EIN- UND AUSREISE Das Monstrum
Unter dem harmlosen Titel »Gesetz über Einreise und Ausreise« und mit der angeblichen Absicht, die Bundesrepublik vor zuchthauswürdigen Hoch- und Landesverrätern zu schützen, hat der Bundesinnenminister Gerhard Schröder einen Gesetzentwurf präsentiert, der die Sowjetzone und Berlin als Ausland deklariert und der bestimmt, daß, die Bewohner dieser Gebiete wie Ausländer zu behandeln sind, wenn sie in die Bundesrepublik reisen.
Entkleidet man Schröders Entwurf allen Beiwerks, so schält sich heraus:
- Deutsche aus der DDR und aus Berlin sollen im Bundesgebiet zukünftig ähnlichen Beschränkungen unterworfen sein wie Ausländer nach der Ausländerpolizeiverordnung von 1938: Sie können - ohne daß sie mit westdeutschen Gesetzen in Konflikt kamen - von der Bundesregierung nach freiem Ermessen zwangsweise über die Bundesgrenze abgeschoben werden, ihnen kann die Einreise verweigert oder für den Aufenthalt im Bundesgebiet die Auflage gemacht werden, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden, falls es der Regierung aus politischen Gründen zweckmäßig erscheint.
- Bundesbürger, die in die DDR oder nach Berlin fahren wollen, unterliegen ähnlichen Bestimmungen, wie
sie bisher nur bei Reisen ins Ausland galten: Die Reise soll unterbunden werden, wenn Tatbestände vorliegen, die nach-Ansicht der Bundesregierung »so erheblich sind, daß sie- der freiheitlichen Entwicklung in der Bundesrepublik aus zwingenden staatspolitischen Gründen vorangestellt werden müssen«.
Neben dieser rechtlichen Gleichstellung von Sowjetzonenbewohnern und Berlinern mit Ausländern versucht der Innenminister durch seinen Gesetzentwurf noch andere ihm erstrebenswerte Ziele zu erreichen:
- Er will ermächtigt werden, durch seine Grenzschutzorgane alle Ein- und Ausreisenden vernehmen, kontrollieren und registrieren zu lassen. Diesen bisher größten Schritt »von der verfluchten Provisoriumstheorie« (Abendländler Winfried Martini) zu der These vom Vollstaat Westdeutschland und dem »Vaterland Bundesrepublik« (Bundestagsvizepräsident Jaeger, CSU) hat Innenminister Gerhard Schröder sorgfältig vorbereiten und tarnen müssen; denn das Grundgesetz kennt nur »Deutsche«, nach wie vor gibt es nur eine deutsche Staatsangehörigkeit und das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, der Grundgesetzartikel 11 - »Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet« - umschließe auch das Recht für Sowjetzonenbewohner und Berliner, »in das Bundesgebiet einzureisen«.
Umgekehrt besaß die Bundesregierung bisher auch keine Handhabe, einem Deutschen, der im Bundesgebiet wohnt, Reisen in andere Teile Deutschlands - die DDR und Berlin - per Verwaltungsakt zu untersagen, während Reisen ins Ausland nach einer Verfassungsgerichtsentscheidung vom Januar 1957 durch Gesetze verboten werden dürfen, wenn sie den Interessen der Bundesrepublik abträglich sind.
Mit kühnen Rechtskonstruktionen sucht Schröder glaubhaft zu machen, der Gesetzentwurf halte sich im Rahmen des Grundgesetzes und seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht, er könne daher mit einfacher Mehrheit, also ohne die Stimmen der Opposition, angenommen werden.
»Hat ein Deutscher«, so heißt es in seiner Gesetzesbegründung zum Thema Ausreiseverbot, »den Geltungsbereich des Grundgesetzes einmal verlassen, dann besteht keine Möglichkeit mehr, Grenzübertritte nach dem Ausland zu verhindern. Die verfassungsrechtliche Möglichkeit, die Ausreise ins Ausland... zu beschränken, kann also nur dann effektiv ausgeschöpft werden, wenn die Kontrolle bereits an den Grenzen des Geltungsbereichs des Grundgesetzes ausgeübt wird.«
Um zu motivieren, weshalb DDRBewohner und Berliner künftig nicht mehr ungescheut unter Berufung auf die Freizügigkeit aller Deutschen ins Bundesgebiet einreisen sollen, zieht Schröder den Grundgesetz-Artikel 11, Absatz 2, heran, in dem es heißt: »Dieses Recht (auf Freizügigkeit) darf ... durch Gesetz ... für die Fälle eingeschränkt werden ...,in denen es ... zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist.«
Nun sollen aber nicht nur solche DDR-Bewohner oder Berliner aus dem Bundesgebiet abgeschoben oder an der Einreise verhindert werden, die strafbare Handlungen vorhaben, sondern nach freiem Ermessen ausdrücklich auch alle, die »sonstige« - also nicht strafbare - »Bestrebungen gegen den Bestand,die äußere oder innere Sicherheit oder die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik ... verfolgen oder sich in ihren Dienst stellen wollen.
Denn, so behauptet Schröders Gesetzesbegründung kurzerhand: »Derartige (straffreie) Bestrebungen« - die laut Grundgesetz nicht zum Entzug der Freizügigkeit führen dürfen - »werden immer notwendig wenigstens mittelbar in strafbare Handlungen ... ausmünden.«
Die schwierige Frage, was man sich unter einer gesetzlich zulässigen und damit nicht strafbaren Bestrebung gegen den Bestand der Bundesrepublik vorzustellen hat, sollen die Exekutivorgane nach Schröderschem Ermessen beantworten: So würde etwa ein Pfarrer aus der DDR, der in die Bundesrepublik einreisen und auf einer kirchlichen Veranstaltung im Sinne des Kirchenpräsidenten - Niemöller argumentieren möchte, nach diesem Gummiparagraphen durchaus gewärtig sein müssen, an der Zonengrenze zurückgewiesen oder später durch Verwaltungsakt abgeschoben zu werden.
Schon seit über einem Jahr wurden im Bundesinnenministerium die Möglichkeiten geprüft, wie man wohl - ungeachtet der Freizügigkeitsklausel des Grundgesetzes - mißliebigen Sowjetzoneneinwohnern durch einfachen Verwaltungsakt die Einreise verbieten oder sie abschieben könnte, ohne erst die Gerichte bemühen zu müssen. Anfang 1960 sondierte der Ministerialdirektor Bargatzki mit leitenden Verfassungsschutzbeamten einschlägige Möglichkeiten.
Bis heute haben die Verfassungsschutzämter keinerlei Exekutivgewalt, und wenn sie meinen, irgend jemand dürfe in die Bundesrepublik nicht einreisen, dann müssen sie ihm Gesetzesverstöße nachweisen, damit er an der Zonengrenze in Haft genommen und dann einem Richter vorgeführt wird. Ähnlich kann ein Verdächtiger nur dadurch an der Ausreise in die DDR gehindert werden, daß man ihm strafbare Betätigung nachweist und ihn durch Richterspruch festsetzt.
Nun sind zwar die Staatsschutzbestimmungen der Bundesrepublik derart weit gefaßt, daß es für so gut wie alles, was den Staat gefährdet, einen Paragraphen gibt. Aber Gerhard Schröder fand, es seien trotzdem immer noch Fälle vorstellbar, in denen ein DDRBürger sich zwar in der Bundesrepublik nicht strafbar macht, aber doch entfernt werden sollte.
Einmal dabei, die Macht der Exekutive zu vergrößern, wollte Schröder auch gleich verhindern, »daß Deutsche seit dem Wegfall desPaßzwanges meist auch dann ins Ausland reisen können, wenn sie sich dort in einer Weise betätigen wollen, die nach Paragraph 7 des Paßgesetzes* zur Versagung des Reisepasses berechtigt«.
Und so schrieben seine Referenten in den Gesetzentwurf hinein: »Die Bundesregierung kann durch Einzelweisung die Vornahme von Entfernungen aus dem Geltungsbereich dieses Gesetzes und die Erteilung von Ausreiseverboten und -genehmigungen anordnen«, und zwar in bezug auf alle Personen, die nicht strafwürdig, aber nach dem Ermessen des Schröderschen Verfassungsschutzes doch unerwünscht sind.
Um seine Vorlage schmackhafter zu machen, hat der Minister derart weitgehende Befugnisse der Exekutive im hinteren Teil des Gesetzes versteckt und im vorderen zunächst einmal gefordert, was jedermann begrüßenswert finden muß: Niemand darf ins Bundesgebiet einreisen, der dort strafbare Handlungen gegen die Staatssicherheit »beabsichtigt - was er bisher schon nicht darf, wenn er nicht unverzüglich in Haft genommen werden will.
Auch Schröder sieht ein, daß ein sowjetzonaler Agent seine staatsgefährdenden Absichten dem Grenzschutz nicht auf die Nase binden wird: »Es ist zu erwarten, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der Personen, die ... nicht ... einreisen dürfen, an der Grenze nicht erkannt wird.«
Deshalb soll jeder Reisende verpflichtet sein, den Grenzbeamten »die zur Beurteilung der Vereinbarkeit der Ein- oder Ausreise mit den Vorschriften dieses Gesetzes erforderlichen Auskünfte wahrheitsgemäß zu erteilen, insbesondere über Reiseweg, -ziel, -zweck und voraussichtliche -dauer«. Auch ist er zur Vorlage der ... erforderlichen Unterlagen verpflichtet und hat eine Kontrolle seines Gepäcks zu dulden«.
Wenn ein Bundesbürger, der in die Sowjetzone, nach Berlin oder ins Ausland reisen will, »ohne Komplikationen an der Kontrollstelle« die Grenze passieren möchte - immerhin soll »die Verweigerung der Erteilung von Auskunft ... je nach den Umständen ein Anhaltspunkt dafür sein, daß eine verbotene Ein- oder Ausreise erstrebt wird« -, kann er sich von seiner Heimatbehörde »auf Antrag« eine Unbedenklichkeitsbescheinigung besorgen.
Schröders Gesetz bringt für unverdächtige Reisende neue lästige Reglementierungen, bietet indes für kommunistische Rechtsbrecher nichts Neues: Werden sie nicht erkannt, passiert ihnen nichts, werden sie erkannt, kommen sie, wie bisher schon, in Haft; denn auch in Zukunft sollen sie erst nach Strafverbüßung abgeschoben werden.
Neu ist dagegen, daß es nunmehr der Exekutive möglich sein soll, verdächtige Elemente, denen selbst bei extensiver Auslegung der Staatsschutzparagraphen nichts Strafbares nachzuweisen ist, durch Verwaltungsakt des Grundrechts der Freizügigkeit zu berauben.
Seinen Gesetzentwurf hielt der Minister so lange zurück, bis ihm durch die Spionage-Affäre des Bundestagsabgeordneten Frenzel ein psychologisch günstiger Moment gekommen schien.
Am 28. Oktober wurde Frenzel gehascht, am Allerseelen-Tag, dem 2. November, ließ Schröder sein Kontrollgesetz vom Kabinett gutheißen, am 11. November versammelte er die Innenminister der Länder um sich, um ihnen den Entwurf vorzulesen. Berlins Innensenator Lipschitz, der nichts Gutes ahnte, bat um ein Duplikat des Gesetzes. Schröder: »Das ist noch geheim. Wir schicken es Ihnen zu.«
Bevor die Innenminister das Geheimpapier in Händen hatten, ließ Schröder die drei Fraktionen des Bundestags telephonisch wissen, er habe ihnen »etwas Wichtiges« mitzuteilen.
Am Donnerstag, dem 17. November, vormittags 10.30 Uhr, meldeten sich Erich Ollenhauer von der SPD, Frau Oberkirchenrätin Dr. Elisabeth Schwarzhaupt von der CDU und der Oldenburger Freidemokrat Jan Eitlers bei Schröder zum Gesetzesempfang. Als die drei Parlamentarier das Ministerzimmer verließen, standen schon Bonner Journalisten zur Presseaudienz vor der Tür: So kam es, daß des Innenministers Gesetz publiziert wurde, ehe das Parlament und ehe die Länder sich über die Absichten Schröders klarwerden konnten.
Je mehr die Frenzel-Psychose abklang, desto kritischer wurden die Stimmen zu Schröders Ein- und Ausreisegesetz. Bundestagsvizepräsident und Justizminister a.D. Dehler gestand: »Ich habe mir die Haare gerauft«; der gesamtdeutsche Ernst Lemmer beschwichtigte, das Gesetz werde »seine endgültige Fassung erst nach den Beratungen im Bundesrat und Bundestag erhalten«, Berlins Innensenator Lipschitz warnte den hannoverschen SPD-Parteitag vor dem »Monstrum« und der CDUAbgeordnete Leonhard tröstete: »Damit kommt der Schröder nicht durch, ich stehe in der Fraktion nicht allein.«
Innenminister Schröder hofft, das Ein- und Ausreisegesetz werde möglichst direkt vor oder direkt nach den Notstandsgesetzen im Innenausschuß des Bundestags beraten und unter dem Rubrum »Abwehr gegen kommunistische Anschläge« trotz aller Widerstände die Zustimmung der Mehrheit finden.
Die Durchführungsverordnungen zum Ein- und Ausreisegesetz, die strenge Kontrollen über reiselustige bundesrepublikanische Untertanen und andere verdächtige Elemente vorsehen, hat Polizeiminister Schröder schon fertig.
* »Der Paß ist zu versagen, wenn Tatsachen
die Annahme rechtfertigen, daß der Antragsteller als Inhaber eines Passes die innere oder die äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland oder eines deutschen Landes gefährdet ...«
Reisekontrolleur Schröder, Untergebene: Notstand an der Grenze