wie die Holzbläser weich, hauchend, ohne hörbaren Ansatz dazukommen und wie das Ganze wie ein todesseliger Seufzer verschwebt ...«
Dies nannte Oehlmann »einen Augenblick, in dem Karajan sich ganz enthüllte, und zwar, vielen charakterisierenden Prognosen zum Trotz, sich geradezu als abgründigen Romantiker enthüllte«. Er kann im nächsten Augenblick ein ganz anderer sein, ein kühl berechnender Stratege, der stets die Extreme ansteuert, das lärmendste Fortissimo, das leiseste Pianissimo liebt.
Typisch ist seine Vorliebe für den immer intensiven Klang, seine ständige Forderung nach dem kraftvoll angesetzten und ungemindert stark durchgezogenen Strich der Geigenbögen. Wenn die Wiener Symphoniker unter einem schwächeren Dirigenten spielen, witzeln sie wohl untereinander: »Spiel'' ma mit Karajan-Strich oder mit gewöhnlichem Strich?«
Der anscheinend so selbstvergessene »abgründige Romantiker« ist andererseits ein geschickter Regisseur, nicht nur seiner
selbst. Als einer der vier künstlerischen Direktoren der Mailänder Scala hat er die Möglichkeit, die von ihm geleiteten Aufführungen nicht nur zu dirigieren, sondern auch zu inszenieren, und er macht von dieser Möglichkeit gern Gebrauch. Sein Sinn für Wirkung läßt ihn auch auf diesem Nebengebiet nicht ganz ohne Erfolg
Das Rätsel Karajan aber reicht bis ins Privatleben hinein. Der Sachwalter der Musik, dieser immateriellsten aller Künste, ist privat das, was man einen Motornarren nennt. Er fährt grundsätzlich nur überschnelle Wagen und hat vor einigen Jahren in der Schweiz sein Pilotenexamen gemacht.
Als er vor Wochen nach Mailand kam, empfing ihn Victor de Sabata, der große italienische Dirigent und Mit-Direktor der Scala, mit der Frage: »Kommen Sie noch per Flugzeug oder schon mit dem Unterseeboot?« Karajans Fähigkeit, sich in Szene zu setzen, hat seine Landsleute veranlaßt, ihn mit dem gleichfalls österreichischen Unterwasserforscher Hans Hass in Beziehung zu bringen. Der Wiener Journalist Hans Weigel nannte den Hass einen »Tiefsee-Karajan«.
Die Vorliebe Karajans für hohe Geschwindigkeiten ist nicht völlig ungewöhnlich. Auffallend viele musikalische Künstler sind leidenschaftliche Autofahrer. Aber die Vielseitigkeit Karajans auf außermusikalischem Gebiet ist doch unerreicht. Er ist nicht nur ein geübter Bergsteiger, er ist auch ein hervorragender Skiläufer und gilt im Vorarlberger Skiparadies - wo er in St. Anton eine Wohnung hat; außerdem bewohnt er den Erlenhof in Engelberg bei Luzern - als hervorragender »Herrenfahrer«. Sein alter Skilehrer Toni Marth, mit dem er alljährlich hart trainiert, sagt von ihm: »Ich habe noch nie einen so ehrgeizigen und so sehr um einen ausgefeilten, ästhetisch vollendeten Laufstil bemühten Schüler gehabt.« Zwischen den Mailänder Verpflichtungen und der Berliner Probenarbeit legte Karajan auch in diesem Winter ein paar Skitage in Schruns ein.
Seine Leidenschaft für Temposchwünge und Schußfahrten brachte ihm einmal eine
Beinverletzung ein. Damals dirigierte er mehrmals sitzend, kam auf Krücken in den Saal gehumpelt. Dann wurde eines Tages vor einem Konzert, als der volle Saal bereits des sportlich Blessierten harrte, vor aller Augen der Krankenstuhl weggeräumt, und Karajan erschien frei von allen Beschwerden strahlend wie ein Held vor den Seinen, die diesem anderen »Wunder Karajan« entsprechend akklamierten.
Sein technisch-sportliches Interesse wirkt wiederum auf seine Arbeit zurück. In Bayreuth tüftelte er in vielen Versuchen eine ganz neue Sitzordnung für das Orchester aus, um die günstigen akustischen Gegebenheiten des Festspielhauses optimal auszunutzen.
Dieser ehrgeizige Wille zur Höchstleistung verbindet den »kalten Magier« und »abgründigen Romantiker« mit dem ganz auf Werktreue eingestellten, unauffälligeren Dirigenten-Typ, der nach dem Abtreten der großen Alten wie Toscanini und Furtwängler, mit dem eine ganze Kunst-Epoche endete, für die Zukunft des Musikbetriebes bestimmend zu werden scheint.
Für sie ist das Wort Erich Kleibers, des alten und neuen Berliner Staatsopernchefs, verbindlich: »Wenn man die Noten so spielt, wie sie geschrieben sind, dann kommt auch das zum Klingen, was zwischen den Zeilen steht.« Hier wird bewußt das »magische Plus« großer Musik nur noch in ihr selbst gesucht. Dirigieren, das Spiel auf der »Menschenorgel«, wird zum »Realisieren« der Partitur, die des Interpreten alten Stils entraten kann. Hervorragende Vertreter dieser Richtung sind heute Hans Rosbaud und Hermann Scherchen.
Daneben wirken in Deutschland noch die Nachfahren der Furtwängler-Tradition, wie - in ganz verschiedener Ausprägung des Grundtyps - Eugen Jochum oder Joseph Keilberth. Zwischen den Extremen aber steht eine Gruppe jüngerer Dirigenten, die jene analytische Fähigkeit des »Realisators« mit dem musikalischen Temperament ihrer Herkunft verbinden, wie Ferenc Fricsay und Georg Solti. Beide stammen aus Ungarn, das Solisten und Dirigenten in auffallender Zahl hervorgebracht hat.
Keiner von ihnen wurde nach Furtwänglers Tod in die engere Nachfolger-Wahl gezogen. Kronprinz wurde mit Herbert von Karajan dem Typ nach ein krasser Außenseiter, der unberechenbar und durchaus kein Routinier ist, der sich schwer einordnen läßt und allenfalls in dem Grandseigneur Arthur Nikisch ein Vorbild hat. Mit dem »ungarischen Naturmusiker« Nikisch verbindet ihn die weltmännische Noblesse, der Begriff »Herr«, den der Ritter von Karajan, der Nachfahre der k. u. k.-Aristokratie, bis zur »negativen Pose« etwa seiner unauffällig korrekten Kleidung oder seiner Publicity-wirksamen Öffentlichkeitsscheu (managender Sekretär: der ehemalige Schauspieler André Mattoni) kultiviert.
Wen der Dirigent Karajan als seine Vorbilder betrachtet, will er, wie in seinen Jahren jetzt schon üblich, einem Buch anvertrauen, das er demnächst zu schreiben gedenkt. Ein Abschnitt dieses Buches wird Wilhelm Furtwängler gewidmet sein, dem er derart im Wort und ansonsten in der künstlerischen Tat - ritterlich wie eh und je, wann immer er in Beziehung zu Furtwängler trat - ein ehrendes Denkmal zu setzen verspricht. Seit vierzehn Jahren sei er, wenn er es zeitlich habe schaffen können, zu jedem Furtwängler-Konzert gefahren, und er habe dessen »magische
Übergänge« immer verehrt. So spricht sonst ein Schüler von seinem Meister.
Karajan legte dieses überraschende Bekenntnis noch vor der Amerika-Reise in aller Öffentlichkeit ab, in einer Pressekonferenz, die zur filmreif gestellten Karajan-Szene gedieh. Schauplatz: das Foyer des Konzertsaals der Berliner Musikhochschule. Hauptakteure: Karajan, lässig an einen braunen Konzertflügel gelehnt, vor sich das Rias-Mikrophon und Westberlins Kultursenator Tiburtius. Statisten: die geladenen Presseleute, im Halbkreis um die beiden postiert.
Das einseitige Interview hatte seinen Höhepunkt in der an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt reichlich rhetorisch wirkenden, zeremoniell formulierten Frage des Kultursenators an Karajan: »Sind Sie bereit, die Philharmoniker im Geiste Furtwänglers zu leiten?« Die vorweggenommene Krönungsszene fand ihren würdigen Abschluß in Karajans Antwort, die auf das gegebene Stichwort hin so rasant angesetzt und so rund ausgeführt wurde wie ein eleganter Temposchwung: »Mit tausend Freuden!«
Damit war allerdings über die Furtwängler-Nachfolge noch nicht offiziell entschieden. Es fehlte noch die Berufung durch den Senat und die Zustimmung des Orchesters, das traditionsgemäß ein Mitspracherecht bei der Verpflichtung seines ständigen Leiters hat. Die Wahl durch die Musiker wurde während der Amerika-Tournee improvisiert. Einstimmig sprach sich die Orchestergemeinschaft für Karajan aus.
Das Abstimmungs-Ergebnis hatte zu einer Zeit, als Karajan in Amerika überraschend starken Angriffen wegen seiner angeblichen politischen Vergangenheit ausgesetzt war, das Gewicht einer Sympathie-Erklärung,
einer öffentlichen Demonstration. Ähnlich emotionelle Gründe hatte auch der heftige Applaus, der beim ersten Konzert der Philharmoniker in New York schon einsetzte, als die ersten Musiker auf dem Podium erschienen. Howard Taubman, der Toscanini-Biograph und Musikkritiker der »New York Times«, schrieb, allein nach der Stärke des Beifalls zu schließen, müßten die Berliner Philharmoniker als das beste Orchester der Welt gelten.
Aber der Experte Taubman erklärte sich nicht einverstanden mit der gefühlsmäßigen Reaktion des Publikums. Er billigte den Philharmonikern den Rang eines europäischen Spitzenorchesters zu, das aber den Vergleich mit den Wiener Philharmonikern oder dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchester oder mit den besten Klangkörpern der USA nicht ganz aushalte.
Deutlicher noch wurde der Kritiker der »New York Herald Tribune«, Paul Henry Lang. Er stellte Schwächen der Bläser fest, und eben das ist ein altes Leiden der europäischen Orchester, das die Amerikaner, allein schon wegen ihres unerschöpflichen Reservoirs an enorm trainierten Jazz-Bläsern, gar nicht kennen. Bedenklicher noch erschien Langs Kritik an den Streichern, die er zu glanzlos fand. ("Aber in all diesen Dingen sind wir natürlich verwöhnt durch den unvergleichlichen Rang unserer großen Orchester.")
Taubman erkannte als Stärke der Berliner Philharmoniker »ihre Solidität und Tradition« an, was nur bedingt ein Lob bedeutet. Er traf sich darin mit der Berliner Kritik, die - wie der »Tagesspiegel« - den Philharmonikern vor ihrer Amerika-Reise vorausgesagt hatte: »Als Orchester der Stadt Berlin dürfen sie auf das Interesse des amerikanischen Publikums zählen, und sicher wird der lebendige Geist ihrer Tradition ihnen auch den absoluten künstlerischen Erfolg verschaffen.«
Auch diese Worte schlossen Bedenken ein. »Was wir heute als Kultur und Tradition des Philharmonischen Orchesters bewundern und was vielleicht noch generationenlang dauern wird, ist noch immer der Nachhall jener ''heroischen'' Zeit des Aufstiegs«, als sich die aus der Kapelle des Musikunternehmers Bilse ausgetretenen Musiker »den besten und unbequemsten Mann, Hans von Bülow, zum Leiter holten, um ein damals noch neues Ideal der orchestralen Perfektion zu verwirklichen.«
Spätestens unter Furtwängler ist aus diesem frühen »Perfektionsorchester« dann das repräsentative »Musizierorchester« geworden, das von der starken Persönlichkeit seines Dirigenten geformt und zu bedeutender Leistungshöhe geführt wurde. »Wie steht es aber ohne seinen souveränen Impuls?« fragte Werner Oehlmann im »Tagesspiegel«. »Ist ... der von vornherein ausgesprochene Verzicht auf das
Ideal der ''Perfektion'', die man auf gut deutsch als vollendet gute und richtige Wiedergabe bezeichnen darf, nicht eine gefährliche Bescheidung? Wird die Unterscheidung von Perfektions- und Musizierorchester nicht einfach zur Umschreibung des Verhältnisses von gutem und weniger gutem Orchester?«
Die Antwort liegt in der Lösung der Dirigentenfrage. Dabei ergab sich, daß die späten Nachfahren jener ersten Philharmoniker, die sich einst den »unbequemen« Hans von Bülow holten, dem als rücksichtslos scharfen »Trainer« bekannten Celibidache den Laufpaß gaben.
Statt dessen stimmten sie für den nach eingehender Proben-Prüfung trotz aller Anforderungen sozusagen als »umgänglich« befundenen Herbert von Karajan. Das bedeutete keineswegs die Entscheidung für den künstlerisch schwächeren, wohl aber für den stärker anderweitig engagierten Mann. Denn Karajan, der auch als Philharmoniker-Chef seine festen Wiener, Mailänder und Londoner Verpflichtungen nicht zu lösen gedenkt, wird nicht eigentlich ein »ständiger« Leiter sein. Er wird, wie er sagte, nur etwa sechs Konzerte im Jahr mit zwei bis drei Wiederholungen dirigieren.
In der immer nur periodischen Kontaktnahme liegt bei der Eigenart Karajans gleichwohl eine Chance, auf die wiederum Werner Oehlmann hinwies: »Das Schillernde, Unberechenbare gehörte von jeher zu seinem künstlerischen Charakter, und man hat ihm das zuweilen zum Vorwurf gemacht Hier könnte der Geist des Philharmonischen Orchesters, der Geist der musikalischen Gründlichkeit und Solidität, ihm Kräfte zuführen, die ihn weiter tragen; im lebendigen Austausch gerade mit diesem Orchester könnte Karajan noch eine Entwicklung erleben, an deren Ende die gefestigte Größe der Persönlichkeit steht.«
Das Zeitalter der Interpreten Machtanspruch der Kapellmeister Motornarr und Skiläufer Filmreife Pressekonferenz