LITERATUR / AGATHA CHRISTIE Das Mord-Vergnügen
»Und dann sprang er los. Schnell wie ein Panther mit raubtierhafter Geschmeidigkeit... Automatisch drückte Vera auf den Hahn... Lombards gereckter Körper hielt mitten im Sprung inne - dann brach er schwer zusammen. Vorsichtig kam Vera näher, den Revolver in der Hand. Aber jede Vorsicht war überflüssig. Philip Lombard war tot - durchs Herz geschossen.«
Diese Schilderung stammt nicht von einem Autor für Dreigroschenhefte und auch nicht aus dem Drehbuch eines Wildwestfilms. Sie wurde von zarter Frauenhand geschrieben, genauer gesagt: Maschine-getippt mit drei Fingern, die ebenso geübt in der sachgemäßen Handhabung von Stricknadeln sind. »Sie hat eine leichte Hand - eine Hand wie ein vorzüglicher Zuckerbäcker«, schrieb die englische »Radio Times« über Agatha Christie, die 65jährige englische Doyenne des internationalen Kriminalschriftsteller-Corps.
»Kriminalroman-Königin Agatha Christie, die mit munterer Freigebigkeit Leichen in Englands literarische Felder ausgestreut hat, empfängt jetzt einen British Empire-Orden zu ihrem 2000-Pfund-Wocheneinkommen. Eine gute Sache!«
In dieser Form meldete der »Daily Sketch«, daß der in England zu jedem Jahresbeginn übliche warme Regen der Ehrungen auch auf das Haupt von Agatha Mary Clarissa Mallowan niedergegangen ist, die einem Zehntel der Erdbevölkerung aus ihren heißhungrig verschlungenen Büchern allerdings besser unter dem Namen Agatha Christie bekannt ist. Mit dem Rang eines »Commander« wurde sie vor kurzem in die dritte von fünf Klassen des Ordens »British Empire« aufgenommen, den Georg V. im Jahre 1917 zum Lohne für Verdienste um das Weltreich stiftete.
Damit ist nach dem Weltchampion des Kriminalromans, nach Sir Arthur Conan Doyle, dem Erfinder des Super-Detektivs Sherlock Holmes, nun auch eine Frau über einen Berg literarischer Leichen zu gesellschaftlichen Ehren aufgestiegen - zum erstenmal, denn vor der Christie hat sich noch nie eine Schriftstellerin zur Spitze dieser mordgeschwängerten Literaturgattung durchgeschrieben. Zu einem Orden brachte es nicht einmal Edgar Wallace ("Der Hexer"), für den lediglich die Flaggen von Southampton auf halbstock gingen und die Glocken der Londoner Fleet Street läuteten, als er an Bord des Kreuzers »Berengaria« 1932 als Toter von Hollywood nach Hause kam.
In einer Zeit, in der Mickey Spillanes Berserker-Detektiv Mike Hammer in dreißig Millionen Exemplaren kursiert und seine Theorien auf den Nasenbeinen seiner Partner erhärtet (SPIEGEL 36/1953), erscheint der Erfolg dieser Frau als das, was Kriminalgeschichten zur Kurzweil ihrer unzähligen Liebhaber allemal aufgeben: als ein Rätsel. Denn es geht in ihren Mordgeschichten stets sehr dezent zu. Agatha Christies Täter liquidieren ihre Opfer ohne Lärm mit etwa den konventionellen Umgangsformen, mit denen man Bridge spielt oder Patiencen legt.
Das hat ihr eine zum Teil illustre Leserschaft eingebracht. Kriminal-Lektüre ist ohnehin ein erstaunlich weitverbreitetes Laster, dem unter vielen anderen auch Bismarck und Adenauer, Eden und Attlee, Hamsun und Guardini frönten oder frönen, während Frankreichs ehemaliger Ministerpräsident Edgar Faure sich nebenbei sogar selbst als Kriminal-Autor betätigt.
Die kriminalschriftstellerischen Formen der Agatha Christie sind sozusagen lady like, sie haben ihr deshalb ein Allerhöchstes Lob eingetragen, nicht anders als einst ihrem französischen Kollegen Gaboriau, der seine Kriminalromane mit dem Vermerk »Lieblingslektüre des Fürsten Bismarck« erscheinen ließ.
Die vor drei Jahren verstorbene Queen Mary, Gemahlin Georgs V. und Großmutter der jetzigen Herrscherin, hat gestanden, daß sie fast jedes Buch von Agatha Christie gelesen habe. Dabei galt die alte Queen geradezu als Verkörperung der englischen Dame alten Stils, als Überbleibsel verschollener Zeiten, komplett mit Korsetts und Fischbeinstangen im Kragen. Von Mickey Spillane trennte sie eine Welt, Agatha Christies Kriminalromane aber konnte die altmodische Majestät freudig akzeptieren.
Als 1947 ihr 80. Geburtstag bevorstand, ließ die englische Rundfunkgesellschaft BBC diskret bei ihr anfragen, was das hohe Geburtstagkind sich als Geburtstagsprogramm wünsche. »Ein neues Stück von Agatha Christie« - war die überraschende und halb England aus dem Herzen gesprochene Antwort. So entstand das Hörspiel »Three Blind Mice«, das später als »The Mousetrap« ("Die Mausefalle") dramatisiert wurde und als »Fuchsjagd« Celler und Hamburger Theaterbesucher erregte. In London läuft das Stück bereits seit nahezu dreieinhalb Jahren. Das Drama um zwei Morde und einen Mordversuch dürfte demnächst alle Laufzeit-Rekorde an englischen Theatern schlagen.
Agatha Christie selbst würde man keinen Mordplan zutrauen. Die erste Frau, die sich rühmen darf, zu gleicher Zeit drei Erfolgsstücke auf dem Spielplan Londoner Westendbühnen zu haben, die Frau, die in jedem Jahre pünktlich zwei Mordromane vorlegt, deren Bücher automatisch in fast zwanzig Sprachen übersetzt werden, diese Autorin lebt als eine behäbige Großmutter, die gern Klavier spielt, ebenso gern gut ißt und die mit Vorliebe in der Badewanne nachdenkt (auf einem Landsitz georgianischen Altvaterstiles in Churston Ferrers, South Devon bei Torquay), wenn sie nicht gerade ihren Mann, einen Archäologen, in den Orient begleitet.
Der »News Chronicle« gab ein ungeschminktes Konterfei der so erfolgreich schriftstellernden Dame. »Niemand könnte Agatha Christie für eine Ausheckerin von Verbrechen halten. Sie sieht zu sehr wie eines ihrer eigenen Opfer aus. Sie haben sie vielleicht in einem Londoner Warenhaus beobachtet, eine beleibte silberhaarige Seele, die zu lange in der Modewaren -Abteilung herumtrödelte und am Schluß drei italienische Tee-Tabletts kaufte, weil sie nicht wußte, welches sie wählen sollte.«
Von der Dämonie, die man den großen Vorgängern in ihrem literarischen Genre gern zuschreibt, ist hier nicht mehr die Rede. Einmal allerdings legte sich auch Agatha Christie ungewissen Phosphorglanz um ihr Haupt, nämlich als sie sich kurz nach dem Erscheinen ihres ersten Bestsellers, 1926, auf zwei Wochen zum Schlagzeilen -Objekt der englischen Presse machte, indem sie spurlos verschwand.
Ein Rudel von Polizisten und Privatdetektiven kraxelte damals in den Surrey-Bergen umher, ohne von der verflüchtigten Kriminal-Autorin mehr als ihren leeren Wagen aufzufinden, und man wettete um Reklametrick oder Entführung, bis Agatha sich wohlbehalten, doch unter falschem Namen freiwillig wieder einfand. Die Ärzte stellten einen vorübergehenden Gedächtnisschwund fest und viele Engländer glaubten das auch.
Das Interesse an Kriminal-Literatur und mithin auch an Kriminal-Autoren und -Autorinnen ist gerade in England auffallend groß. England ist das klassische Land des Kriminalromans. Das kriminalistische Kreuzworträtsel entspricht der Mentalität des Durchschnitts-Engländers. »Er liebt die mathematische Berechenbarkeit des klassischen Kriminalromans«, erklärte der Schriftsteller Ludwig Reiners, »weil er als Calvinist zum Glauben an die Vorausbestimmung neigt und weil eine Verbindung von gespenstischem Geschehen und berechenbarem Hintergrund seine ganze Geistesstruktur anspricht.«
Mehr als irgendwo in der Welt ist die Lektüre von Kriminalromanen - oder genauer: von Detektivgeschichten, denn der Engländer scheidet streng davon die »Kriminalliteratur« der Verbrecher-Stories - in England Denksport, ein Mord-Vergnügen.
Dazu kommt das Scheinmotiv wenigstens des klassischen Kriminalromans: der Moral zum Siege zu verhelfen. Das ist ein Anliegen, das im Mutterland des Puritanismus dem Bedürfnis nach Selbstbestätigung eigener Tugend-Theorien entgegenkommt: Man kann diesen Drang risikolos durch Kriminal-Lektüre abreagieren.
In England gibt es angeblich gegen dreieinhalbtausend Kriminal-Autoren. Die Encyclopaedia Britannica von 1946 gibt unter dem Stichwort »mystery stories« folgende Zahlen an*, die zugleich die überaus schnelle Verbreitung dieser erst etwa hundert Jahre alten Literaturgattung spiegeln: »Von 1841 bis 1920 sind etwa 1300 Titel dieser Art erschienen; von 1920 bis 1940 waren es etwa 8000 Titel. Im Jahre 1929 allein wurden so viele Bücher mit Detektivgeschichten oder Detektivromanen veröffentlicht wie in den acht vorhergehenden Jahren, 1920 bis 1928, zusammengenommen, und im Jahre 1938 sind im Durchschnitt täglich zwei Titel erschienen.
»'Publishers' Weekly' zählt für 1949 unter 1644 insgesamt in den Vereinigten Staaten erschienenen Werken der schönen Literatur 405 Titel der Detektivliteratur. Das ist ein volles Viertel der sogenannten 'schönen Literatur' (fiction), die in den USA erscheint. Jeder vierte Roman, jede vierte Sammlung von Erzählungen gehört also in diese Gattung...
»Nimmt man die Sendungen einer Novemberwoche 1945 bei den amerikanischen Rundfunkstationen als typisch an, dann werden täglich 4 1/2 Detektiverzählungen in Form von Vorlesungen oder Hörspielen verbreitet.« Allwöchentlich werden im amerikanischen Rundfunk, wie die Zeitschrift »Variety« festgestellt hat, im Durchschnitt 46 Menschen literarisch gekillt.
Entsprechend eindrucksvoll sind auch die Zahlen, die über die Rendite dieser zur Industrie gewordenen Literaturgattung Aufschluß geben. Zwar haben nur wenige Verfasser von Kriminalromanen ihr Gewerbe zur Fließbandproduktion in dem Sinne perfektioniert, daß auch bei regelmäßigem Ausstoß von Detektivstories die Grenze zum Schund nicht unterschritten wird. Wo aber beides zusammentrifft: Kontinuität und eine gewisse Qualität, da werden Millionenvermögen mit »mystery stories« gemacht. Agatha Christie ist als anerkannte Klassikerin des literarischen Nervenkitzels dafür das derzeit beste Beispiel.
Was die etwa 50 Millionen Exemplare ihrer 63 Romane, sieben Theaterstücke, ihrer Filme und Hörspiele abwerfen, weiß niemand außer ihrem Agenten. Sie selbst gibt vor, über die Höhe ihres Kontos nie informiert zu sein und zu befürchten, es könne sich erschöpfen. Einig ist man sich nur darüber, daß keine Frau seit Lucrezia Borgia einen größeren Gewinn aus dem Mord gezogen hat.
Der »Evening Standard« glaubte ihr Rezept zu kennen: »Die Christie-Sorte von Mord ohne Tränen ist auf die Blutrunst von Leuten abgestimmt, die beim Anblick von Blut in Ohnmacht fallen würden. Ein Christie-Süchtiger ähnelt einem Kettenraucher, der nicht inhaliert.«
Die ehrbare Dame, die es in einem ihrer Kriminalromane auf insgesamt zehn Leichen gebracht hat - auf »Zehn kleine Negerlein«, wie der deutsche Bühnentitel dieser auch dramatisierten »mystery story« heißt -, diese Dame führt ein den Häkelmethoden ihrer Produktion entsprechendes gutbürgerliches Dasein. An ihren verblichenen großen Kollegen Edgar Wallace, der als Rennstallbesitzer mit Aga Khan in Wettbewerb trat, sich allerdings prompt ruinierte, darf man nicht denken.
Von Agatha Christies Landgut südlich von Torquay blickt man über das verzweigte Mündungsgebiet des Dart, an dessen anderem Ufer bei Dittisham drei Jahrhunderte zuvor die »Mayflower« die Anker zur Anglisierung Amerikas lichtete. Umgekehrte Reiserichtung nahm der New-York-Amerikaner Frederick Alvah Miller, als er sich vor der Jahrhundertwende auf einer Europareise zuerst in das palmenreiche südenglische Seebad Torquay, sodann in eine hübsche Engländerin verliebte und sich daselbst seßhaft machte.
Tochter Agathas Ehrgeiz schien zunächst ihre Begabung weit zu übertreffen. Sie versuchte sich als Pianistin, aber - »ich war zu nervös«. Danach verlegte sie sich aufs Singen und studierte ein Jahr auch in Frankreich, jedoch - »ich hatte keine Stimme«. Selbst Torquay gab ihrem Gesang keine größere Chance als den Auftritt bei einem Wohltätigkeitskonzert. Im Ersten Weltkrieg erwies sich Agatha Miller als eine besonders zielstrebige Krankenschwester, denn bereits einen ihrer ersten Patienten, den Colonel Archibald Christie, heiratete sie.
Dieser Erfolg aber dünkte sie, ebenso wie das Gehalt eines Obersten, bescheiden. Zuerst ihre Mutter, dann der englische Bühnenautor Eden Phillpotts ermunterten sie zum Schreiben. Phillpotts, den sie mit Gedichten heimgesucht hatte, meinte es mit seiner Anregung sicher ernst, der spätere Erfolg jedoch hat dann auch ihn verblüfft.
Die Patientin eines Hospitals machte sich um Agatha verdient, indem sie aus den Beständen des Krankenhauses eine Menge Arsen entwendete. Jeder der Angestellten wurde verdächtigt; das Leben spielte vor Agatha Christies Augen einen großartigen Roman. Sie machte daraus »The mysterious Affair at Styles«.
Damit ging es nicht nach Wunsch. Der erste Londoner Verlag, der mit dem Opus der Anfängerin beehrt wurde, antwortete nicht, der zweite dankte höflich und kalt. Eineinhalb Jahre lang schienen sich alle Verleger über das Können der schreibenden ehemaligen Krankenschwester einig zu sein. Endlich bot ein Außenseiter für alle Rechte 26 Pfund. Der überraschende Erfolg des Buches ließ den Verleger ein gutes und Agatha ein sehr geringes Geschäft machen - und Hercule Poirot war geboren.
Hercule Poirot, Alter unbestimmt, ist ein nach England ausgewanderter Belgier, der sich durch seine eirunde Kopfform und einen martialischen Schnurrbart, dann aber durch die Eigenschaft auszeichnet, Agatha Christies Serien-Detektiv zu sein. Allerdings fehlt ihm die eisig-dekadente Intelligenz eines Sherlock Holmes.
Ebensowenig tut sich Poirot als Psychologe hervor. Es vermehrt noch das Rätselhafte des Christie-Erfolges, daß Agatha nicht nur die hemdsärmeligen Methoden der »hartgesottenen« amerikanischen Faustkämpfer-Kriminalstories vermeidet, sondern obendrein auch noch auf die psychologische Raffinesse des klassischen Kriminalromans verzichtet, was man ihr in Deutschland stets übelgenommen hat.
Mehr noch: Agatha Christie entfernt sich in ihren Romanen mitunter so weit von einer wenigstens denkbaren Situation, daß ihr sogar logische Schnitzer - Todsünden für jeden Detektiv-Autor - unterlaufen, so in ihrem Roman »Das Geheimnis von Sittaford«, in dem der Mörder eine nur leicht abfallende Skilaufstrecke von zehn Kilometern in einer für diese Verhältnisse unmöglichen Zeit bewältigt. Sogar der scharfsinnige Meister-Detektiv Poirot merkt das nicht.
Poirot ermangelt zwar des psychologischen Instinkts, doch statt dessen stattete die Autorin ihren Star von Anfang an mit jenen Zügen von Humor, taktvoller Hilfsbereitschaft und ritterlicher Zurückhaltung, gewissen sowohl englischen wie bürgerlichen, jedenfalls konventionellen Zügen aus, die für Agatha Christies märchenhaften Erfolg eine besondere Rolle spielen sollten.
Zunächst führte Hercule Poirot freilich sechs Jahre hindurch in sechs »mystery stories« der Christie ein nicht allzu bekanntes Romandasein, bis seiner Autorin der große Wurf gelang: »Der Mord an Roger Ackroyd«. Auf der letzten Seite dieses Romans stellt sich heraus, daß der harmlos-kindliche Landarzt, der die ganze Geschichte in der Ich-Form erzählt, selbst der gesuchte, abgefeimte Mörder ist. Das war selbst für das Detektivroman-geprüfte England einfach »thrilling«, der Landarzt -Roman wurde zum Bestseller.
Allerdings brachte die Autorin damit auch einen Wespenschwarm gegen sich in Aufruhr, nämlich den »Detektiv-Club«, eine Vereinigung angesehener Kriminal-Autoren. Dieser Club hat zur Reinerhaltung der Gattung im klassischen Lande der Detektivstory gewisse Regeln aufgestellt, die vor allem darauf abzielen, allzu billige Lösungen mittels eines »Deus ex machina« im Kriminalroman zu verhindern und damit das »fairplay« gegenüber dem zum Intellekt-Wettbewerb herausgeforderten Leser zu sichern.
Nach diesen Regeln sind verborgene Türen und geheime Zugänge verboten. Ebenso ist es unzulässig und wird als »unfair« gebrandmarkt, eine dem Leser nur flüchtig bekanntgewordene - und deshalb seiner scharfsinnigen Kontrolle entzogene - Nebenfigur plötzlich zum Hauptübeltäter avancieren zu lassen. Und Agathas Methode, den Ich-Erzähler zuböserletzt als Mörder zu entlarven, fiel offenbar auch unter die Verbotsregeln, denn wie soll der Leser mit Erfolg den Privatdetektiv spielen, wenn der Erzähler ihm zweihundert Seiten lang blauen Dunst vormacht?
Die Leser dankten es zwar der Autorin, derart an der Nase geführt worden zu sein, durch enorme Umsätze, die Verfasserin aber trat mit den Hütern des Genres in eine leidenschaftliche Diskussion, die zu Reklamezwecken für alle Beteiligten mit einem Vergleich abgeschlossen wurde. Unter Agathas Regie ging man daran, die Versöhnung durch einen Musterroman unter Beteiligung des gesamten erlauchten Detektiv-Clubs zu krönen. Der Autor Gilbert Chesterton machte den Anfang, jedes Mitglied schrieb ein Kapitel. Da wirkte nun die Elite des Kriminalromans einmütig zusammen, und »Der schwimmende Admiral« wurde einer der schlechtesten Romane dieser Art, die je publiziert worden sind.
Die Christie hat auch später gegen die klassischen Regeln der Kriminalschriftstellerei verstoßen. Für den vollkommen entwaffnenden Schluß ihres Kriminalstücks »Mousetrap«, bei der sich der sogenannte Detektiv schließlich als der von allen gejagte Doppelmörder herausstellt, hat sie im Lande des »fairplay« den massiven Vorwurf grober Irreführung einstecken müssen. Das Londoner Theaterprogramm bezeichnete die Rolle nämlich ausdrücklich als »Detektiv-Sergeant«, und diese Angabe des Zettels durfte als objektiv gelten. Der über diese Täuschung aufgebrachte Theaterkritiker des »Sunday Dispatch« verriet daraufhin allen Gewohnheiten der Kritik zum Trotz in seiner Besprechung aus Rache die Pointe des Stücks, das heißt den Täter - ohne allerdings den Serienerfolg von »Mousetrap« in Frage stellen zu können.
Daß Agatha Christie auf diesen aus der Art schlagenden Schluß verfiel, hat seinen Grund im Wesen der Gattung: Kriminalschriftstellerei ist eigentlich nichts als ständiges Variieren eines feststehenden Schemas. Nicht zufällig gibt es in England und Amerika ernstgemeinte Lehrbücher über die Technik des Kriminalromans.
Es ist einigermaßen schwierig, immer neue Varianten der Täterschaft und der kriminalistischen Konstruktion zu finden. Agatha Christie machte darum zur Abwechslung einmal den »Detektiv« zum Mörder und verstieß damit gegen den Kodex der orthodoxen Kriminalschriftstellerei, gegen die festgelegten Spielregeln in diesem Denksport, obwohl sie sich verteidigt: »Ich sage die Dinge nur so, daß sie verschieden verstanden werden können. Ich schummle nicht.«
Dabei gilt sie als Großmeisterin des »red herring"** - in der Kunst also, nebenbei irgendwelche Einzelheiten zu erwähnen, die dem geübten Leser-Detektiv als wesentliche Indizien erscheinen, bis sich am Ende herausstellt, daß sie nichts besagten und nur eine falsche Fährte markierten. Diese Art von Spurenlegen gilt als fair, sie wird sogar vom Leser erwartet, denn sie dient dem Zweck seiner Kriminal-Lektüre: in Spannung gehalten zu werden.
Der Charakter des klassischen Kriminalromans als reiner Spannungsliteratur erklärt, warum einer echten »mystery story« typische Elemente des Romans wie Milieuschilderung oder Gesellschaftskritik fehlen. Amerikanische Verleger haben diesen Spannungseffekt bis zur äußersten Grenze gesteigert: Sie versteckten die Lösung des im Roman geschilderten Kriminalfalles am Ende des Bandes in zugeklebten und versiegelten Schlußseiten, denen gelegentlich noch ein ebenfalls verschlossener Umschlag mit »Beweisstücken« wie Haaren, Stoffteilchen usw. angeheftet war. Ein Verleger erklärte sich sogar bereit, jedes Buch zurückzukaufen, dessen Siegel noch unverletzt ist. Er hatte niemals Remittenden.
Auf solche Mätzchen sieht der klassische Kriminalschriftsteller englischer Provenienz verächtlich herab. Er ist so konservativ, daß er kaum jemals Diener in der Rolle des Mörders agieren läßt; es vertrüge sich nicht mit dem englischen Kastengeist. Auch andere Tabus werden streng beachtet. So scheiden Ärzte und Krankenschwestern, Richter und Polizisten als Täter aus. Agatha Christie verstieß mit ihrem Mörder-Detektiv also kraß gegen ein solches Tabu.
Immer aber verstand sie es instinktiv, den Nerv des Kriminal-Lesers zu treffen. Seit ihrem ersten Großerfolg mit dem Roman »Der Mord an Roger Ackroyd« hat sie alljährlich zwei Romane auf ihrer Reiseschreibmaschine getippt, mit drei Fingern. ("Die meisten Amateur-Maschinenschreiber benutzen nur zwei«, sagt die alte Dame mit bescheidenem Stolz.)
Für die Ausarbeitung eines Kriminalromans braucht sie, nach monatelangem Überlegen, normalerweise sechs Wochen, darunter zehn Tage mit absoluter Konzentration. Sie arbeitet am leichtesten an regnerischen Tagen und in ihren vier Wänden, vormittags und nach dem Abendessen.
Ihr Erfolgsstern steht jetzt ohne Zweifel im Zenit. 1948 legten die Penguin-Books gleich zehn ihrer Romane mit je 100 000 Stück auf. Im Laufe eines Jahres war die Million vergriffen. In dieser Taschenbuchserie hat Agatha nur zwei Auflage-Konkurrenten: Bernard Shaw und - Homer mit der Odyssee.
Der Umsatz ihrer Bücher ist in Amerika noch größer als in England. Frankreich brachte seit 1927 in der »Collection du Masque« 34 Christie-Romane heraus, und der Pariser Feuilletonist Dutourd konnte unlängst schreiben, der Name Agatha Christie sei für zwei oder drei Generationen von Franzosen »so bedeutend, so großartig, ja so mystisch wie Alexander Dumas«. In der Türkei, in China, in Japan, anscheinend überall in der Welt gibt es Christie-Leser.
In Deutschland stieg zunächst der Goldmann-Verlag in das Christie-Geschäft ein, dann aber kamen andere Zeiten. Da alle Diktatoren ein kriminelles Monopol für sich in Anspruch nehmen und ihren Untertanen keine Kriminalromane gönnen, blieb Agatha Christie die NS-Jahre hindurch vom deutschen - wie heute noch vom russischen - Markt verbannt. Nutznießer dieses Verbotes wurde der Berner Alfred Scherz-Verlag, der seine »Schwarzen Kriminalromane« mit Agatha Christies »Eulenhaus« eröffnete und immer wieder Christie-Übersetzungen herausbrachte.
Es blieb nicht aus, daß die Autorin auch auf Bühne und Leinwand reüssierte. 1928 ließ Charles Laughton ihrem Eierkopf-Detektiv Poirot in »Alibi« die Ehre der Verkörperung widerfahren. Fünf ihrer Romane wurden verfilmt, für die Bühne schrieb sie nach und nach sieben Stücke. Mit »Witness for the Prosecution« (Belastungszeuge) rettete sie das vornehme Londoner Winter Garden Theatre aus dem haushohen Defizit einer Reihe von Fehlschlägen. Eine amerikanische Filmgesellschaft hat Anfang des Jahres die Rechte an diesem Stück für 1,35 Millionen Mark angekauft. Dies ist der höchste Betrag, der jemals für den Filmstoff eines englischen Autors gezahlt wurde.
Im Jahre 1928, als »Alibi« verfilmt wurde, trennte sich Agatha von ihrem ersten Gatten, Colonel Christie. Zwei Jahre darauf heiratete sie Max E. L. Mallowan, einen Professor für Westasiatische Archäologie an der Londoner Universität, den sie nun fast in jedem Frühjahr als archäologische Mitarbeiterin in den Orient begleitet.
Agatha Mallowan-Christie hat sich allmählich zu einer Archäologin entwickelt, die in Fachkreisen durchaus geachtet wird. Im Tale Nimrud südöstlich von Mosul und auf dem Ruinenfeld von Ninive grub das Ehepaar die assyrische Residenz Kalcho mit Teilen des Königs- und des Beamtenpalastes aus und zog Waffen, Schmuck, Thronsessel und fünfzehn Tonnen schwere Plastiken ans Licht. Sie stammten aus dem neunten Jahrhundert vor Christus und brachten Agatha auf die Idee zu ihrem bisher einzigen publizistischen Mißerfolg.
Bis dahin hatte sie schon dreimal eine Kriminalstory in das orientalische Milieu ihrer Ausgrabungsreisen verlegt, allerdings in die Gegenwart. Schließlich kam sie auf den einzigartigen Einfall, eine Mordgeschichte im Hause eines alt-ägyptischen Priesters des Gottes Ra vor viertausend Jahren spielen zu lassen.
»Der Tod kommt zuletzt« kostete sie enorme Vorstudien und eine wahre Ameisenarbeit, brachte aber nur einen bescheidenen Erfolg. Vielleicht kam der Verfasserin dadurch erst die Einsicht, daß sie ihre Erfolge nicht zum kleinsten Teil der Atmosphäre guterzogener englischer Gesellschaft verdankt, mit der alle ihre übrigen Romane parfümiert sind. Jedenfalls hat sie weitere Versuche, aus diesem Schema auszubrechen, nicht unternommen.
Das Jubiläum ihrer 50. Publikation im Jahre 1950, der große Empfang, den ihr Londoner Verlag, Collins, beim Erscheinen des sechzigsten Buches fünf Jahre später gab, gestalteten sich fast zu nationalen Feiern. Lieferte Englands gehobenes Bürgertum der Autorin das Milieu, die Mörder und die Ermordeten ihrer Romane, so zeigte sich nun, daß es ebenso ihre namhaften Verehrer stellte.
Damals rührte Agatha-Christie-Leser Clement Attlee in seinen Lobesworten recht nah an die beiden Eigenschaften, die Agatha Christies Erfolg begründet haben: »Ich bewundere und schätze Agatha Christies Fähigkeit, ein Geheimnis so lange zu bewahren, bis sie es enthüllen will. Und ich bewundere ebenso eine andere ihrer Eigenschaften, die nicht allen Schreibern von Detektiv-Romanen eignet, ihre Fähigkeit, eine klare und einfache englische Sprache zu schreiben.«
Mit dem »einfachen Englisch« ist jene Leichtlesbarkeit gemeint, jene unerläßliche, aber seltene Begabung für Unterhaltsamkeit, deren Fehlen den ganzen Scharfsinn anderer Autoren doch nicht zu klingender Münze werden läßt.
Auch ihre andere von Attlee gelobte Kunst, das Geheimnis zu bewahren, ist für moderne Kriminalautoren längst nicht mehr selbstverständlich. Die Christie versteht es, über fast 200 Seiten mit sechs oder sieben Tatverdächtigen zu jonglieren und mit der Enthüllung zu guter Letzt doch zu überraschen. Mit dieser Fähigkeit erschien Agatha Christie im rechten Augenblick auf der Bildfläche und machte aus einer Krise der Kriminalliteratur einen Glücksumstand.
Die Fieberkurve des Kriminalromans begann mit heftigen Ausschlägen. Nach hundert Jahren Edgar-Allan-Poe-Studien kann man mit gutem Gewissen sagen, daß der Kriminalroman eine Erfindung des Wahnsinns war. Dieser Bostoner, den man wegen Spielschulden von der Universität, wegen seines ausschweifenden Lebenswandels von der West-Point-Offiziersakademie, wegen seiner Unausstehlichkeit aus dem Hause seines Adoptivvaters warf, der nach einem Zusammenbruch im Trunk 1849 in Baltimore starb, zählt nichtsdestoweniger dank der Schärfe des Denkens, der Gewalt seiner Phantasie und seiner vollendeten Wortkunst zu den hervorragendsten Autoren Amerikas.
Als Poe seine Selbstdiagnose ("Ich bin wahnsinnig") in einer seiner Erzählungen drucken ließ, war die daran angeschlossene Theorie noch nicht so modern wie später: »Aber es ist noch die Frage, ob der Wahnsinn nicht die höchste Stufe der Geistigkeit darstellt, ob nicht viel Glorreiches und alles Tiefe seinen Ursprung in der Krankhaftigkeit des Gedankens hat.«
Ob nun glorreich oder tief, jedenfalls entsprang einer »Krankhaftigkeit des Gedankens« jenes phantastische Arsenal der Schrecken in Poes Erzählungen, das mit seinen Rasiermesserpendeln, die sich langsam auf gefesselte Opfer herabsenken, mit seinen zur Rotglut gebrachten eisernen Gefängniszellen und seinen mädchenwürgenden Gorillas modernen Tiefseelenforschern unerschöpfliches Material bietet. Freilich hätte diese Hölle ihre lesenden Besucher eher zum Lachen als zum Haaresträuben gebracht, wenn sich nicht Poe lange vor Freud und Adler recht gut auf die Reaktionen des Unterbewußtseins verstanden hätte.
Nicht in den Instrumenten sitzt bei Poe der Schrecken, sondern in der wissenschaftlich-minuziösen zermürbenden Darstellung der Seelenqualen. Der Leser genießt nicht die Schilderung: Er selbst windet sich als der Gefesselte, der das Messer bereits drei Zoll über seiner Kehle vorbeistreichen fühlt und weiß, daß es für diese letzten drei Zoll noch zehn Stunden brauchen wird - von denen Poe ihm auch keine Zeile erspart, ehe der Leser zwar im letzten Augenblick gerettet, jedoch völlig zerbrochen ins Bett entlassen wird.
Eine ingeniöse Einfühlung in das Kranke, die Nervenkrise und das Elend, gepaart mit dem schärfsten Verstand, gaben Poe auch seine brüderliche Kenntnis des Verbrechens und des Verbrechers. Von hier aus, und nicht vom Detektiv aus, wurde die Kriminalnovelle konzipiert, die in Poes drei Erzählungen »The Mystery of Marie Roget«, »The Murders in the Rue Morgue«, »The Purloined Letter« geboren und zugleich unwiderruflich auf ihren literarischen Höhepunkt geführt wurde.
Im Grunde haben hundert Jahre Kriminalstory nur die Genialität dieses Amerikaners bestätigen können. An geistigem Anspruch ist in der Nähe des Kriminal-Genres erst Graham Greene den Novellen Poes nahegekommen. Spillanes kaltschnäuzige Blutrünstigkeit wirkt gegen den abgefeimten romantischen Sadismus des Stammvaters plump.
Mit wissenschaftlicher Akribie aber begründete Poe bereits die »deduktive Methode«, die dann zunächst den Ruhm von Sherlock Holmes und erst danach die wissenschaftliche Kriminalistik der modernen Polizei entstehen ließ. Poe nahm an, ein bestimmtes, definierbares Naturgesetz durchziehe alle Bestandteile und Lebensäußerungen eines Wesens. Also müsse sich mit genügend Methode und Scharfsinn auch dieses Wesen aus der geringsten zurückgelassenen Spur ermitteln lassen. Wegen dieser Aufschlüsselung einer Seele aus einem Fußabdruck sind bis heute in vielen Ländern die besten Einfälle von Conan Doyle und Edgar Wallace Bestandteil der kriminalistischen Berufsausbildung.
Jene englische Detektivstory aber, die immer noch das weithin verbindliche Serienmodell ist, wurde von Conan Doyle destilliert. Auch er, als Arzt mit der »Krankhaftigkeit des Gedankens« vertraut und mit spiritistischen Neigungen ausgestattet, besaß genügend Zugang zur Verbrechernatur, doch als Engländer begriff er die Notwendigieit, seinen Helden gesellschaftsfähig zu machen. Mit dämonischer Intelligenz und naturwissenschaftlicher Zuversicht schickte sein Sherlock Holmes sich an, als ein Virtuose der »deduktiven Methode« aus Haaren und Zigarettenasche zu weissagen und die Bestien am Schreibtisch dingfest zu machen.
Sherlock Holmes gab sich indessen nicht als Bestientöter, sondern als karierter Dandy auf Seidenfutter, als Weltbrite von reizvollmorbider Kultur, als Kavalier von lässiger Überlegenheit, der durch die Schule der Gentlemen gegangen war. Und Conan Doyle untermauerte dieses Engländertum durch eine Realistik der Tatortschilderungen, die Dutzende von Studenten und Reportern auf der Suche nach Sherlock-Holmes-Kriegsschauplätzen durch London gejagt und manches Feuilleton darüber veranlaßt hat, ob es diesen Chef aller Detektive nicht etwa doch tatsächlich gebe.
Daß England diesen Conan Doyle zum Sir erhob, war nicht mehr als recht und billig. Nicht als Cecil Rhodes oder Newton, sondern mit dem Karomuster auf einem Sherlock-Holmes-Anzug und mit einer kurzen Shag-Pfeife ist »der Engländer an sich« in die Träume des kleinen Mannes aller Erdteile eingezogen.
Sherlock Holmes sieht sich Scheußlichkeiten aller Art einsam ausgeliefert, angewiesen nur auf seinen Kopf. Nicht einmal Glück kann ihm helfen, denn im echten Kriminalroman kommt er aus haarsträubenden Situationen allein durch Scharfsinn mit heiler Haut heraus. Das Wunder geschieht, die Schreckenswelt muß kapitulieren, ein Goliath vor einem David, der indessen den Vorzug besaß, das Recht auf seiner Seite zu wissen, und der Sieger zieht sich bescheiden auf seine Couch zurück, eine Spezialzigarette rauchend.
Das alles ist uralt; das Grundmuster ist schon im Ritterroman enthalten. Daß es sich siebenhundert Jahre früher, als der »Detektiv« noch Gawan oder Parzival hieß, weniger um Giftmörder als um Drachen und Zauberer, nach bretonischer Lesart um Feen, nach byzantinischer um Seeräuber handelte, sind nur Modefragen. Selbst die ritterliche Neigung, einen unscheinbaren Kumpan ins Abenteuer mitzunehmen, kopieren Sherlock Holmes und viele seiner Epigonen und gehen keinen Schritt ohne ihren simpeltuenden Doktor Watson, ihren kriminalistischen Sancho Pansa.
Für literarische Erneuerung der Rittertugend wurde Conan Doyle ein Sir. Edgar Wallace dagegen ging nach Hollywood, denn für ihn hatte die Sache bereits ein anderes Gesicht. Die Lebenskurve der Kriminalstory begann zu zittern. Im mittleren und niederen Felde literarischer Kriminalistik produziert man zwar bis heute unerschrocken neue Serienritter und Conan-Doyle-ähnliche Stories, der ganz große Erfolg aber war nicht mit gleichen Mitteln wiederholbar.
Was den Reiz des Kriminalromans als eines literarischen Kreuzworträtsels ausmachte, erwies sich auf die Dauer als schweres Handikap: das Umstülpen der epischen Formel. In der Detektivgeschichte liegt die Katastrophe mit Mord und Totschlag am Anfang, zuweilen sogar vor dem Anfang des Romans, und es handelt sich darum, das Drama von rückwärts aufzuspulen.
Selfmademan Richard Horatio Edgar Wallace, der Reihe nach Zeitungsboy, Schiffsküchenjunge, Milchmann, Hilfsmaurer, Soldat, Buren-Kriegsberichter, Afrika-Korrespondent der »Daily Mail«, ehe er Conan Doyle zu übertreffen suchte, - Wallace beschritt aus Abenteurerlust andere Wege, und jener Detektiv-Club, der mit strengen Regeln die Sherlock-Holmes-Spezies rein zu halten sucht, hätte an ihm mit Recht mehr auszusetzen gehabt als an Agatha Christie.
Bei Wallace wurde die kriminalistische Spekulation von der Rampe verdrängt. Sensation machte sich breit, faszinierende Verbrecherfiguren drängelten den Detektiv fast von der Szene.
Zwar siegte das Recht mit englischer Sicherheit, zwar kennzeichnete schärfste Kombinatorik den Wallace-Roman als Kriminalstory, zwar blieb er englisch im Milieu. Aber immer leichter warf Wallace den Realismus über Bord, der die Geschichte auch praktisch möglich erscheinen ließ, und schuf sich eine eigene Sur-Realität, eine spezielle Märchenwelt des Wallace-Kriminalromans.
Daß dieser Märchenerzähler nach Hollywood ging, hatte eine ähnlich hintergründige Konsequenz wie die Auszeichnung Doyles. Der Welterfolg des Edgar Wallace bereitete einen amerikanischen Typ des Genres vor, der die Kunstrichter im Londoner Detektiv-Club nun endgültig verstören mußte, obwohl diese Abart mit Mickey Spillanes 30-Millionen-Auflage den Großerfolg auf ihrer Seite hat.
Seit Wallace sich in einem Atelier von Hollywood 1932 die tödliche Lungenentzündung holte, kam der amerikanische Typ in die Rotations-Taschenbücher und auf die Leinwand. Mickey Spillane und sein Detektiv Mike Hammer sind seine längst auch in Europa bekanntgewordenen Exponenten.
Bei ihm ist es vorbei mit kriminalistischen Kreuzworträtseln, mit Kombination und Kniffligkeit. Mike Hammer, Bestie unter Bestien, bringt die Dinge ausschließlich mit Faust und Colt ins Lot und »richtet die Schurken so zu, daß von ihnen nur noch ein Rest Chemikalien im Wert von höchstens drei Dollar übrigbleibt«. Unter Titeln, wie »Die Rache ist mein«, »Ich, der Richter« oder »Mein Revolver sitzt locker« kann sich ein herkömmlicher Rechtssinn nur noch sehr schüchtern entfalten.
Gelänge es Mike Hammer, eine ähnliche Weltverbindlichkeit wie seinerzeit Sherlock Holmes zu gewinnen, so wäre die Götterdämmerung aller Romandetektive leicht vorauszusagen. Aber obwohl Mike Hammers Karriere keineswegs abgeschlossen scheint, haben die letzten Jahre bewiesen, daß die hartgesottene Kriminalstory nicht die einzige heute gängige ist, schon gar nicht in Europa.
Wie schon der Franzose Bernanos in einem mißglückten, von seinem geschäftsdurstigen Verleger inspirierten Versuch, übernahm der Engländer Graham Greene Motive und Methoden aus dem Kriminalroman, um Gott und Satan in der Menschenseele aufeinander loszulassen und um das Innenleben des Verbrechers, in der faszinierenden Hölle moderner Zivilisation, als Glaubensleere zu kennzeichnen. Wie Greene im »Dritten Mann«, so zog in Frankreich André Cayatte Kriminaltechniken in den Film, um Gesellschafts- und Moralkritik abzuhandeln.
Aber den Kriminalroman, eine Unterhaltungsindustrie, die entweder mit Millionenauflagen oder überhaupt nicht existiert, konnte es nicht retten, daß Graham Greene und andere Autoren, die im Kriminalroman erfundenen und erprobten Narkotika in eine ganz andere Literaturgattung hinübernahmen.
Auf der Suche nach dem aktuellen Lesergeschmack gab es bei den Massen-Kriminalverlegern seit dem zweiten Weltkrieg nur unsicheres Tasten. Mit Bilderromanen oder mit bunten Kriminalzeitschriften an Stelle der Romanhefte und der Taschenbücher probierten die Verleger Möglichkeiten aus, die Kriminalstory an die neue Woge der Comic Strips anzuschließen. Die deutschen Rundfunkanstalten ermittelten, daß der fünfte Teil ihres Hörspielpublikums eine fest eingeschworene Kriminalhörerschaft ist, aber von den Bemühungen um ein modernes deutsches Kriminalhörspiel kann man nur mit Nachsicht sprechen.
Vor Spillane war der Kriminalroman, auch wenn er das Berufsverbrechertum schilderte, gutbürgerlich gewesen, angefangen von der gesellschaftlichen Herkunft der Detektivhelden über die Rechtsmoral, die zu triumphieren hatte, bis zu den Wunschvorstellungen und Lebensformen, die der Verbrecher auf illegalem Wege zu erreichen suchte. Alles drehte sich um die bürgerliche Lebensform, um ihre Selbstverteidigung gegen unerlaubte Eindringlinge, die auch ihrerseits wohlhabende Bürger zu werden wünschten. Spillanes Erfolg und die soziale Verschiebung ließen befürchten, daß dieser bürgerliche Kriminalroman erledigt sei. Man täuschte sich.
Zwei Autoren haben diese Befürchtungen nicht nur widerlegt, sondern aus der Krisis des Kriminalromans ein Positivum machen können, das ihre Auflagen in atemraubende Höhen trieb: Georges Simenon und Agatha Christie. Belgien hat an dieser Ehrenrettung bürgerlicher Verbrecherjagd einen eigentümlichen Anteil, denn wie Agatha Christies fiktiver Lieblingsdetektiv Hercule Poirot ist auch ihr Kollege Simenon ein Belgier.
Vielschreiber Georges Simenon, 53, Mitglied der belgischen Akademie, nähert sich mit etwa 150 Romanen und Detektivnovellen der 50-Millionen-Auflage und arbeitet gemäß der Anekdote, die über ihn umläuft: Er beklagt sich eines Morgens über Langeweile. »Schreibe einen Romana, rät seine Frau. Simenon stochert in seiner Pfeife. »Es ist eine Möglichkeit«, überlegt er, »aber was mache ich am Nachmittag?« Gleichwohl war André Gide von Simenons dichterischer Kraft überzeugt.
Simenon und die Christie verbindet ein Umstand, der ihren Erfolg so überraschend macht, weil er ihn begründet: die eingefleischte Bürgerlichkeit ihrer Typen. Sie unterscheiden, sich nur insoweit, als Simenon dem französischen Kleinbürgertum, die Christie dagegen der britischen Großbürgerlichkeit verpflichtet ist. Simenons Seriendetektiv, Polizeikommissar Maigret, - in neuesten Veröffentlichungen ebenso wie Agatha Christies Hercule Poirot bereits pensioniert, was anscheinend eine Vorbedingung für detektivische Höchstleistungen ist - bewohnt ein langerträumtes Häuschen in Meung, wo er nach unverwüstlichem französischem Rentnerideal beschaulich seinen Blumenkohl begießt und Wert darauf legt, daß nicht gefachsimpelt wird, wenn frühere Kollegen ihn besuchen.
Von Sherlock Holmes unterscheidet sich Maigret durch die Fähigkeit, sich irren zu können. Von der messerscharfen, methodischen Logik der Doyle und Wallace ist nichts übriggeblieben als ein biederer Charakter, der die Gabe besitzt, auf lauter verkehrten Wegen doch zum Ziel zu kommen, und den Wunsch, lieber einen Verbrecher zuwenig als einen zuviel ans Messer zu liefern. Der Philantrop Maigret wurde beliebt.
Weit stärker aber erwies sich Simenons für den Kriminalroman einzigartige Porträtkunst an französischen Kleinbürgertypen. Seine Kaufleute, alten Kapitäne, strengblickenden Tanten, seine Gastwirte, Fischer, Advokaten und braverzogenen Kusinen von der Kanalküste, ihr Lebensstil zwischen alten Kommoden auf der Grundlage eines sparsam und zäh bewahrten Reichtums von etwas ungewisser Herkunft - das alles scheint in schnurgerader Abkunft aus Balzacs »Père Goriot« zu stammen und hat literarischen Rang genug, um die Bezeichnung Simenons als eines »neuen Balzac« etwas mehr als eine fromme Reklamelüge sein zu lassen.
Auch Agatha Christies Liebling Poirot hält sich zwischen Sherlock Holmes und Mike Hammer in der bürgerlichen Mitte, und das gilt auch für ihre beiden anderen Favoriten, den Geheimdetektiv Colonel Race und eine bissige alte Jungfer, Miss Marple, mit dem hintergründigen Sport, Verbrecher auf eine Weise zu entlarven, die Scotland Yard in den Schatten stellt.
Agatha Christie hat im übrigen auf überraschende Weise nachgewiesen, wie sehr ihre Gefühle bei all dem Umgang mit Mord bürgerlich intakt geblieben sind. Um ihren Ruf als Kriminalistin nicht aufzuweichen, hielt man bis vor kurzem geheim, daß jene Mary Westmacott, die England etwa alle drei Jahre mit einem pseudo-romantischen Frauen- und Liebesroman reinsten Wassers erfreut, niemand anderes als Agatha Christie ist.
Beide Autoren, Simenon und die Christie, haben indessen gelernt, daß es falsch ist, den Serienhelden zu Tode zu hetzen, und daher ihre Maigret und Poirot aus vielen ihrer Romane beurlaubt. Zuweilen verzichten sie ganz auf den Berufsdetektiv.
Simenon verläßt in solchen Fällen die Formel des strengen Kriminalromans. Sein Gesellschaftsroman des Kleinbürgertums ist auch ohnedies dicht genug, um sein Publikum zu finden.
Diesen Ruhm kann Agatha Christie mit ihren flach aufgepinselten Charakteren und ihrer dünnen Psychologie nicht für sich in Anspruch nehmen. Sie ist in weit strengerem Sinne als der literarisch stärkere Simenon die handarbeitende Autorin von Detektivstories geblieben. Niemand außer ihr verschaffte der konservativen englischen »Wer-tat-es?«-Geschichte noch einmal Riesenauflagen - aber nicht mit der Super-Intelligenz eines Conan Doyle und nicht mit der Märchenphantasie von Edgar Wallace, sondern im Plauderton einer alten Dame aus Englands besseren Kreisen, mit gutem Geschmack in Mordfragen.
Die Invasion amerikanischer Brutal-Reißer brach sich an einer alten Lady, die publicityscheu in ihrem behäbigen »Greenway-House« im Ferienland der Grafschaft Devon wohnt - in etlichen Romanen ist es wiederzuerkennen - oder in einem alten Haus in Wallingford mit sechs Schlafzimmern und einer unendlichen Menge Nippes. Aus diesem Milieu zieht sie das Mark ihrer Romane, die den bürgerlichen Wunschvorstellungen breitester Schichten so spürbar entsprechen.
Die Nachricht, daß Agatha Christie jetzt - nach einem Kriminalroman um einen Atomforscher - ein wirkliches Geschehen zum Romanstoff macht, den Fall der ehemaligen Revuetänzerin Ann E. Woodward, die ihren millionenschweren Gatten angeblich zufällig erschoß, läßt immerhin rätseln, ob Agatha Christie im Alter nicht vielleicht die Zukunft der Kriminalstory im Reportage-Roman wittert. Nach ihrem Fehlschlag mit einem viertausend Jahre alten Ägypter-Stoff wird sie sich jedoch hüten, sich noch einmal von dem britischen high-society-Parfüm zu trennen, das sie reich gemacht hat: Der neue Agatha-Christie -Roman spielt wie immer »in den höchsten Gesellschaftskreisen«.
* Fritz Wölcken: »Der literarische Mord«. Eine Untersuchung über die englische und amerikanische Detektivliteratur: Nest-Verlag, Nürnberg; 348 Seiten** Der Ausdruck »red herring« - wörtlich »roter Hering«-bezeichnet in der Umgangssprache einen Bückling, im Kriminalisten-Jargon eine falsche Fährte. Er stammt aus der englischen Jagdreiterei: Bei Fuchsjagden werden für die Spürhunde mit Tierexkrementen künstliche Fährten im Gelände gelegt, denen die Meute dann folgt. Früher verwandte man zu diesem Zweck gelegentlich auch Heringe.