FRANKREICH / DE GAULLE Das Meer gepflügt
Das Glück verschloß sich, und grausam wollte Frankreich sein Urteil gegen jenen Herrscher vollstrecken, der immer behauptet hatte, selbst dieses Frankreich zu sein: gegen den Brigadegeneral Charles André Joseph Marie de Gaulle, 77.
Der aber ließ sich nicht exekutieren. Er ging wieder in die Résistance.
Am letzten Mittwoch um 11.44 Uhr hatte sich das große »Grille de Coq« (Hahnentor) an der Gartenfront des Elysée-Palastes geöffnet, das für den Alltagsgebrauch stets geschlossen ist. Der erste und wahrscheinlich letzte Präsident der Fünften Republik hatte es vor zehn Jahren passiert: am 29. Mai 1958, als er -- im Strudel des Algerienkrieges -- zum Retter des Vaterlandes aufstieg.
Jetzt, auf den Tag ein Dezennium später, zog der erlauchte Mieter durch dasselbe Tor über die Avenue de Marigny und die Champs-Elysées wieder aus -- und narrte seine Gegner: Die vermeintliche Flucht war die Mobilmachung.
In schneller Fahrt, begleitet von zwei Leibwächter-Wagen, erreichten Charles und Yvonne de Gaulle den Pariser Heliport im Vorort Issy-les-Moulineaux. Ein »Alouette«-Hubschrauber flog das Paar in östliche Richtung -über den Rhein. In Baden-Baden traf der General den Algerien-Haudegen und jetzigen Kommandeur der französischen Streitkräfte in der Bundesrepublik, Jacques Massu. Dann reiste er nach Colombey-les-Deux-Eglises weiter.
Dort, an der Grenze von Champagne, Burgund und Lothringen, in der Nähe historischer Schlachtorte wie der Katalaunischen Felder, wo der Horizont »uns zu uns selbst führt« (de Gaulle), fern vom brodelnden Paris, ging der Pater patriae mit sich zu Rate. Auf seinem Schreibtisch grüßte ihn -- deutsch -- der vertraute Spruch: »Alles ist leer, alles ist gleich, alles war.« Also sprach Zarathustra.
Am nächsten Tag um 16.30 Uhr, wieder in Paris, sprach Charles de Gaulle. Er trat nicht zurück. Er kündigte das letzte Gefecht an -- notfalls mit dem Notstand: »Ich habe das Mandat des Volkes, ich werde es erfüllen.«
Es war klar: Der Gaullismus trat in seine Apotheose ein.
Siegesgewiß hatte der General verkündet: »Gegen de Gaulle revoltiert man nicht.« Das ganze Land revoltierte. Stolz hatte er sich zur Jungfrau von Orléans erhoben. Die aber rettete das Vaterland nicht nur. Sie wurde auch verbrannt.
Der Staatschef mit der langen Nase, als Rammbock, Seiltänzer, U-Boot oder Sonnenkönig tausendfache Witz-Variante der Karikaturisten, schlitzohrig und himmelstürmend, verträumt und berechnend, verklärte sich in Richtung auf den Scheiterhaufen von Rouen.
In vier Wochen hatte der König sein Reich verloren. Er mußte sich daranmachen, es zurückzuerobern. Der Staat explodiert, die Autorität zerstört, die Wirtschaft gelähmt -- wie die Müll- und Trümmerhaufen an den Rändern der Pariser Straßen präsentierte sich die schöne, stolze Fünfte Republik zum Abschiedsappell.
In atemberaubender Eskalation war der Studentenprotest in den Barrikadenaufstand, die Straßenschlacht in den Generalstreik und dieser in die schwerste Prüfung eines vermeintlich intakten, wenn auch exotischen Systems gemündet.
Als im Quartier Latin das Tränengas verwehte, Pioniere die Barrikadenreste planierten und Polizei-Präfekt Grimaud Bilanz machte (1045 verletzte Zivilisten, 1212 verletzte Polizisten), hatte Frankreich der Welt wieder einmal eine seiner großartigen Novitäten beschert: Der aufgeklärte Cäsarismus ist sowenig wie der liberale Parlamentsstaat oder die totalitäre Volksdemokratie in der Lage, die Industriegesellschaft dauerhaft zu organisieren. Der großdimensionierte Charles de Gaulle wurde mit den Studenten sowenig fertig wie der kleindimensionierte Klaus Schütz.
Sein Zepter hatten die Studenten zunächst gar nicht anvisiert, als sie für ihre ehrwürdige, angestaubte Sorbonne eine Hochschulreform verlangten.
Sein Zepter hatten die Arbeiter zunächst gar nicht anvisiert, als sie höhere Mindestlöhne, kürzere Arbeitszeiten und Mitbestimmung forderten.
In stolzer Gelassenheit zog de Gaulle deshalb während eines Staatsbesuchs in Rumänien fernab in der Walachei über Land, als am Boulevard Samt-Michel schon die Steine flogen und die Renault-Arbeiter die Tore schlossen.
Vorzeitige Rückkehr hätte eine Unruhe enthüllt, die einem Olympier nicht ansteht. Und dieser hat immer geglaubt, daß Politik zuvörderst eine Frage des Stils, Überzeugung eine Funktion der Umstände sei.
Nur: Mehr Schriftsteller als Soldat, mehr Gelehrter als Diplomat, tarnte er sich mit dem Feuerwerk seiner oft tiefsinnigen, oft banalen Visionen, Bonmots und Allerweltsweisheiten. Oberstes Prinzip: »Man muß seine eigenen Hintergedanken immer billigen. Larvatus prodeo (Ich bewege mich maskiert).« Das ist Charles de Gaulle.
Als er dann dennoch 14 Stunden vor der Zeit aus Rumänien heimflog, ließ er seinen Premier Pompidou zunächst weitere sechs Tage lang die Abnutzungsschlacht allein führen, um sich schließlich als Retter zu offerieren -- wie ein Schiedsrichter im Städtequiz zwischen Lille und Lyon, vergessend, daß es sein Lille und sein Lyon sind.
Der Trick des Telekraten, oft erfolgreich, war dieses Mal zu augenfällig. Erst jetzt, als sich das Regime in seinem höchsten Repräsentanten der Lage nicht gewachsen zeigte, als die vorgeblich starke Regierung vor den Lohnforderungen der Gewerkschaften kapitulierte, schoß die Flut weiter -- und gegen de Gaulle.
Am Montagabend demonstrierten 50 000 Menschen im Quartier Latin, etwa zur Hälfte Arbeiter, zur Hälfte Studenten, unter ihnen der frühere Regierungschef Mendès-France. Antigaullistische Parolen wurden laut.
Am Mittwochabend ließ die kommunistische Gewerkschaft CGT Hunderttausende von der Place de la Bastille quer durch Paris zum Gare Saint-Lazare marschieren. Auf ihren Transparenten verlangten sie noch höhere Löhne, aber sie skandierten schon oder sangen im Walzertakt: »De Gaulle au musée« und »De Gaulle adieu, de Gaulle adieu«.
Ihr Ruf hatte nichts Gewalttätiges, offenbarte keinerlei Haß -- als ob es um die Außerdienststellung eines einst liebenswerten, nun aber leider nicht mehr zeitgemäßen Oldtimers gehe.
Der gaullistische Zeitungszwerg »La Nation« (Auflage: 3000) wagte immer noch zu behaupten, nur de Gaulle bringe »das Heil« -- und erhielt eine Bombe in seine Redaktion an der Rue de Lille. Der gaullistische Riese »France-Soir« (Auflage: 1,6 Millionen) trauerte vorsichtig: »De Gaulle ist allein.«
Das freilich war er immer schon
und nicht ungern. Sein berühmter Spruch »Die Einsamkeit ist mein Schicksal« offenbart keine Klage, sondern die Erfahrung des Logen-Zuschauers, der ins Parterre blickt.
De Gaulles Tragik ist vielmehr, lebenslang ein Frankreich karessiert zu haben, das der Gegenliebe nicht oder nur teilweise fähig war -- jenes penetrant heroische, geschmacklos feierliche, unersättlich historisterende Frankreich der Kriegerdenkmäler und Frontkämpfer, mit »Son-et-lumière-Spielen« in seinen Schloßhöfen und dem Kulturchauvinismus seiner Lehrer.
Der Schriftsteller Jean-Francois Revel spottete über dieses Frankreich: »Zuerst unsere Schlachten, unsere Fahnen! Danach kommt gar nichts! Dann ein bißchen Pasteur, ein bißchen Cézanne, sehr wenig Montaigne, aber wirklich sehr, sehr wenig.«
Dieses Frankreich gibt es, doch es ist nicht das einzige. Es reicht bis an die Spitzen des Establishments und vereinigt sich dort mit einem Großbürgertum, das sein Vermögen seit Napoleon konserviert hat. Es führte dem Bonapartismus noch in der Dritten Republik seine Scharen zu und stützte zu Beginn des Jahrhunderts die machtvolle, antidemokratische »Action francaise« des bärtigen Charles Maurras.
Dieses Frankreich klammerte sich 1358 an die Rockschöße de Gaulles, des Mannes der Ordnung, damit er den Bürgerkrieg beende. Es war empfänglich für de Gaulles Geschmack an »großartigen Unternehmungen«. Der Gen ral fand sie in der Außenpolitik.
Der alte, feierliche Staatsfranzose jagte insgesamt siebenmal um den Erdkreis, um von Frankreichs Größe Zeugnis abzulegen. Er verketzerte die beiden Hegemonien« und baute sich eine -- freilich mehr deklamatorische als machtmäßige -- Position zwischen den Großen auf.
»Unser Platz in der Welt wird von Tag zu Tag bedeutender«, behauptete er immer wieder. Selbst Linksintellektuelle und Kommunisten jubelten ihm zu. Die ehrgeizige Force de frappe, nicht von der Fünften, sondern von der Vierten Republik erfunden, erntete im Ausland weit mehr Spott als daheim.
Daheim reiste er sämtliche 95 Departements ab und hämmerte seinen Landsleuten ein: »Frankreich wird mit jedem Tag mehr das Land des Jahrhunderts, das Land des Erfolges.« Den Erfolg freilich maß er simpel, mystisch -- in Gold.
»Nichts ist unveränderlicher als das Gold -- der ewige und universale Gradmesser par excellence«, schwärmte de Gaulle auf einer Pressekonferenz, handelte danach -- und zahlte drauf.
Die Notenbanken Schwedens und Norwegens beispielsweise legten ihre Zahlungsbilanz-Überschüsse in verzinsliche Schatzwechsel der amerikanischen Regierung an. Auf diese Weise verdoppelte sich ihr Devisenvorrat -- ohne eigenes Zutun -- in etwa 13 Jahren. Der General hingegen entschied sich für das Gold, die stupideste Geldanlage der Welt.
Unter Anleitung seines erzkonservativen Finanzberaters Jacques Rueff ließ er in den Tresoren der Bank von Frankreich Goldbarren auf Goldbarren stapeln -- insgesamt im Wert von 21 Milliarden Mark.
Sein Ziel: Der Welt ein reiches, stabiles, goldenes Frankreich vorzuzaubern und die Währung des wirklich reichen Amerika ins Wanken zu bringen. Die Welt fiel auf den Bluff herein.
Auf der Währungskonferenz von Stockholm am 29. März dieses Jahres konzedierten die Amerikaner der von Frankreichs Finanzminister Michel Debré bevormundeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Sperrminorität von 17 Prozent bei allen wichtigen Beschlüssen des Internationalen Währungsfonds.
Aber Frankreich zahlte einen hohen Preis für den Gold-Tick seines Staatschefs. Denn de Gaulle konnte sein goldenes Roulette nur spielen, wenn er auf eine expansive Wirtschaftspolitik im Innern verzichtete und damit Frankreichs Industrie, Handel und Kleingewerbe in einen archaischen Naturschutzpark sperrte.
Noch im Zeitalter der Computer und Kosmonauten handelten Frankreichs Regierungsbeamte nach den Prinzipien von Jean Baptiste Colbert, dem merkantilistischen Finanzminister des De-Gaulle-Vorbildes Ludwig XIV.
Wie Bilanz-Buchhalter achteten sie stets darauf, daß Frankreich möglichst mehr Waren exportierte als importierte und die Preise stabil blieben. Während Westdeutschlands Wirtschaftsminister Karl Schiller die Bundesrepublik mit geliehenen Milliarden-Beträgen wieder in Fahrt brachte, investierte Frankreichs Wirtschafts- und Finanzminister Michel Debré nur so viel Geld in französische Unternehmen, wie er zuvor den Steuerzahlern abgenommen hatte,
So pumpte die französische Regierung im vergangenen Jahr zwar rund 1,4 Milliarden Francs in Privatindustrie, Wohnungsbau, Fernmeldewesen und Autobahnen. Das Geld dafür zog sie aber den französischen Familienvätern aus der Tasche, indem sie die Preise für Elektrizität und Eisenbahntarife um etwa 40 Prozent, für Metro- und Busfahrkarten um etwa 60 Prozent erhöhte.
Die französische Planification, von Nationalökonomen aller Länder als größte wirtschaftspolitische Errungenschaft Frankreichs gepriesen und von de Gaulle den EWG-Partnern als Steuerungsmittel par excellence empfahlen, schadete den Franzosen mehr als sie nutzte.
Die staatlichen Investitionsgelder sollten nur in jene Unternehmen fließen. die mit ihnen den größten Profit erwirtschafteten. Statt dessen wurde die Schaltstelle unter dem gaullistischen Planungskommissar Masse zum Interessen-Basar der mächtigen Wirtschafts-Lobby.
Im Pariser Commissariat Général du Plan trafen sich alle fünf Jahre mehr als tausend Unternehmer, Handelsvertreter, Gewerkschaftler und Staatsfunktionäre, feilschten um Listenplätze und schusterten sich gegenseitig die billigen Regierungskredite zu. Am meisten profitierten dabei die Großen; die Kleinen gingen oft leer aus.
De Gaulles Wunsch, mit dem Plan die seit Jahrhunderten dahindämmernde Provinz ökonomisch zu entwickeln, erfüllte sich nicht.
Zwar baute die französische Regierung Industriezentren in Marseille, Toulouse, Lille, Rennes, Bordeaux und Straßburg aus. Doch bis in die weiten Ebenen Westfrankreichs und die trockenen, von mehr Schafen als Menschen bewohnten Landstriche des Südens flossen die Erträge des Wirtschaftsaufschwungs nicht.
Für dieses »arme Frankreich« tat sich ein Gegensatz zwischen den Leistungen des Regimes und seinen glitzernden Prätentionen auf. In manchen Gegenden des Zentralmassivs kommen noch 60 Frauen auf 1000 Männer. »Ganze Regionen sterben«, klagte »Le Nouvel Observateur«. Ein Arbeiter in der Bretagne hat monatlich 625 Francs in der Lohntüte, sein Kollege in Paris 1000 Francs.
Was immer de Gaulle auf seinen Provinzreisen sah, ob Bretagne-Dörfer ohne Strom oder Vendée-Weiler ohne Wasser, er strich gelassen heraus, wie weit man es doch gebracht habe. Unó eine Zeitlang überbrückte seine Faszination tatsächlich den Widerspruch zwischen Wort und Wirklichkeit.
Das »arme Frankreich« erhielt sich nicht nur im Süden: 22 Prozent aller französischen Arbeiter verdienen im Monat weniger als 500 Mark. Ein Heer von Kleinhändlern und Krämern, in einer archaischen Branchenstruktur gefesselt, hat kaum Aussicht auf bessere Tage.
In keiner Industrie-Nation ist das Einkommensgefälle zwischen Spitzenverdienern und Kleinstlohnempfängern so groß wie in Frankreich. Ein leitender Angestellter verdient sechsmal soviel wie ein ungelernter Arbeiter, sein westdeutscher Kollege dagegen nur das Doppelte.
Noch heute arbeiten 17 Prozent der erwerbstätigen Franzosen in der Landwirtschaft (Bundesrepublik: zehn Prozent) und nur 28 Prozent in der Industrie (Bundesrepublik 48 Prozent). Jeder zweite Franzose lebt in Dörfern und Kleinst-Städten unter 2000 Einwohnern.
Rund 80 Prozent aller Betriebe arbeiten mit zehn und weniger Beschäftigten. Von 236 000 Baufirmen beispielsweise bestehen 119 000 nur aus einem Mann, obgleich die französische Bauindustrie mit 1,5 Millionen Arbeitern eine der größten Industriebranchen des Landes ist.
Nur wenige -- zumeist staatliche -- Großunternehmen wurden gepäppelt: In die regierungseigene Eisenbahn SNCF, die Air France, die staatlichen Düngemittelfabriken und Kohlenzechen pumpte das Finanzministerium allein in den letzten fünf Jahren 30 Milliarden Francs Subventionen. Mehr als die Hälfte davon diente der Erhaltung des aufgeblähten Personalapparats.
Sofern Staatsbetriebe Gewinn auswiesen, lag er zumeist unter dem Profit vergleichbarer Privatunternehmen. So bei der staatlichen Autofabrik Renault, die im vorletzten Jahr nur 28 Millionen Francs Überschuß erwirtschaftete gegenüber 48 Millionen Francs bei der viel kleineren Automobilfirma Peugeot.
Acht Milliarden Mark jährlich verschlingt de Gaulles nukleares Statussymbol Force de frappe. Mit der staatlichen Geldschwemme finanzierten die Unternehmen zwar neue Industriebereiche -- wie für Computer und integrierte Schaltkreise -, aber sie mußten sich oft genug nur auf militärische Projekte beschränken und verloren dadurch den Anschluß an die Konsumwirtschaft. Frankreichs Elektro-Industrie beispielsweise arbeitet heute zur Hälfte für die Armee.
Die Franzosen produzierten zwar industrielle Spitzenerzeugnisse, aber sie verkauften sie schlecht. Denn Frankreichs Manager sind wohl die höchstbezahlten der Welt (Durchschnitts-Jahresverdienst 48 272 Mark gegenüber 47 872 Mark in den Vereinigten Staaten), taugen aber nicht soviel wie ihre amerikanischen Kollegen.
Der Export der technischen Wunderwagen von Renault beispielsweise erreichte im vergangenen Jahr nur 345 000 Stück im Vergleich zu 820 000 des Wolfsburger Quetschkäfers.
Zwischen Marseille und Perpignan baut Frankreichs Regierung die Mittelmeerküste zu einer zweiten Côte d'Azur aus. Der Plan jedoch, Villen und Hotels an Ausländer zu verkaufen, scheiterte. Bislang setzten die Landverkäufer nur etwa ein Viertel der bereits erschlossenen Grundstücke ab.
Die einzige Möglichkeit, in Frankreich moderne Management- und Verkaufsmethoden einzuführen, verpaßte Charles de Gaulle. Aus nationaler Eigenbrötelei und Großmannssucht ließ er Kapital und know how aus den USA kaum ins Land, wenn es um Frankreichs Prestige ging. Die Zeche dieser vaterländischen Taten zahlten vor allem jene Franzosen, die ohnehin im Schatten der Grandeur saßen,
Die Alten unter ihnen mochten gleichwohl der Vaterfigur de Gaulle vertrauen. Den Jungen aber sagten die napoleonische Legende und selbst die Taten des Résistance-Helden de Gaulle nichts mehr. Sie fanden auch kaum ästhetisches Vergnügen an de Gaulles Reden mit den vielerlei ironischen oder bitteren Wortschöpfungen.
Ein anderes Frankreich sammelte sich an, das der schwachsichtige Staatschef nicht mehr wahrnahm -- so sehr er die »großartige Jugend« umwarb, »die wir überall sehen«.
Die »großartige Jugend« leidet am meisten unter Arbeitslosigkeit und Wohnungselend. Sie verstand es nicht, daß sich de Gaulle landauf, landab brüstete, Frankreich sei nun endlich wieder »es selbst« und der »Herr seines Schicksals« geworden.
Auch die Kulthandlungen des Regimes, den formverliebten Landsleuten an sich ein Genuß. der Zauber der gaullistischen Gralsritter vom hauseigenen »Ordre de la Libération«, die Fernsehfeste und Akkoladen verfingen nicht mehr so wie früher.
Dieses neue Frankreich war nicht mehr mit de Gaulles mystischen Wortmalereien -- »Märchenprinzessin«, »Madonna an der Kirchenwand«, »Licht der Welt« -- zu erfassen. Es wollte menschlicher sein, verdienen und genießen. Schon bei Kriegsende aber hatte der General geklagt: »Die Menschen werden täglich menschlicher« -- ein wahrhaft unentschuldbares Sichgehenlassen.
De Gaulle sah zwar klar, daß in Frankreich kein Regime Bestand hat, das nicht steigende Wohnungsbau-Ziffern vorweisen kann: »Danach wird man uns richten.« Dann aber brach er zu neuen Unternehmungen in ferne Länder auf -- auch noch, als die erste Warnung kam.
Am 5. Dezember 1965 ließ die Nation ihren Führer wie einen gemeinen Politiker bei den Präsidentschaftswahlen durchfallen. De Gaulle mußte sich zur Stichwahl stellen gegen einen schillernden Parteipolitiker wie Francois Mitterrand, in seinen Augen ein häßliches Produkt der »combinaisons« des alten Parteienstaats, eine »sirène de la décadence«. De Gaulle siegte in der Stichwahl -- aber der Nimbus seiner Unbesiegbarkeit war dahin.
Eine Gruppe der ihm von der Resistance her besonders nahestehenden Linksgaullisten unter den Abgeordneten Capitant und Vallon drängte den General zu einschneidenden sozialen Reformen. Ihr »bete noire« wurde Premier Pompidou, ein dynamischer Grandseigneur und Bonvivant mit dem in Frankreich gefährlichen Makel, zur Hochfinanz zu gehören.
Capitant, Vorsitzender des Rechtsausschusses der Nationalversammlung: »De Gaulle ist von schlechten Beratern umgeben.« Und: »Pompidou, früherer Prokurist der Bank Rothschild, führt den Gaullismus auf den Weg der sozialen Reaktion.«
Bei den Parlamentswahlen im März 1967 eroberte sich Mitterrands vereinigte Linke 116, die KP 73 Mandate. Die Regierungsmehrheit schmolz damals auf eine Stimme. Sozialistenchef Mollet: »Der Anfang vom Ende.« »Le Monde": »Das Ende ist oft traurig.«
Meinungsforscher ermittelten, daß 44 Prozent der Franzosen an den Klassenkampf glauben und 40 Prozent gern die KP in der Regierung sehen würden. Wieder eilte Sozial-Gaullist Capitant in den Elysee-Palast und verlangte vom Chef: »Trennen Sie sich von Pompidou, mon General!« De Gaulle lehnte ab, verkündete aber, nunmehr werde die große soziale Offensive beginnen.
Mit einer Beteiligung an den Unternehmensgewinnen wollte der General den Arbeitern ihr Klassenbewußtsein und den Protest gegen seine merkantilistische Wirtschaftspolitik abkaufen.
»Dünn und lächerlich«, kommentierten Frankreichs Gewerkschaftsbosse die sozialpolitische »Großtat« (so Informationsminister Gorse). Denn nur etwa das Sechstel der Arbeiter und Angestellten, das in gewinnträchtigen Großbetrieben beschäftigt ist, konnte eine Profitbeteiligung erwarten.
Die Gewinnbeteiligung ist nach Höhe des Jahresgehalts gestaffelt. Nur gutverdienende Abteilungsleiter und Prokuristen kassieren nennenswerte Beträge.
Die Sozialreform blieb im Feuer des Patronat Francais, des Arbeitgeberverbandes, liegen. Sie scheiterte, weil die Linksgaullisten nur einen kleinen, als Sektierer verschrienen Splitter in der Fraktion darstellten und weil Pompidou auf die Gnade seines rechten Koalitionspartners Giscard d'Estaing angewiesen war. Beide wußten dem wirtschaftlich unbedarften General klarzumachen: Der Wirtschaftsaufstieg Frankreichs dürfe nicht durch .Soziatschwärmereien verspielt werden.
»Du social« (etwas Soziales) anzukünden wurde, je näher die Katastrophe kam, geradezu eine Manie des Systems. De Gaulle am 31. Dezember 1967 im Fernsehen: »Das Jahr 1968. ich begrüße es mit Genugtuung, weil es einen wichtigen Schritt zu einer neuen Sozialordnung bringen wird. Niemand glaubte es.
Denn eine neue Sozialordnung ist in Frankreich nur durch eine -- wahrscheinlich sehr blutige -- Revolution einzuführen. Das Land der 200 großen herrschenden Familien hat ein potentes und gut gedrilltes, nach unten strikt abgeschlossenes Establishment, das »Monsieur le Président-Direeteur G&. néral«, »Monsieur le Procureur de la République« und die Sonderkaste der hochqualifizierten »Inspecteurs des Finances« nicht kampflos öffnen oder gar räumen.
Das Jahr 1936 beweist es. Damals hatten streikende Arbeiter die Fabriken besetzt und eine neue Gesellschaftsordnung verlangt. Das Volksfronikabinett des Sozialisten Leon Blum gestand den französischen Arbeilern zu, was de Gaulle ihnen bislang verweigerte: die 40-Stunden-Woche und eine Lohnerhöhung bis zu 18 Prozent.
Doch Frankreichs Establishment sabotierte das sozialistische Experiment. Unternehmer und Spekulanten schafften Gold und Geld außer Landes. Die Industrie erhöhte die Preise ihrer Produkte innerhalb eines halben Jahres um 18 Prozent und machte damit die Lohnerhöhung zunichte
Im September 1936 mußte das Volksfrontkabinett den Franc abwerten, im Februar 1937 schließlich kapitulierte Blum endgültig vor den Unternehmern und machte die Reformen rückgängig.
Es scheint, als habe de Gaulle die Ausweglosigkeit seit langem gesehen: Er konnte (wenn er es gewollt hat) die Sozialordnung nicht ändern, ohne das Erreichte zu gefährden, aber er setzte das Erreichte aufs Spiel, wenn er nicht reformierte.
Ein angeborener Fatalismus ließ ihn den Weg zum Abgrund gelassen gehen. Schon vor Jahren visionierte er in einsamer Arroganz: »Eines Tages wird das Verhältnis zwischen Zweck und Mittel so gestört sein, daß alle Berechnungen des Genies vergeblich sind.«
1946, als er zum erstenmal abdankte, hatte er noch angenommen, das gute Volk von Paris werde ihn, durch die Geste aufgerüttelt, aus der Pension zu Marly-le-Roi befreien und im Triumphzug wieder in die Hauptstadt führen. Als das Volk von Paris nicht auftauchte, schickte de Gaulle einen Kundschafter aus: Die Polizei habe möglicherweise Barrikaden errichtet und so das Volk von ihm ferngehalten.
Der Kundschafter fand keine Polizei, keine Barrikaden, kein Volk.
Nach der Parlamentswahl von 1967 begriff er: »Die Franzosen sind Kälber. Napoleon sagte: »Sie verdienen nicht, was ich für sie getan habe."«
Im Kranz der ausrinnenden Staatsführer Johnson, Wilson und Kiesinger schien er vom Erfolg verwöhnt. Doch insgeheim vertraute er Besuchern seine Zweifel an: »Was kann ich noch tun? Ich habe versucht, Frankreich aus dem Sumpf zu ziehen. Es wird in seine Irrtümer und alten Sünden zurückfallen. Ich kann die Franzosen nicht daran hindern, französisch zu sein. Man kann seinem Schicksal nicht entgehen. Die Franzosen sind nicht zu regieren. Sollte ich das Meer gepflügt haben?«
Er hatte sich auch hier von seinem Frankreich »eine gewisse Idee« gemacht -- doch wieder eine falsche. Denn die Franzosen sind zu regieren. Der zentralistische Anstaltsstaat ist durch jahrhundertealte Gewöhnung so eingepflanzt, daß er die individualistischen oder anarchistischen Kapriolen seiner Insassen stets überdauert hat.
Die Große Revolution, die Europa verwandelte, endete für Frankreich in der napoleonischen Militärmonarchie, die Juli-Revolution von 1830 im wohlanständigen Bürgerkönigtum Louis-Philippes, die Februar-Revolution von 1848 bei Napoleon III., die Pariser Kommune von 1871 wurde durch die Regimenter des Bürgertums niederkartätscht. Nach dem Chaos der Vierten Republik -- während der Frankreich ausgezeichnet administriert wurde -- holten sich die Franzosen den neuen Caesar.
Er scheiterte nicht wie er selbst klagt -- im »Sumpf« oder weil »Selbstzerstörung in der Natur des französischen Volkes liegt«, sondern weil viele der Strukturen des napoleonischen Staates so festgefügt sind, daß sie offenbar nur gewaltsam geändert werden können.
Und er scheiterte auch, weil sein Beamtenstaat und seine hochgerüstete Polizei nicht mit jener Roten Garde fertig wurden, die im Quartier Latin protestierte.
Die erste Straßenschlacht am 3. Mai konnte noch im herkömmlichen Sinne als Zerstreuung einer Demonstration mit massiven Polizeimitteln gelten. In der Barrikadennacht vom 10. zum 11. Mai jedoch eskalierte das Vorgefecht zur Straßenschlacht. Die Polizei schlug härter zu, die Studenten hatten sich auf Tränengas eingestellt.
Aktionskomitees erteilten auf Flugblättern Unterricht im Selbstschutz: nasses Tuch vor Mund und Nase, eine Scheibe Zitrone in den Mund, Sulfonamid-Salbe um die Augen.
Ein Flugblatt empfahl: »Schützen Sie die Schultern und einen Teil des Nackens mit Zeitungen komfortablen Formats, Stil »France-Soir« oder »Figaro«. Öffnen Sie die Blätter in der Mitte. falten Sie sie dann quer zusammen und ein zweites Mal in Form eines weitgeöffneten V, um sie besser der Linie der Schultern anzupassen, stecken Sie die Enden oben in den Ärmel. Sie müssen die Knüppelstellen völlig abdecken, also eine Dicke von 25 Blättern bourgeoiser Presse haben.«
Sehr leichte Kleidung wird empfohlen, denn: »Eine Stadt wie Paris ist ein besseres Dickicht als ein Urwald. Laßt Euch nicht festnageln und nicht in Mausefallen locken. Jetzt, nach den Barrikaden, wirken die ersten Demonstrationsmethoden schon mittelalterlich.«
Dazu gibt es taktische Anweisungen beim Auseinandergehen, wenn massive Razzien drohen: In Gruppen von maximal 100 Mann zerstreuen, unbedingt sternförmig nach allen Richtungen. »Die letzten Ereignisse zeigen, daß die Ordnungskräfte fast ohnmächtig sind, wenn sie sich sehr mobilen Gruppen gegenübersehen, die sich über die ganze Stadt verteilen.
»Beim Zusammenprall mit der Polizei abschnittsweise als autonome Demonstrationsgruppe auftreten, um einen festen Punkt, und von diesem Punkt aus in einem Umkreis von 500 Metern agieren.
»Dadurch werden die Ordnungskräfte festgenagelt und verwundbar. Vor allem: Macht sie lächerlich, das ist besser, als sie zu beleidigen. Durch: Farbe, Honig, Scheiße, Stinkbomben. Bringt die Bevölkerung und Euch selbst zum Lachen. Agitiert, wo immer Ihr könnt, aber in einer sehr einfachen Sprache. Nennt Zahlen.«
Kein Zweifel: Das war der Guerilla-Krieg, zwei Kilometer Luftlinie vom Elysee-Palast entfernt. In China demonstrierten 17 Millionen Rote für die französischen Verwandten.
Und de Gaulles Laterna magica, die staatliche Funk- und Fernsehanstalt ORTF, verlöschte. Rebellische Redakteure, die sich früher schurigeln ließen, lieferten nun gegen den Willen der Regierung die Barrikadenschlacht in alle Haushalte.
Zum erstenmal in der Geschichte der Fünften Republik wurde eine Debatte in der Nationalversammlung unzensiert übertragen, und »zum erstenmal«, lobte der konservative »Figaro« »stellen sieh Radio und Fernsehen völlig in den Dienst der Nation«.
ORTF-Reporter warnten die Studenten-Kombattanten vor neuen Polizeiaufmärschen, vermittelten ärztliche Hilfe und gaben unverblümte Augenzeugenberichte von den Streik- und Kampfgasfronten.
Als die ORTF-Direktion eine Diskussion über de Gaulles ungeschickte Fernsehrede durch Unterhaltungsfilme ersetzen wollte, beschloß eine Generalversammlung mit 97 gegen 23 Stimmen den Generalstreik.
Seit dem 13. Mai halten die Studenten das Quartier Latin besetzt, und zwar als fast autonomes Gebiet in de Gaulles Hauptstadt, regiert von den Aktionskomitees der linksstudentischen Organisationen.
Die Sorbonne hat sogar vorgeschobene Posten: das »Théâtre de France« die Medizinische Fakultät an der Place de l'Odéon, die Rechtsfakultät in der Rue d'Assas, die Académie des Beaux-Arts in der Rue des Saint-Pères.
In diesem Viertel übte vorige Woche keine Behörde mehr Autorität aus. Kein Minister betrat das mit Ministerien übersäte Terrain.
Als ein Bäckermeister aus dem Quartier Latin Flugblätter an alle Pariser Bäcker verteilen wollte, holte er sich die Genehmigung dazu bei den Studenten- und Arbeiterräten in der Sorbonne. Frankreichs zweite Staatsautorität stempelte ab -- mit den akademischen Stempeln der siebenhundertjährigen Sorbonne.
Nirgends ernteten die Studenten soviel Ruhm wie in Paris. Ihr Vorbild war es, das schließlich Frankreichs mächtige KP (etwa 300 000 Mitglieder) mitsamt der Gewerkschaft CGT (rund zwei Millionen Mitglieder) in die Revolte zwang.
Die Genossen hatten anfänglich nur verblichenes Rot bekannt. Sie wollten endlich aus dem Getto und in die Regierung. Sie schirmten deshalb das Establishment gegen ultralinke Meuterer ab. CGT-Funktionäre sperrten den roten Scholaren die Fabriken -- oder verpfiffen sie gar.
In Lyon beispielsweise hatten Jung-Arbeiter ihre Universitäts-Genossen zu einer Diskussion im Werksgelände eingeladen. KP-Funktionäre fingen die Studenten ab -- und übergaben sie der gaullistischen Polizei.
Die Uralt-Revolutionäre haben sich zu Bürgern gemausert. Wie Charles de Gaulle läßt sich KP-Chef Waldeck Rochet, 63, der Französisch spricht wie Lübke Deutsch, in einer schwarzen Citroën-Limousine chauffieren.
Mit den anderen Gewerkschaften trotzten die Roten dem Premier Pompidou Lohnerhöhungen von insgesamt zehn Prozent ab. Stolz marschierte CGT-Generalsekretär Séguy damit in die Renault-Werke -- und wurde ausgepfiffen.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Forderung durch die Betriebe: Ablehnen! Antigaullistische Parolen tauchten auf. Erst jetzt machten KP und CGT Front gegen das Regime,
De Gaulles Getreue begannen schon auseinanderzulaufen. Ängstliche Gaullisten fragten bei Mendès-France an, ob er bereit sei, unter de Gaulle ein Kabinett zu bilden. Mendès: Ja, aber nicht nur, »um Chrysanthemen einzuweihen« ("inaugurer les chrysanthèmes"). Das Wort heißt eigentlich: »Wer hat je geglaubt, daß General de Gaulle, nach vorn gerufen, sich darauf beschränken würde, Chrysanthemen einzuweihen?« Charles de Gaulle sagte es 1964.
Mendès-France machte zur Bedingung: Wenn er Premier werde, müsse der Staatschef ihm jede Fernsehrede zur Genehmigung vorlegen. Die sondierenden Gaullisten verzichteten.
Und der General floh aus der kalten Pracht seiner Burg, ein aufgewühltes, wundes Paris hinter sich lassend, und reiste durch ein Frankreich, das nun eigentlich auch für ihn keine »Madonna an der Kirchenwand« mehr sein konnte.
Mit jedem Streik-Tag -- Kosten: zwei Milliarden Mark -- blättert die goldene Hülle des Franc weiter ab. Jede Woche, in der im Land de Gaulles die Räder stillstehen, wirft die Nation um ein halbes Jahr zurück.
Noch vor drei Wochen galt der Franc als eine der härtesten Währungen der Welt. Nun droht selbst ihm der Ruin. Vor der Abwertung rettete ihn zunächst nur eine eilends verordnete Devisenkontrolle und -- durch Franc-Aufkäufe -- die Zentralbank jenes Landes, dessen Währung Charles de Gaulle jahrelang attackiert hatte: das Federal Reserve Board der Vereinigten Staaten.
Damit ist der Franc heute wieder genauso weich wie unter der Vierten Republik. De Gaulle kam wieder dort an, wo er vor zehn Jahren gestartet war.
In Colombey-les-Deux-Eglises -- »Colombey-les-Deux-Exils« spotteten die Pariser -- kam er zunächst nicht an. Fast sechs Stunden blieb er überfällig. Während er sich heimlich mit General Massu in Baden-Baden traf, schwirrte Paris von Gerüchten.
Aber dann, ein Aufatmen, war er doch in Colombey. Die wie betäubten Gaullisten besannen sich: Am Donnerstagabend organisierten sie die erste große Gegendemonstration auf der Place de la Concorde. Hunderttausende skandierten »Mitterrand charlatan« und »Pompidou merci«.
Dazu rieselter Hunderttausende Flugblätter auf die Stadt herab. Sie riefen zum »Neubeginn in der Legalität« auf und versuchten, im französischen Kleinbürgertum eine traditionelle Angst zu wecken: die Angst vor Anarchie und Rotfront.
Der General im Elysée hörte den Lärm und beugte sich aus dem Fenster. Ein Adjutant: »Das gilt Ihnen, mon Général.« De Gaulle: »Ja, wenn es nur mich alleine gäbe ...«
Schon am Nachmittag, bei einer sechsminütigen Radio-Botschaft an sein Volk hatte der Generalstaatschef kämpferisch böse mit der Diktatur gedroht. Er löste die Nationalversammlung auf und beraumte Neuwahlen an. Er zog Panzer und Artillerie in die Nähe von Paris und bildete seine Regierung um; Außenminister Couve de Murville und Finanzminister Debré tauschten dabei ihre Plätze. Acht Minister schieden als Sündenböcke aus. Notfalls will de Gaulle die Präfekten zu »Kommissaren der Republik«, zu Vollstreckungsbeamten mit unbegrenzten Vollmachten ernennen. Das waren sie nur einmal gewesen -- in der Résistance.
Oppositionsführer Francois Mitterrand: »Das ist ein Aufruf zum Bürgerkrieg.«
Charles de Gaulle wird es anders verstanden haben -- so wie 1960 angesichts der algerischen Wirren. Damals rief er aus: »Wohlan denn, mein liebes und altes Land! So finden wir uns nun wieder angesichts einer schweren Prüfung.«