»Das Reform-Profil muß bleiben«
SPIEGEL: Herr Baum, auf dem Parteitag in Kiel will die FDP über ihren künftigen Kurs in der Wirtschaftspolitik entscheiden. Was soll die Richtung sein: Reformpartei oder Wirtschaftspartei?
BAUM: Wenn Sie die Frage auf diese einfache Formel bringen, muß selbstverständlich gesagt werden: Reformpartei. Die FDP war früher sehr eng verbunden mit wirtschaftlichen Interessen. Spätestens seit dem Freiburger Parteitag aber, auf dem Thesen zur Mitbestimmung, zur Vermögensbildung, zur Bodenreform beschlossen wurden, hat sie ein reformerisches Profil. Und dieses Profil muß gerade in der Wirtschaftspolitik gewahrt werden.
SPIEGEL: Der Reformwille von 1971 scheint erlahmt zu sein, wie die negativen Reaktionen auf das unter Ihrer Leitung erarbeitete Perspektivprogramm zeigen.
BAUM: Die Veränderung der wirtschaftlichen Situation hat einige Grundforderungen von Freiburg in den Hintergrund treten lassen. Aber wichtig ist, daß die Partei die Kontinuität zu Freiburg hin wahrt. Und das Freiburger Programm spricht von der notwendigen »Reform des Kapitalismus«.
SPIEGEL: Für viele Ihrer Parteifreunde ist das eher ein Reizwort. Wird dieses Ziel heute noch von der Mehrheit akzeptiert?
BAUM: Das Prinzip wird schon akzeptiert. der Weg ist umstritten. Wir in der Perspektiv-Kommission meinen, daß wir uns für diese Reform des Kapitalismus aktiv einsetzen müssen. Und die elementare Aufgabe, die der Staat derzeit anzupacken hat, ist es, den geburtenstarken Jahrgängen Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu sichern.
SPIEGEL: Gerade über diese Funktion des Staates in der Wirtschaftspolitik ist es in Ihrer Partei zu einem harten Konflikt gekommen. Ihre Gegner fürchten, durch vermehrte Eingriffe des Staates werde die Freiheit bedroht.
BAUM: Nach unserer Ansicht hat der Staat zwei Rollen. Er schränkt bürgerliche Freiheiten ein, und dagegen haben sich Liberale immer gewehrt. Deshalb sind wir beispielsweise gegen die Überwachung der Verteidigergespräche.
Freiburg aber hat deutlich gemacht, daß Liberale vom Staat auch Freiheitsgarantien erwarten. Er muß beispielsweise für die Freiheit jedes einzelnen von Not sorgen. Er muß dem Bürger die sozialen Chancen in der alltäglichen Wirklichkeit einräumen. Diese freiheitssichernde Aufgabe hat er gerade in der gegenwärtigen schwierigen Beschäftigungssituation vorrangig zu erfüllen.
SPIEGEL: Eine andere Kommission Ihrer Partei, die der frühere Wirtschaftsminister Hans Friderichs leitete, hat ein Gegenkonzept entworfen: Nicht der Staat, sondern der freie Markt solle die regulierende Kraft bleiben.
BAUM: Auch wir setzen primär auf die Kräfte des Marktes. Die soziale Marktwirtschaft wäre aber ohne den Schutz des Staates überhaupt nicht sozial. Und schon im Freiburger Programm ist unsere Skepsis formuliert. Dort heißt es: »Das Vertrauen des klassischen Liberalismus, die Ziele einer liberalen Gesellschaft aus dem Selbstlauf einer privaten Wirtschaft zu erreichen, ist nach den geschichtlichen Erfahrungen nicht zu rechtfertigen.«
SPIEGEL: Das Freiburger Programm scheint inzwischen in Ihrer Partei weithin vergessen. Viele Ihrer Freunde haben den Eindruck, Sie seien mit Ihrer Kommission auf dem Weg zum Sozialismus.
BAUM: Dem muß ich widersprechen. Ein Teil der Mißverständnisse ist leicht auszuräumen. Manche vermuten, wir setzten nicht mehr auf die Fähigkeit des einzelnen zur Selbstverantwortung und Eigeninitiative. In Wirklichkeit aber gehören Leistung und Wettbewerb auch für uns zur freien Wirtschaftsordnung. Auch wir meinen, wir müssen aufpassen, daß Eigeninitiative und Selbstverantwortung nicht erdrückt werden durch ein Übermaß von Subventions- und Sozialstaat, in dem alle für jeden zahlen und jeder für alle.
SPIEGEL: Aber soviel ist richtig: Sie wollen den staatlichen Einfluß in der Wirtschaft verstärken.
BAUM: Wir wollen die Tätigkeit des Staates nicht ausweiten, sondern nur seine Planungs- und Entscheidungsfähigkeit verbessern, um die Wachstumsstruktur auf qualitative -- etwa energiesparende -- Ziele hinzulenken. Ein Beispiel: Der Staat muß dafür sorgen, daß die Ausnutzung von Sonnenenergie für Heizung von Eigenheimen endlich interessant wird.
SPIEGEL: Ihnen wurde vorgeworfen, Sie wollten den Bürgern ihr Glück verordnen, indem Sie die Produktion von staatlich gewünschten Gütern verlangen.
BAUM: Der Staat kann und darf natürlich nicht dem einzelnen verordnen, was er als Glück zu verstehen hat. Wir streben auch keineswegs eine Investitionslenkung an, wie einige linke Sozialdemokraten. Durch Richtungsentscheidungen, etwa in der Steuerpolitik, sollen aber Anreize gegeben werden, bestimmte umweltfreundliche oder rohstoffsparende Verfahren zu benutzen. Das Wachstum der Wirtschaft soll sich zudem stärker ausrichten an der Notwendigkeit, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Nur so haben wir eine Chance, mit der derzeitigen Arbeitslosigkeit fertig zu werden und die zusätzlichen Arbeitskräfte der geburtenstarken Jahrgänge unterzubringen.
SPIEGEL: Was ist da der Unterschied zur Investitionslenkung?
BAUM: Wir lehnen neue Instrumente und Gremien ab, die darüber befinden, was die Wirtschaft produzieren soll. Wir haben keine Forderung aufgestellt nach Strukturräten. Das heißt, im Zweifel setzen wir und das ist das Liberale -- auf die Entscheidung, die der einzelne in einer freien Wirtschaftsordnung selbst zu treffen hat.
SPIEGEL: Die Sozialdemokraten hatten, als sie ihr Programm lasen, den Eindruck, darin werde der Vorrat an sozialliberalen Gemeinsamkeiten für die Zukunft aufgefrischt. Ist der Widerstand in der FDP so zu verstehen, daß viele Ihrer Parteifreunde diese Zukunft anders sehen als Sie«?
BAUM: Mit unserem Programm ist keine Koalitionsentscheidung verbunden, es soll der FDP vielmehr zu einem unverwechselbaren Profil verhelfen. Was die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit angeht, kommt unser Konzept freilich den Vorstellungen der Sozialdemokraten näher...
SPIEGEL: ... und das Friderichs-Programm mehr denen der CDU?
BAUM: Ich sehe überhaupt nicht, was die CDU/CSU auf diesem Felde genau will, geeinigt hat sie sich bisher nicht. Aber es ist keine Frage, daß nach dem Friderichs-Programm die Abgrenzung zur CDU schwieriger wird.
SPIEGEL: Die FDP hat sich bislang meist durch Beteiligung an der Macht profiliert. Ist ein Programm, egal wie es aussieht, da nicht eher hinderlich?
BAUM: Unsere Partei hat Tagespolitik immer in den Rahmen programmatischer Grundüberzeugungen gestellt, um politisch nicht von der Hand in den Mund zu leben. Darin sehe ich Kennzeichen und Existenzberechtigung des modernen Liberalismus.
SPIEGEL: Ex-Wirtschaftsminister Friderichs hat lieber praktische Politik gemacht, ohne sich durch ein Programm einengen zu lassen.
BAUM: Ein großer Teil der Partei aber hat nachdrücklich auf diese Diskussion gedrängt und diesen Programm-Parteitag gewollt. Und auch Herr Friderichs hat einen eigenen Entwurf präsentiert.
SPIEGEL: Und gerade die Reformer wollen Sie mit dem Kompromiß aus Friderichs und Baum, der jetzt in Kiel vorliegt, zufriedenstellen?
BAUM: Mit seinem Wirtschaftsprogramm hat Herr Friderichs eine solide Grundlage für praktische Politik vorgelegt, ein bißchen abstrakt und unabhängig von den Tagesaktualitäten, die uns heute bedrängen. Das haben wir ergänzt.
SPIEGEL: Aber von Ihren Perspektiven ist nur wenig geblieben.
BAUM: Das möchte ich bestreiten. Ich meine, daß die Elemente, die aus unserer Kommission in die Vorlage eingegangen sind, die alten Grundsätze des Freiburger Programms deutlich machen. Gerade in der jetzigen Phase der Diskussion ist es wichtig, daß Freiburg in der Partei lebendig bleibt.
Die ersten Thesen über »Sozialstaat als Auftrag« zielen in diese Richtung. Ich will nur einen Satz zitieren. Es heißt da: »Die Auffassung vom sozialen Rechtsstaat muß zum bestimmenden Ziel für die Verfassungswirklichkeit werden.« Dieser Teil wird von beiden Kommissionen getragen. Über einige strittige Teile hat der Parteitag zu entscheiden.
SPIEGEL: Übriggeblieben sind nur vage Anklänge an Freiburg, wo die Rede war von der »Ballung wirtschaftlicher Macht« und davon, daß »die Reichen immer reicher werden«. Sind dies nicht Vokabeln aus einer fernen Zeit?
BAUM: In der Tat, heute gilt es Krisen zu bewältigen. Das ist eine neue, in Freiburg nicht vorhersehbare Situation, in der Reformüberlegungen alter Art zurückstehen. Aber die FDP gibt sich als Partei des modernen sozialverpflichteten Liberalismus auf, wenn sie gerade in der Wirtschaftspolitik den Freiburger Grundüberzeugungen eine Absage erteilen würde.
SPIEGEL: Kann die FDP beides zugleich sein: Programm- und Regierungspartei?
BAUM: Wir würden in der Regierung verkrusten, wenn wir nicht den Mut hätten, Programme zu entwerfen, auch auf die Gefahr hin, daß unsere Leute in der Regierung mit einzelnen Teilen nicht zufrieden sind. Die Partei muß Motor sein, muß auch den Mut haben, unbequeme Wahrheiten zu sagen, neue Lösungen zu diskutieren, neue Ziele anzustreben, selbst wenn sie nicht alle realisierbar sind.
SPIEGEL: An solchem Mut mangelte es aber wohl?
BAUM: In der FDP steckt mehr Mut, als manche meinen, das wird Kiel sicher zeigen.
SPIEGEL: Aber in Kiel wird es ein Programm geben, mit dem Graf Lambsdorff als neuer Wirtschaftsminister sehr gut die alte Politik betreiben kann, im Sinne von Friderichs.
BAUM: Die alte Politik war nicht schlecht -- wir haben die Inflationsgefahr gebannt, und die Arbeitslosigkeit liegt unter ausländischen Raten. Für Programm-Diskussionen ist es allerdings immer ein Handikap, wenn Politiker, die auf dem gleichen Gebiet Regierungsverantwortung haben und in ganz anderen Sachzwängen und Bindungen stehen, gleichzeitig Perspektiven entwickeln.