BONN / BUNDESHAUSHALT Das Milliarden-Roulette
Sechsundzwanzig Jahre lang war Dr. jur. Rolf Dahlgrün in Harburg an der Süderelbe dem gemessenen Tagewerk eines Prokuristen und Justitiars der Phoenix Gummiwerke AG nachgegangen. Dann überantwortete sich der 54jährige Bundestagsabgeordnete der FDP, in Bonn am Rhein, dem Chaos. Am 14. Dezember letzten Jahres leistete er den Eid als vierter Bundesfinanzminister und steckt seither im verworrensten Etat-Geraufe der an Wirrnissen reichen Bonner Finanzhistorie.
Nach gewohntem Mißbrauch ist der Haushalt für 1963 vom Parlament noch nicht verabschiedet, obwohl das Etatjahr schon läuft. Auch entspricht es Bonner Praxis, daß die Rechnung des abgelaufenen Jahres nicht aufging; Nachforderungen in Höhe von rund 1,4 MilliardenMark mußte der neue Finanzmann nachträglich im Haushalt 1962 unterbringen.
Ungewohnt ist hingegen, daß der Haushaltsausschuß des Bundestags derzeit über ein vorerst noch ungedecktes Zahlenwerk berät. Der von Dahlgrüns Vorgänger Dr. Heinz Starke auf die Rekordhöhe von 56,8 Milliarden Mark Ausgaben zugeschnittene Haushalt 1963 ließ sich nur mit Hilfe von zwei Milliarden Mark aus den Länderkassen ausgleichen, die bis heute nicht zugesagt sind.
Und selbst der Markstein von 56,8 Milliarden hat nur noch symbolische Bedeutung. Am 6. Februar informierte
Dahlgrün den Haushaltsausschuß über neue Verteidigungs-, Agrar- und Sozialforderungen, die eine Etat-Endsumme von etwa 58 Milliarden erwarten lassen.
Durch den Bonner Finanzwirrwarr schwirrten Gerüchte. SPD-Experte Heinrich Ritzel unkte, Dahlgrün werde einen ganz neuen Haushaltsentwurf ausarbeiten müssen. Die Deutsche Presse-Agentur (DPA) meldete, der Finanzminister werde noch in diesem Jahr die Einkommensteuer erhöhen.
Ehe er sich dem Finanzpuzzle überhaupt hatte widmen können, war der Mann aus Hamburg-Harburg schon gezwungen, die Kunst des Dementis zu üben. Heinrich Ritzels Alarmbotschaft tat er ab: Das Etatvolumen 1963 werde »nicht wesentlich verändert«. Zu der DPA-Meldung: »Berichte, wonach jetzt daran gedacht wird, die Steuern zu erhöhen, sind ausgemachter Quatsch.«
Was auch immer diese Dementis wert sein mochten, eines konnte der neue Minister nicht wegdementieren: jene »Wende in der finanzpolitischen Situation des Bundes«, die schon sein Vorgänger und Parteifreund Heinz Starke angezeigt hatte. Im vergangenen Jahr
- blieben die Steuereinnahmen des
Bundes erstmals, und zwar um 566 Millionen Mark, hinter den Vorausschätzungen zurück und
- konnten von den vorgesehenen 1,8 Milliarden Mark Bundesanleihen nur 1,05 Milliarden Mark aufgebracht werden.
Rolf Dahlgrün hat somit Aussicht, der erste mit einem Defizit belastete Bundesfinanzminister seit 1951 zu werden. Für 410 Millionen Mark der Ausgaben von 1962 wird sich vermutlich keine Deckung mehr finden lassen. Dahlgrün muß überdies damit rechnen, auch künftig nicht mehr die volle Deckung für steigende Bundesausgaben zu finden.
Dahlgrün-Vorgänger Heinz Starke, der in den Haushaltsausschuß des Bundestags übergewechselt ist, prophezeite: »Es wird nicht ganz einfach sein für meinen Nachfolger. Jetzt hängt es davon ab, ob es ihm gelingt, einen Dammbruch zu verhindern.«
Starke selbst hatte mit seinem Etat -Entwurf für 1963 versucht, den Dammbruch abzuwenden. Er wollte der in Bonn bislang geübten archaischen Methode, im Haushalt lediglich die erwarteten Einnahmen mit den geforderten Ausgaben notdürftig in Balance zu halten, ein neues Element hinufügen: Die 56,8 Milliarden Mark des Starke -Etats 1963 waren mit Rücksicht auf gesamtwirtschaftliche Daten festgesetzt worden.
Indem er weit höhere Forderungen
- insgesamt waren 62,6 Milliarden Mark angemeldet worden - abwehrte, wollte Starke der konjunkturpolitischen Parole Ludwig Erhards vom Maßhalten nachkommen. Die dennoch unvermeidliche Erhöhung hatte er analog der für 1963 erwarteten Steigerung des Sozialprodukts maßgeschneidert.
Trotz derart redlicher Bemühungen hatte der allzu leicht aufbrausende Freidemokrat in dem einen Jahr seiner Bonner Ministerschaft selbst jene Anhänger verloren, die bis dahin den Finanzministern immer als letzte Stütze verblieben waren: die Beamten seines eigenen Hauses. Selbstherrlich, mit einem Stab von drei persönlichen Referenten, dirigierte er die altgedienten Fiskalbürokraten und zwang sie häufig nachts und auch sonntags an ihre Schreibtische.
Seinen versierten Staatssekretär und Haushaltsspezialisten Professor Karl Maria Hettlage, seit 1958 im Amt, schob er kurzerhand als zu weich in die Luxemburger Montanbehörde ab.
Da der stets erregte Starke auch dem greisen Bundeskanzler unbehaglich war, benutzte Adenauer die jüngste Kabinettsumbildung, sich seiner zu entledigen. Auf die vakante Stelle berief er den bierruhigen Hannoveraner und Wahl-Hamburger Dr. Rolf Dahlgrün, dessen private Laufbahn sich im Studium der Rechte und im Dienst am Phoenix -Gummi erschöpft hatte.
Politisch wirkte Dahlgrün seit 1949 in den Reihen der Freien Demokraten, für die er von 1953 bis 1957 als Mitglied der Hamburger Bürgerschaft (Landesparlament) tätig war. Der hanseatische CDU-Chef Erik Blumenfeld, im Hamburg-Block Koalitionsgenosse Dahlgrüns, renommiert: »Der hat ja mal bei mir in der Politik angefangen.« 1957 wurde Dahlgrün für die FDP in den Bundestag gewählt und leitete dort seit 1962 den Wirtschaftsausschuß.
Bislang haben die politischen Pflichten ihn nur selten daran hindern können, seiner gutbürgerlichen Schwäche für Skatrunden in der Bonner »Rheinlust«, dem donnerstäglichen Kegelabend im Harburger »Waldschlößchen« und der Wochenendjagd im eigenen Heiderevier bei Tostedt zu frönen. Unterdes verkaufte Frau Käthe Dahlgrün Tischtennisschläger im ererbten Sportartikelgeschäft A. Leesche in Hannovers Großer Packhofstraße.
Eis zum Dezember letzten Jahres war die Bonner Politik nur zweimal spürbar in das Dahlgrün-Idyll eingedrungen. Bei der Regierungsbildung im Herbst 1961 hatte Phoenix-Generaldirektor Otto A. Friedrich seinen Justitiar ermuntert, für den Posten des Bundesfinanzministers zu kandidieren. Damals hatte ihm der zielstrebige Heinz Starke den Rang abgelaufen.
Als Berichterstatter des Fibag-Untersuchungsausschusses kam Dahlgrün im Sommer 1962 mit seiner eigenen Partei über Kreuz. Nachdem die FDP-Abgeordneten zusammen mit der SPD Dahlgrüns Bericht im Bundestag als unzulänglich abgelehnt hatten; mußte der Autor noch einmal zur Feder greifen. Er tat es bedächtig und unverdrossen.
Schließlich doch auf den Sessel des Bundesfinanzministers - gelangt, fand Dahlgrün ein Bündel von Merkzetteln vor, das ihm Heinz Starke zur besseren Orientierung hinterlassen hatte. Der Hilfe eines eingearbeiteten Staatssekretärs mußte er jedoch entraten, da Starke keinen Ersatz für den geschaßten Hettlage hatte finden können. Erst Wochen später gelang es Dahlgrün, sich der Dienste des Hamburger Oberfinanzpräsidenten Walter Grund, 56, zu versichern, der am Sonnabend vorletzter Woche in sein Amt eingeführt wurde. Grund ist freilich mit Haushaltsfragen wenig vertraut.
Dieser Umstand muß um so unglücklicher wirken, als es heute kaum noch Zweifel geben kann, daß Starkes Anlauf, System in den bundesdeutschen Finanz-Schlendrian zu bringen, erfolglos geblieben ist. Unbeschadet der verwandelten Finanzsituation wird sich auch der neue Haushalt von seinen Vorläufern nicht wesentlich unterscheiden.
Die »schreckliche Treppe«, wie der frühere christdemokratische Finanzminister Franz Etzel das praktisch unkontrollierte alljährliche Auswuchern der Bundesausgaben genannt hat, bleibt für den Bonner Fiskus vorerst Leitbild und Alpdruck.
Auf den Stufen dieser Treppe ist der westdeutsche Staatsetat seit 1951, dem ersten geregelten Haushaltsjahr des Bundes, bis zum Dahlgrün-Entwurf für 1963 bereits von 20,9 Milliarden auf rund 58 Milliarden Mark, also auf fast das Dreifache, geklettert (siehe Graphik Seite 19).
Mit der Steuerpumpe wurde der westdeutschen Volkswirtschaft mehr Geld entzogen als ihrem Wachstum entsprach. So stieg das Bruttosozialprodukt von 1951 bis 1962 um 185,1 Prozent, das gesamte bundesdeutsche Steueraufkommen hingegen um 218 Prozent. Die Steuer beanspruchte im vergangenen Jahr bereits 25 Prozent des Sozialprodukts, gegenüber 22,3 Prozent im Jahr 1951.
Nun ist freilich die Tatsache allein, daß der Bonner Fiskus Jahr für Jahr höhere Milliardenbeträge an sich reißt und die Bundesregierung sie auch ausgibt, noch kein Beweis für finanzielle Mißwirtschaft. Schon vor 70 Jahren konstatierte der Berliner Professor. Adolph Wagner ein »Gesetz der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen, insbesondere der Staatstätigkeiten«, dem ein modernes Gemeinwesen unterworfen sei; deshalb gebe es auch ein »Gesetz der wachsenden Ausdehnung des Finanzbedarfs«.
Wagners These ist längst zum Gemeinplatz geworden. In den drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg vervierfachte sich der Finanzbedarf des Deutschen Reiches einschließlich der Bundesstaaten, zwischen den beiden Kriegen wuchs er abermals auf das Sechsfache.
Dabei war der Staat, der dem heilsichtigen Professor seine Erkenntnisse vermittelte, jenem »Nachtwächterstaat« großbürgerlich-liberaler Prägung noch sehr ähnlich, den der deutsche Sozialist Ferdinand Lassalle um die Mitte des 19. Jahrhunderts verspottet hatte.
Die Tätigkeit der Regierung beschränkte sich vornehmlich auf die Erhaltung der inneren Ordnung und der äußeren Sicherheit. Der Staat war Polizist und Soldat, sein Finanzbedarf entsprechend gering. Von den Einnahmen verschlang der Wehrhaushalt bei weitem das meiste - in den ersten Jahren nach Bismarcks Reichsgründung waren es 90 Prozent, zwischen 1911 und 1913 immer noch 75 Prozent.
»Den Steuerzahlern war eine karg dotierte Obrigkeit gerade recht. Direkte Steuern von spürbarem Gewicht zahlten nur die wohlhabenden Bürger, und sie hatten ein Interesse daran, daß diese Last nicht wuchs. Da die Besitzenden zugleich, wie beispielsweise durch das von 1849 bis 1918 in Preußen geltende Dreiklassenwahlrecht, auch über die stärkste Vertretung im Parlament verfügten, konnten sie den Staat kurzhalten.
Dem Idealbild jener Zeit vom sparsamen Hausvater Staat und ihrem Kredo, daß ein ausgeglichener Haushalt Tugend, ein Defizit jedoch Todsünde bedeute, ist das Bonner Finanzgebaren heute noch kraft Gesetzes verpflichtet.
Es findet sich im Grundgesetz, dessen Artikel 110 bestimmt: »Der Haushaltsplan ... ist in Einnahme und Ausgabe auszugleichen.« Artikel 115 besagt: »Im Wege des Kredites dürfen Geldmittel nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken ... beschafft werden*.«
Die gleichen Prinzipien finden sich auch in der Reichshaushaltsordnung von 1922, die für die Bundesrepublik übernommen wurde. Kernsätze dieses 40 Jahre alten Leitfadens für deutsche Finanzminister lauten:
- »Die Haushaltsmittel sind wirtschaftlich und sparsam zu verwalten« (Paragraph 26).
- »Aus ordentlichen Mitteln ist allmählich eine Rücklage anzusammeln, die den regelmäßigen Bedarf an Betriebsmitteln deckt« (Paragraph 26).
- »Ein Überschuß der Einnahmen über die Ausgaben des ordentlichen Haushalts ist zur Verminderung des Anleihebedarfs oder zur Schuldentilgung zu verwenden« (Paragraph 75).
Die ehrwürdige Finanz-Ethik des Nachtwächterstaats gilt bis heute fort, während sich die westdeutsche Republik mehr schlecht als recht durch ihre Mammuthaushalte wurstelt.
Auch die Autoren des Grundgesetzes konnten nämlich Adolph Wagners Gesetze nicht ungültig machen. Von den beiden Weltkriegen kräftig gefördert, hatte sich die »wachsende Ausdehnung der Staatstätigkeiten« und damit die »wachsende Ausdehnung des Finanzbedarfs« explosiv vollzogen. Am Ende des Ersten Weltkriegs standen 145,5 Milliarden Reichsmark Staatsschulden zu Buch; Hitler brachte es sogar auf 379,8 Milliarden Mark Schulden.
Vor allem aber hatte sich mit dem allgemeinen, gleichen Stimmrecht und dem Auftreten von Massenparteien eine grundlegend andere Auffassung von den Pflichten des Staates durchgesetzt. Die von direkten Steuern auf Einkommen und Besitz verhältnismäßig wenig belasteten Staatsbürger verfügten jetzt über die Stimmenmehrheit.
So zahlten beispielsweise im vergangenen Jahr 6,8 Millionen westdeutsche Verdiener überhaupt keine Steuern auf ihr Einkommen. Umgekehrt erbrachten die Steuern einer kleinen Minderheit, die veranlagte Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer der Kapitalgesellschaften, im gleichen Jahr 21,7 Milliarden Mark oder 64 Prozent der Gesamteinnahmen aus den verschiedenen Arten der Einkommensteuer.
Folgerichtig wachten die Parlamente nicht länger scheeläugig über die Ausgaben der Regierung; sie bürdeten vielmehr im Namen der Wählermehrheit dem Staat immer neue kostspielige Pflichten auf. Dabei fanden sie Unterstützung durch ganze Armeen gelehrter Staats-, Finanz- und Wirtschaftstheoretiker.
Der von den deutschen Kathedersozialisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts vorgetragenen These, daß der öffentlichen Hand die Fürsorgepflicht für in Not geratene Lohnempfänger obliege, folgte ein ständig anschwellender Katalog neuer Tätigkeitsgebiete für die staatliche Haushaltspolitik.
Mit Hilfe der Staatsfinanzen sollten nun auch für wünschenswert gehaltene sozialpolitische Ziele erreicht werden, etwa die Umschichtung der Einkommensverhältnisse, die Förderung von Familien oder die Erhaltung des Mittelstands.
In den Lehren des englischen Nationalökonomen John Maynard Keynes gipfelten zu Beginn der dreißiger Jahre die Bemühungen der Wissenschaft, den Etat auch noch zum Instrument der Konjunkturpolitik zu schmieden.
Angesichts der Weltwirtschaftskrise stürzten sich alsbald zahlreiche Finanzpolitiker auf die Wunderwaffe von Keynes, der massierte Staatsausgaben ohne Rücksicht auf Defizite, das sogenannte Deficit-spending, als Allheilmittel gegen Konjunkturkrisen empfohlen hatte. Mit den Defizit-Ausgaben, so Keynes, könne und müsse der Staat die Vollbeschäftigung anstelle der Arbeitslosigkeit setzen.
In Deutschland war es Hitlers Finanzratgeber Hjalmar Schacht, der mittels Deficit-spending größten Stils die Wirtschaft »ankurbelte«. Dabei ging, längst ehe Hitlers abenteuerliche Rüstungsfinanzierung begann, die geregelte Etatpolitik über Bord. Seit 1935 wurde der Reichshaushalt überhaupt nicht mehr veröffentlicht.
Mit dem Sieg der Keynes-Theorie vom Segen staatlicher Wirtschaftspolitik zog noch ein weiterer aufwendiger Dauergast in die Etats ein: die Subvention. Was bis dahin nur gleichsam verschämt ausgeteilt worden war, wie etwa die staatliche »Osthilfe« der Weimarer Republik an überschuldete Großgrundbesitzer, das durfte sich jetzt als Mittel wohlerwogener Politik im Haushalt breitmachen. Der Bundeshaushalt 1962 enthielt bereits insgesamt 9,7 Milliarden Mark sichtbare und unsichtbare Subventionen an die Hauptwirtschaftszweige (siehe Graphik Seite 25).
Über die sozial- und wirtschaftspolitischen Engagements hinaus wuchsen dem Staat schließlich auch aus der fortschreitenden Technisierung immer kostspieligere Aufgaben zu. Besonders der Ausbau der Verkehrsverbindungen sowie der klassische Etat-Vielfraß - das Wehrressort - verschlangen ständig steigende Milliardensummen.
Im Bundeshaushalt des vergangenen Jahres machten denn auch der Sozial -
und der Wehretat, die Verkehrsausgaben und die größte direkte Einzelsubvention - der »Grüne Plan« zugunsten der Landwirtschaft - zusammen nicht weniger als 77,5 Prozent aller Aufwendungen aus.
Der Sog zum monströsen Haushalt wurde überdies gerade in der Bundesrepublik vollends unwiderstehlich, da
- der Substanzverlust durch den Krieg eine massive staatliche Hilfe zwingend machte und
- die goldene Steuerflut als Folge eines
fast ununterbrochenen, zehnjährigen Booms staatliche Großzügigkeit voll zu rechtfertigen schien.
Gerade weil jedoch diese finanzpolitische Generallinie von Anfang an vorgezeichnet war, hätte es um so dringender einer straffen Bonner Zügelführung bedurft, um den
milliardenschweren Koloß Bundeshaushalt unter Kontrolle zu bringen. Tatsächlich jedoch ließen Parlamente, Kabinette und Finanzminister der zwölf ersten Bonner Jahre die Finanzpolitik zu einem Roulette entarten, dessen Zufallsergebnisse der künftigen Haushalts - und Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik beträchtliche Hypotheken auf erlegten.
Eine wirksame Kontrolle der Staatsausgaben erwies sich im Bonner Staat nicht zuletzt deshalb als unerreichbar, weil die Regierung mehr und mehr zum Exekutivausschuß der christdemokratischen Mehrheitspartei degenerierte. Umgekehrt sah sich die Opposition darauf verwiesen, aus Gründen der Wählerwerbung möglichst immer noch mehr volksbeglückende Ausgaben vorzuschlagen als die regierende Partei.
Die folgenreichsten Sünden der Bonner Etat-Croupiers:
- Das Bundesfinanzministerium kassierte jahrelang viele Milliarden Mark mehr Steuern als der Bund tatsächlich benötigte;
- der Bundesfinanzminister ließ es zu,
daß aus den zeitweilig angesammelten Überschüssen neue, langfristig wiederkehrende und teilweise mit automatischen Wachstumsklauseln für spätere Jahre behaftete Ausgaben-Titel bewilligt wurden;
- der Bundeskanzler sorgte dafür, und
die Bundesfinanzminister nahmen es hin, daß Interessentenwünsche und Wahlgeschenke die Ausgabenpolitik der Regierung entscheidend mitbestimmten;
- bis zum Etat-Entwurf 1963 des Ministers Starke wurde niemals auch nur der Versuch unternommen, den Riesenblock staatlicher Ausgaben nach gesamtwirtschaftlichen Maßstäben - etwa dem Kapitalbedarf der Industrie oder der Konjunktur- und Preissituation - zu formen;
- die Modernisierung des Haushaltsrechts unterblieb ebenso wie der Vollzug vieler anderer dringlicher Reformen, etwa die Neuordnung des gemeinsamen Steuerverwaltungssystems von Bund und Ländern, das der ehemalige Finanz-Staatssekretär Hettlage als »organisierten Wirrwarr« bezeichnete, die Reform der Umsatzsteuer oder die der steuerlichen Bewertung von Grundstücken.
Karl Maria Hettlage charakterisierte das einzige klar erkennbare Bonner Haushaltsprinzip so: »Die Mehrausgaben gehen primär von den Mehreinnahmen aus und nicht vom Mehrbedarf.«
Daß die Einnahmen jahrelang über alles Maß anschwollen, ist Konrad Adenauers erstem Finanzminister, dem zähen, hausbackenen Oberbayern Fritz Schäffer, zuzuschreiben. Er übernahm die konfiskatorisch hohen Steuersätze mit ihrer mörderischen Progression, die von der alliierten Verwaltung eingeführt worden waren. Der Boom der Wirtschaftswunderjahre tat das Seine, dem ersten Bonner Finanzhüter stetig steigende Steuerfluten in die Kasse zu spülen.
Kaum waren denn auch die Pionierjahre des Bundeshaushalts vorüber - 1950 hatte der Bund ein Defizit von 338 Millionen, 1951 sogar von einer Milliarde Mark -, als der sparsame Kassenvater Schäffer begann, Reserven anzusammeln.
Er legte den Grundstock zu jenem Hort von Steuergeldern, der nach dem einstigen Verwahrungsort des Reichskriegsschatzes »Juliusturm« getauft wurde und als heftig befehdetes Wahrzeichen abstrakter Bonner Haushalts-Architektur in die bundesdeutsche Finanzgeschichte einging. Ende 1955 war der Turm auf 7,1 Milliarden Mark angewachsen.
Schaffer ließ sich lediglich kleinere, vorwiegend wahltaktisch bedingte Zugeständnisse abringen. Bombastisch als »Steuerreformen« deklariert, bescherten sie in den vier Jahren 1953 bis 1957 den Steuerzahlern insgesamt 9,4 Milliarden Mark Nachlaß. Gleichzeitig stieg jedoch das gesamte bundesdeutsche Steueraufkommen von 34,3 auf 47,9 Milliarden Mark.
Schließlich trat ein, was von Anfang an nicht zweifelhaft gewesen war: Die Parlamentsmehrheit aus CDU/CSU und Deutscher Partei brach vor der Bundestagswahl 1957 in Schäffers Juliusturm ein und begann ihn zu leeren. Das groteske Finanzgebaren des Ministers erzeugte ein im Parlament nicht minder groteskes Gegenstück: den »Kuchenausschuß« des Bundestags, der den goldenen Kuchen an das Wählervolk verteilte.
Die Kuchen-Teiler leisteten ganze Arbeit. Sie beschlossen allein für 1957 über Schäffers Etat-Entwurf hinaus 3,5 Milliarden Mark Ausgaben, die durch laufende Einnahmen nicht gedeckt waren.
Mit dieser Ausgaben-Orgie setzte sich der Bundestag souverän über Fritz Schäffers Argument hinweg, daß sein Milliardenhort für bereits bewilligte und lediglich hinausgeschobene Ausgaben zur Verfügung stehen müsse, also aus sogenannten Ausgaberesten bestehe.
Seit den Tagen des Kuchenausschusses ist es in Bonn nicht mehr üblich, solche Mittel für den vorgesehenen Zweck aufzubewahren. Obwohl die Verteidigungsausgaben jahrelang überhöht angesetzt wurden, der zu ihrer Deckung bestimmte Einnahmeteil auch einging und mithin hohe Ausgabereste entstanden, stimmte die Bundeskasse nicht mehr. Die Bonner Finanzhüter hatten sich daran gewöhnt, die Mehreinnahmen sogleich für andere Zwecke zu verpulvern.
Fritz Schäffer wehrte sich lautstark und häufig mit Rücktrittsdrohungen dagegen, daß diese Praxis einreiße. Es
gelang ihm damit freilich nur, eine angeborene Schwäche des Bonner Finanzsystems offenkundig zu machen: Der Bundesfinanzminister verfügt nicht über ausreichende Autorität zur Verteidigung des Etats gegen übermäßige Forderungen.
Zwar steht dem Etat-Minister ein Vetorecht zu, das in Artikel 112 des Grundgesetzes und in Paragraph 33 der Reichshaushaltsordnung (RHO) gleich doppelt betoniert ist. Artikel 112, fast wörtlich mit der RHO übereinstimmend, dekretiert: »Haushaltsüberschreitungen und außerplanmässige Ausgaben bedürfen der Zustimmung des Bundesministers der Finanzen. Sie darf nur im Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses erteilt werden.«
Dieses Veto ist jedoch nur gegen Ausgabenwünsche der Regierung und überdies nur gegen solche anwendbar, die während der Laufzeit des Etats angemeldet werden. Hingegen entscheidet überGeldanforderungen der Ministerien während der Aufstellung eines Haushaltsplans sowie über Ausgabenerhöhungen durch das Parlament letztlich der Bundeskanzler (Paragraph 26 der Geschäftsordnung der Bundesregierung).
Über die Abstimmungspraxis in einem von Konrad Adenauer geleiteten Kabinett gab der Vorgänger des Finanzministers Dahlgrün Auskunft. Klagte Heinz Starke: »Ich kann im Kabinett nur überstimmt werden, wenn der Kanzler gegen mich stimmt. Immer, wenn ich überstimmt worden bin, stand der Kanzler also nicht auf meiner Seite.« Eine erfolgreiche Finanzpolitik lasse sich jedoch nur betreiben, wenn Kanzler und Finanzminister an einem Strick zögen, »und zwar in der gleichen Richtung«.
Für Fritz Schäffer endete das Tauziehen mit der Aufstellung des dritten Adenauer-Kabinetts im Herbst 1957. Der Kanzler hatte endlich erkannt, daß der Juliustürmer zum Ärgernis für die Wirtschaft geworden war. Der Bayer zog sich widerstrebend auf den Sessel des Justizministers zurück, der Rechtsanwalt und vormalige Vizepräsident der Hohen Montanbehörde in Luxemburg, Franz Etzel, übernahm das Finanzressort.
Der neue christdemokratische Mann kam mit dem festen Vorsatz, den Bundeshaushalt aus dem Zwiespalt zwischen »Soll« und »Ist« zu erlösen. Als Motto erkor er sich das von Peter Reinhold, einem Finanzminister der Weimarer Republik, geprägte Schlagwort von einer Haushaltspolitik »am Rande des Defizits«.
Bereits in seinem ersten Amtsjahr senkte er die Einkommensteuer um durchschnittlich 15 Prozent. 500 Millionen Mark verbrauchte Etzel für die vorfristige Tilgung westdeutscher Nachkriegsschulden bei den USA, dreiviertel Milliarden Mark für die Einlösung von Bundeswechseln und 1,9 Milliarden für die Entschuldung der Bundesbahn.
Der Juliusturm war rasch abgebaut. Etzels Haushaltsdirektor Korff erläuterte: »Wir haben ... bewußt vermieden, große Kassenreserven zu schaffen.«
Schließlich machte der Anti-Schäffer weidlich von der Holzhammermethode Gebrauch, zur Deckung unvermuteter Mehrausgaben andere Etatposten, die nicht auf Gesetzen oder rechtsverbindlichen Zusagen beruhen, pauschal zu kürzen. Im Jahr 1958 blieben sechs Prozent, 1959 neun Prozent und 1960 zehn Prozent dieser Ausgaben gesperrt.
Indes, Franz Etzel erreichte trotz aller Bemühungen nicht den Rand des Defizits. Wie sein Vorgänger Schäffer kalkulierte er den zu erwartenden Anstieg der Steuereinnahmen regelmäßig zu niedrig ein, mithin erwies sich auch Etzels Steuersenkung als zu vorsichtig bemessen.
Im Jahre 1959 kamen 1,1 Milliarden Mark mehr Steuern ein als erwartet, im Jahr 1960 die gleiche Summe. So entging denn auch der zweite Bundesfinanzminister nicht den Beutezügen der Interessenvertreter. Der letzte Haushaltsplan Etzels lag 1961 mit 48,1 Milliarden Mark um fast elf Milliarden über dem letzten Etat Schäffers.
Im Bundestag malte der FDP-Abgeordnete Lenz, heute zum Bundeswissenschaftsminister aufgerückt, ein dramatisches Bild von der bundesdeutschen Etat -Wirklichkeit: »Die Bundesrepublik ist voll vom Geschrei eines ungeheuren Bedarfs ... Vergeblich stemmen sich die Finanzminister und ihre Haushaltsreferenten gegen die Flut der Wünsche, die ihnen aus allen Abteilungen ihrer Häuser entgegenströmen ... Vergebens versuchen die Mitglieder der Haushaltsausschüsse der deutschen Parlamente, Panzersperren vor die in geschlossenen Kolonnen anmarschierenden Interessentenverbände jeder Couleur zu legen.«
Lenz hatte die chaotische Rangelei, die sich in Bonn bei der Etat-Festsetzung abspielt, korrekt geschildert. Auch die Haupturheber des Chaos waren genannt:
- die Ministerialbürokratie und
- die Interessentengruppen.
Gegen die vereinten Kräfte dieser milliardenhungrigen Kostgänger können nach der vorherrschenden Bonner Praxis weder der Bundesfinanzminister noch die 27 Abgeordneten des Bonner Haushaltsausschusses eine klare haushaltspolitische Konzeption durchsetzen, selbst wenn sie eine haben.
Die Haushaltsabteilung des Finanzministeriums, versehen mit einer Schätzung der zu erwartenden Staatseinnahmen für das jeweils folgende Jahr, empfängt gewöhnlich im Frühsommer die Haushaltsreferenten der einzelnen Bundesministerien, die ihrerseits Entwürfe für die Einzeletats ihrer Häuser aufgestellt haben. In diesen wochen- und monatelangen »Ressortverhandlungen« versuchen die Finanzbeamten die Ausgabenwünsche mit den Einnahmen in Einklang zu bringen.
Da das noch in keinem Fall gelungen ist, folgen dann die »Chefbesprechungen« des Etat-Ministers mit seinen Kollegen. Über letzte Streitpunkte entscheidet das Bundeskabinett.
Es liegt auf der Hand, daß vor allem die Riesenetats Soziales, Verteidigung, Verkehr und Landwirtschaft längst nicht mehr bis in die letzte Einzelheit durchschaubar sind. Sie können somit selbst in den Ressortbesprechungen allenfalls teilweise zur Debatte stehen. Dem Bestreben der Ministerialbeamten, keinen einmal bewilligten Posten je wieder herzugeben und darüber hinaus immer mehr bewilligen zu lassen, kann das Bundesfinanzministerium nicht wirksam entgegenarbeiten.
Zwar streitet die Haushaltskompanie des Ministeriums unverdrossen gegen die Ausgabenhydra, und Fritz Schäffers Haushaltsdirektor Friedrich Karl Vialon - er ist derzeit Staatssekretär im Ministerium für Entwicklungshilfe - errang sich dabei die innige Abneigung des heutigen Bundespräsidenten. Stöhnte Heinrich Lübke, damals Bundesernährungsminister: »Es hat gar keinen Sinn, mit Schäffer zu reden. Der bringt immer so einen jüngeren gelockten Herrn mit, und der sagt zu allem 'nein'.«
Aber wenn Vialon nein gesagt hatte, sagte Adenauer später ja. Heinrich Lübke konnte den Subventionstopf für die Bauern kräftig füllen, und bis heute ist es noch keinem Bundesfinanzminister gelungen, auch nur eine einzige Subvention wieder aus dem Etat zu streichen.
Während des alljährlichen Kampfes mit den Ministerien und später, wenn die etwa fünf Kilogramm schwere Drucksache des vom Kabinett verabschiedeten Haushaltsentwurfs im Parlament beraten wird, tauchen ständig Nachforderungen auf. So beauftragte zum Beispiel die christdemokratische Bundestagsfraktion im Januar dieses Jahres den CDU-Arbeitsminister Blank, in sein Sozialpaket noch weitere 170 Millionen Mark für das Altersgeld der Landwirte einzuschnüren.
Wenn der Papierberg - nach nur dreiwöchiger Behandlung im Bundesrat und nach der ersten Lesung samt Haushaltsrede im Bundestag - in den Haushaltsausschuß des Bundestags gelangt, herrscht nach Bonner Regel bereits Zeitnot. Fritz Schäffer hat seine acht Etats sämtlich erst nach dem Beginn des Haushaltsjahres dem Parlament überhaupt zur. Beratung zugeleitet. Etzel und Starke gelang es, mit der Etatvorlage wenigstens diesen Termin einzuhalten, wenn auch stets mit knapper Not.
Viermal geriet die Bundesregierung derart unter Zeitdruck, daß jede ordentliche Etatberatung unterbleiben mußte. Es wurden sogenannte »Überrollungshaushalte« vorgelegt, deren Einzelansätze zum überwiegenden Teil einfach aus dem Vorjahr übernommen worden waren.
Unter solchen Umständen hat der Haushaltsausschuß - sein Vorsitzender ist der schwäbische SPD-Abgeordnete Erwin Schoettle - kaum Chancen, Licht in das Milliardengestrüpp zu bringen. Jeweils zwei Abgeordnete mühen sich als Berichterstatter mit einem oder zwei Einzelplänen ab, dann diskutiert das Ausschußplenum über Änderungswünsche, wobei es auch die Ressortminister vorlädt. Trotz ausgedehnter Dauersitzungen vermag der Ausschuß oft nur Stunden auf wichtige Haushalte zu verwenden.
Der unförmige Verteidigungshaushalt (1962: 16,3 Milliarden Mark) wird in sechs bis sieben Tagen durchgesprochen. Für die Haushalte des Ernährungsministeriums mit seinem Grünen Plan und des Innenministeriums stehen nur je vier Tage, für die Haushalte des Arbeits- und des Wirtschaftsministeriums je zwei Tage zur Verfügung. Auswärtiges Amt, Verkehrsministerium und Wohnungsbau müssen mit je einem, Finanzministerium, Vertriebene und Versorgungsempfänger des Bundes mit je einem halben Tag auskommen.
Die Haushalte des Bundeskanzlers, des Bundestags und des Justizministeriums sind In je drei bis vier Stunden durchgehechelt. Der Gesamtdeutsche Ernst Lemmer durfte gewöhnlich schon nach zwei Stunden wieder gehen, Bundesratsminister von Merkatz nach einer halben Stunde. Die Budgets des Bundespräsidenten und des Bundesrats schließlich sind binnen fünf Minuten durchberaten.
So nimmt es nicht wunder, daß die Ausschußmitglieder ihre Kontrollfunktion längst nicht mehr hoch einschätzen. Als es dem SPD-Haushälter Heinrich Ritzel im vergangenen Jahr nach zähem Fingerhakeln endlich gelungen war, 300 000 Mark Zuschuß für. Straußens Bundeswehrzeitschrift »Visier« aus dem Etat zu streichen, freute sich der streitbare Sozialdemokrat: »Auch Kleinvieh macht Mist.«
Der weit überforderte Haushaltsausschuß ist praktisch die erste und letzte parlamentarische Kontrollinstanz. Die Mehrzahl der übrigen Abgeordneten hat sich in scharfsichtiger Erkenntnis der Unmöglichkeit solche Etat-Ungetüme noch wirkungsvoll manipulieren zu können, längst daran gewöhnt, im Bundestagsplenum nur noch zu den Abstimmungen zu erscheinen.
Dazu dürfen die Volksvertreter um so mehr Anlaß sehen, als ein immer größerer Teil des Bundeshaushalts hinter dem Vorhang des Staatsgeheimnisses Verschwindet. Konrad Adenauers Titel 300, der von der SPD viel geschmähte Reptilienfonds, wird vom Parlament überhaupt nicht beraten. Seine Nachprüfung obliegt allein dem Präsidenten des Bundesrechnungshofes, Guido Hertel.
Der 50-Millionen-Etat des Bundesnachrichtendienstes von General a.D. Gehlen wird nur von drei Mitgliedern des Haushaltsausschusses nachgerechnet, ein Löwenanteil des Militäretats nur in einer Geheimsitzung des Haushaltsausschusses.
Über den Verbleib unzähliger weiterer Ausgaben vermag das Parlament ebenfalls keine Auskunft zu erlangen. So bestreitet der Bund jährlich rund 72 Prozent des Etats der Knappschaftsversicherung, ohne daß der Bundestag oder auch nur Rechnungshofpräsident Hertel nachprüfen könnten, wie die Knappschaft das Geld verwendet.
Einer Anregung des Frankfurter Ordinarius für Finanzwissenschaften, Professor Fritz Neumark, der zugleich Mitglied von Minister Dahlgrüns Wissenschaftlichem Beirat ist, kamen die Parlamentarier bislang nicht nach: Neumark empfiehlt, der Haushaltsausschuß solle sich im Jahr jeweils nur einem oder zwei Spezialproblemen widmen, diese dann aber gründlich durcharbeiten.
Von der letzten Haushalt-Prüfstelle, dem Bundesrechnungshof, hört der Bundestag in der Regel erst drei- bis vier Jahre nach Ablauf eines Haushaltsjahres. Was die Revisoren zur Finanzpraxis der Regierung zu sagen haben, besticht naturgemäß mehr durch die Pikanterie der aufgespießten Einzelfälle als durch grundsätzliche, Wandel schaffende Kritik.
So monierten die Prüfer des Rechnungshofpräsidenten Guido Hertel in ihrem Bericht über den Bundeshaushalt 1959 - der dem Bonner Parlament Ende Januar 1963 zuging - einen bürokratischen Mißwuchs im Bereich des Innenministeriums. Für den Aufbau des zivilen Bevölkerungsschutzes hatten die Innenbeamten 911 Spezial -Kraftfahrzeuge im Wert von, 19,4 Millionen Mark angeschafft, obwohl die Einheiten, die den Fahrzeugpark übernehmen sollten, erst sehr viel später aufgestellt wurden.
In der Folge verkamen 714 der Wagen auf offenen Abstellplätzen ohne Witterungsschutz und ausreichende Wartung; einige standen bis 20 Monate lang ungenutzt herum. Gesamtschaden für den Bund: 126 000 Mark.
Das Bundespresseamt pflegte bei von ihm veranstalteten Informationsreisen außer den Kosten für das Mittagessen noch zwölf bis 14 Mark je Teilnehmer für Getränke und Tabakwaren aufzuwenden. Der Rechnungshof bemängelte nicht nur diese weitgetriebene Gastfreundschaft, sondern darüber hinaus das Reisen-Vermitteln des Presseamts überhaupt.
Pointiert empfahlen die Prüfer, »Reisen zur Nato nur dann zu fördern, wenn von den Teilnehmern wegen ihres Berufes oder ihrer-Stellung im öffentlichen Leben erwartet werden kann, daß sie weite Bevölkerungskreise aufgrund der bei der Reise gewonnenen Einblicke aufklären werden«.
Für das Rechnungsjahr 1958 konnte
Präsident Hertel nachträglich ganze 16
Millionen Mark Einnahmen beitreiben oder Ausgaben rückgängig machen, für 1959 waren es 40,5 Millionen.
Dem Parlament bleibt nichts übrig, als die von Hertel zurückgereichten Budget-Mumien durch die Entlastung der Bundesregierung dem Vergessen anheimzugeben.
Seit 1949 sticht außer dem Rechnungshof noch eine andere Mücke den Bonner Finanzelefanten. Der von schwäbischen Wirtschaftsjournalisten gegründete Bund der Steuerzahler kritisiert nus eine Dachetage in Stuttgarts alten Waisenhaus unermüdlich die läßlichen und die Todsünden der Bundes-Haushälter.
Die Stuttgarter Steuer-Idealisten trugen ihr Teil zur Reform der Ehegattenbesteuerung bei, kämpften für die Abschaffung des Notopfers Berlin und der Lebensversicherungsteuer und plädieren bis heute leidenschaftlich für die Aufnahme des Tatbestandes der »Haushaltsuntreue« ins Strafgesetzbuch.
Vor kurzem scheuchte der agile Verein das offizielle Bonn mit einer Chronique scandaleuse auf, die unter anderem enthüllte, daß die Bundesressorts für den Etat 1963 insgesamt 14 700 neue Planstellen angefordert hatten. Dazu war für 4000 Stellen die Einstufung in höhere Gehaltsklassen beantragt worden.
Indes, auch mit schwäbischer Pedanterie ließ sich der Wildwuchs bei den Bundesfinanzen nicht eindämmen. Waren die Schwächen des Verfahrens, den Bundeshaushalt notdürftig zusammenzuschustern, bis ins vergangene Jahr dank stetig steigenden Konjunkturkurven und immer reicherem Steuersegen noch verborgen geblieben, so scheint die Gnadenfrist für Bonns Fiskus jetzt abzulaufen.
Die kaum abweisbaren Mehrforderungen etwa des Verteidigungshaushalts, der längst in die einst übergroße Finanzjacke hineingewachsen ist und sie bald zu sprengen droht, treffen mit einem reduzierten Wachstumstempo der Wirtschaft und folglich mit geringeren Steuerzuwüchsen zusammen.
Bereits im letzten Jahr hatte Heinz Starke, um eine politisch verheerende Erhöhung der Einkommensteuer zu vermeiden, hastig auf die letzte ergiebige Reserve des Bundes zurückgegriffen: die Kassen der Länder. Er ließ sich mit einer Länderhilfe von 1,05 Milliarden Mark flottmachen.
Die lupenrein föderale Finanzverfassung der Bundesrepublik brachte es mit sich, daß Starke um seine Milliarde - er hatte ursprünglich zwei verlangt - wie ein Löwe kämpfen mußte. Laut Grundgesetz sind »Bund und Länder in ihrer Haushaltswirtschaft selbständig und von einander unabhängig«, obwohl sie aus der Steuerkraft ein und desselben Staates zehren.
Die Entwicklung der Einnahmen bei Bund und Ländern lief überdies jenem Phänomen zuwider, das der renommierte Finanzstaatssekretär der Weimarer Republik, Johannes Popitz, als das Gesetz der Anziehungskraft des größeren Etats« bezeichnet hatte. Während gemäß dieser Erfahrungsregel die Ausgaben des Bundes stärker anstiegen als die der Länder, wuchsen die Einnahmen der Länder proportional stärker als die der Bonner Zentrale (SPIEGEL 12/1962).
So konnten die regionalen Kassenwarte Fritz Schäffers Turmpolitik fortsetzen, als sie in Bonn längst abgewirtschaftet hatte. Auf Konten der Deutschen Bundesbank und der Landeszentralbanken lagen im vorigen Jahr bis zu sechs liquide Ländermilliarden. Darüber hinaus gibt es weitere Schätze, an die auch der findigste Bundesfinanzminister nicht herankommt. So haben die Länder der Bundesbahn großzügige Elektrifizierungskredite gewährt und Sondervermögen für Investitionsvorhaben (zum Beispiel Universitätsbauten) angelegt, die erst in späteren Jahren fällig werden.
Rolf Dahlgrün muß nun den Versuch seines Vorgängers fortsetzen, so unerfreuliche Notmaßnahmen wie den Bittgang des letzten Jahres durch ein dauerhaftes Übereinkommen mit den Ländern überflüssig zu machen.
Starke hatte für den Etat 1963 wiederum Einnahmen aus derzeit den Ländern zufließenden Steuergeldern in Höhe von zwei Milliarden Mark eingeplant, wollte jedoch diesmal das Geld rechtens zugesprochen bekommen: Er verlangte einen neuen Verteilungsschlüssel für die Einkommensteuer, die einzige Steuer, die Bonn und Länder sich teilen.
Starkes Mehr-Ansatz von zwei Milliarden Mark würde zu einem Bundesanteil von 40,5 Prozent führen, während gegenwärtig nur 35 Prozent der Einkommensteuer nach Bonn fließen. Die Länderkollegen haben sich bisher lediglich bereit erklärt, in einer Achter-Kommission über eine Neuverteilung zu verhandeln.
In der Kommission, die bis heute noch nicht einmal zusammengetreten ist, werden der Mainzer Ministerpräsident Altmeier, die Finanzminister Eberhard (Bayern), Conrad (Hessen) und Pütz (Nordrhein-Westfalen) den Bundesministern Dahlgrün, Krone, Niederalt und Dollinger gegenübersitzen.
Selbst wenn jedoch Dahlgrün in diesem Kollegium Erfolg haben sollte, wird er sich kaum der Täuschung hingeben können, damit an der finanzpolitischen Wendemarke der Bundesrepublik alles Erforderliche getan zu haben. Vor allem ist dem altgedienten Justitiar eines Großunternehmens mit Sicherheit geläufig, daß die wuchernden öffentlichen Ausgaben nachgerade dringlich der Abstimmung auf gesamtwirtschaftliche Erfordernisse bedürfen.
Ob freilich mit dem Staatshaushalt prompt und wirksam antizyklisch, also den Auf- und Abschwüngen des Konjunkturzyklus entgegengesetzt und deren Extreme mildernd, hantiert werden kann, das ist bislang keineswegs eindeutig erwiesen.
Die Schwerfälligkeit des parlamentarischen Prozesses und die Vielzahl außerwirtschaftlicher Einflüsse auf den Etat lassen eher vermuten, daß allenfalls ausgeprägte und dauerhafte Krisen mit den Mitteln der Ausdehnung oder Einschränkung von Staatsausgaben gemildert werden könnten.
Der Kölner Finanzwissenschaftler Professor Günter Schmölders hat noch auf einen anderen Unsicherheitsfaktor der antizyklischen Etatpolitik hingewiesen: »Erst wenn es gelänge, aus den Indexreihen zuverlässige Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, in welchem Stadium des 'Zyklus' die Wirtschaft sich jeweils gerade befindet, könnte der expansionistische oder kontraktorische Eingriff den gewünschten Erfolg erreichen.«
Und: »Eine Erweiterung dieser (Staats-) Aufgaben derart, daß dem Staat die Verantwortung für das Ganze des wirtschaftlichen Geschehens aufgebürdet wird, bedeutet letztlich eine Abkehr von der Wirtschaftsordnung der Marktwirtschaft.«
Trotz solcher Zweifel bleibt laut Schmölders dennoch »ein weiter Spielraum wirtschaftspolitischer Wirksamkeit«. Es sind vor allem drei Gefahrenpunkte, an denen der Haushalts-Gargantua gezügelt werden müßte:
- Die wachsende Steuerlast schränkt
die private Kapitalbildung immer weiter ein;
- private Kapitalknappheit führt
immer neue Wirtschafts- und Sozialbereiche der staatlichen Subventionierung zu und damit aus der volkswirtschaftlichen Produktivität heraus;
- die vermögensbildenden Staatsausgaben bewirken, daß ein ständig wachsender Teil des Volkseinkommens unproduktiven oder nur indirekt produktiven Anlagen zufließt.
So sank beispielsweise der Anteil des Eigenkapitals an der Bilanzsumme der bundesdeutschen Aktiengesellschaften nicht zuletzt dank hohen Steuern von 46 Prozent im Jahre 1954 auf 35 Prozent im vergangenen Jahr. Im gleichen Zeitraum krochen ganze Wirtschaftszweige, wie etwa die Kohlen- und die Werftindustrie sowie die Landwirtschaft, unter die Bonner Subventionsfittiche.
Dagegen ist das Vermögen des Bundes einschließlich aller Sondervermögen, wie Post, Bahn und Lastenausgleichsfonds, allein in den Jahren 1954 bis 1961 von 49 Milliarden auf rund 85 Milliarden, mithin um 70 Prozent gewachsen. Nicht weniger als ein Drittel der gesamten Vermögensbildung seit Kriegsende fiel in Westdeutschland der öffentlichen Hand zu.
Solche Fehlentwicklungen lassen eine »Etatpolitik der Besinnung«, wie sie Bundesfinanzminister Starke anstrebte, als überfällig erscheinen. Dabei wäre ein elastischeres Haushaltsrecht, das die begrenzte Bildung von Defiziten zuläßt, ebenso erforderlich wie eine gezielte Politik der Steuersenkung.
Die Steuerminderung beispielsweise, die Präsident Kennedy zur Entlastung der amerikanischen Wirtschaft vorgeschlagen hat, wäre nach westdeutschen Finanzmaximen undenkbar: Obwohl das US-Budget schon im kommenden Etatjahr die gefürchtete Grenze von 100 Milliarden Dollar zu erreichen droht, will der Präsident Steuersenkungen einleiten, die bis 1965 insgesamt 13,5 Milliarden Dollar ausmachen sollen. Für den Etat 1963/64 hat Kennedy ein Defizit in Höhe von 11,9 Milliarden Dollar eingeplant.
Ähnliche Operationen könnte sich die Bundesrepublik um so eher leisten, als die Gesamtverschuldung von Bund und Ländern mit 49 Milliarden Mark (1961) vergleichsweise klein ist. England zum Beispiel, dessen Bevölkerung um fast vier Millionen Menschen geringer ist als die westdeutsche, weist 321 Milliarden Mark Staatsschulden aus; Schweden trägt, obwohl es nur reichlich ein Zehntel soviel Einwohner hat wie Bundesdeutschland, eine staatliche Schuldenlast von 15,7 Milliarden Mark oder einem Drittel des westdeutschen Volumens.
Ein weiterer Ansatz zur modernen Etat-Architektur, die sogenannte volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, ist in Bonn zwar seit langem heftig diskutiert und von der SPD nachdrücklich gefordert worden, hat sich aber bislang nicht durchsetzen können.
Zwar will Ludwig Erhard in diesem Jahr einen ersten »Wirtschaftsbericht« herausgeben. Der verspricht jedoch nicht jene Aufschlüsse über die Wechselwirkung zwischen Staatsausgaben und privater Wirtschaftsentwicklung, wie sie das wirkliche Nationalbudget gibt.
Überhaupt deutet nichts mehr darauf hin, daß auch nur minimale Fortschritte in Richtung auf eine moderne Haushaltspolitik, wie sie Heinz Starke angestrebt hatte, zu erreichen sein werden. Der Etat 1963 ist aus dem von Starke geschneiderten Maßanzug längst herausgewachsen.
Während der Haushaltsausschuß des Bundestags über die alte Summe von 56,8 Milliarden berät, brütet Dahlgrün bereits über einer stattlichen Nachschiebeliste. Er soll zusätzlich zu Starkes Voranschlag aufbringen:
- 1,4 Milliarden Mark für die Verteidigung,
- 1,2 Milliarden für Theodor Blanks
Sozialpaket,
- eine halbe Milliarde für den zivilen
Bevölkerungsschutz,
- 800 Millionen für die Kriegsopfer und
- 400 Millionen für die EWG-bedrohte
Landwirtschaft.
Um dennoch den Etat wenigstens im Entwurf ausgleichen und damit zu seinem Wort stehen zu können, das Geraune über Steuererhöhungen sei »ausgemachter Quatsch«, griff Dahlgrün zu einem simplen Trick: Er schätzte die Steuereinnahmen höher ein, als Starke es gewagt hatte. Mehr denn je steht freilich angesichts der knieweichen Konjunktur in diesem Jahr zu befürchten, daß solche Rechenkunststücke nicht aufgehen.
Weitere Mittel hofft Dahlgrün durch eine »rigorose Streichung aller nicht unbedingt notwendigen Ausgaben« aufzutreiben, ein Vorhaben, dem sich bereits sein Vorgänger Starke bis zur Grenze des Möglichen gewidmet hatte.
So läßt sich denn auch voraussehen, daß Dahlgrün in den kommenden Monaten häufiger Gelegenheit für seinen Standardseufzer »Es ist ja alles so maßlos traurig« finden wird. Während er sich noch mit dem prekären Balance-Akt des diesjährigen Finanzprogramms abmüht, droht bereits das weit monströsere Problem des nächsten Haushalts.
Fügt Bonn sich dem amerikanischen Wunsch, die Streitkräfte zu vermehren, so muß Dahlgrün für je 100 000 neue Soldaten 2,2 Milliarden Mark mehr in seinen Etat-Entwurf schreiben.
Er könnte sich dann gezwungen sehen, vor der nächsten Bundestagswahl doch noch »ausgemachten Quatsch« zu treiben.
* Als werbende Staatsausgaben gelten öffentliche Investitionen, beispielsweise im Straßenbau, mit denen die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und damit deren Steuerkraft erhöht wird.
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