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»DAS SAGT MAN DOCH ALS GUTER DEUTSCHER NICHT«

aus DER SPIEGEL 47/1965

Einstimmig (bei zwei Enthaltungen) billigte in der vergangenen Woche die Synode - das Parlament und höchste Gremium der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) - auf einer Arbeitstagung ihrer westlichen Mitglieder in Frankfurt die Denkschrift über »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn' (SPIEGEL 44/1965). Sie dient dem Ziel, »neue Bewegung in die politischen Vorstellungen der Deutschen zu bringen, »das Lebensrecht des polnischen Volkes zu respektieren« und »auch den Nachbarn im Osten einen Dialog auf neuer Ebene anzubieten«. Das Dokument stand ursprunglich nicht auf der Tagesordnung der Synode. Der frühere CDU-Bundesminister Hans Wilhelmi wollte eine Abstimmung verhindern, doch politisch so unterschiedlich-profilierte Kirchenführer wie der Hesse Martin Niemöller und der Hannoveraner Harms Lilje setzten sie durch. Das Kirchenparlament dankte der EKD-»Kammer für öffentliche Verantwortung«, die den Text verfaßt, und dem Rat der EKD, der ihn gutgeheißen hatte. Alle evangelischen Gemeinden der Bundesrepublik wurden aufgerufen, die »wegweisende« Denkschrift »sorgfältig zu lesen und ernstlich zu bedenken«. Unter den Vertriebenen-Funktionären und den Rechtsradikalen hat das Dokument einen Proteststurm ausgelöst. Kirchenführer werden mit Schmähbriefen überhäuft und sogar mit Mord bedroht. Über diese Reaktion sagte der Tübinger-Rechtsgelehrte Professor Ludwig Raiser, 61, Vorsitzender der EKD-»Kammer für öffentliche Verantwortung« und Hauptautor des Memorandums, auf der Tagung der Synode, unter anderem

Die erste unter uns zu bedenkende Frage wird sein müssen, ob die Evangelische Kirche in Deutschland überhaupt legitimiert ist, sich zu diesen, von so viel Empfindlichkeiten umstellten Problemen öffentlich zu äußern...

Ich kann es in drei Sätzen sagen: Es ist die Sorge um das menschliche Schicksal der Vertriebenen unter uns, es ist die Sorge um das hinter allem politischen Handeln stehende sittliche Selbstverständnis des deutschen Volkes, und zwar des Volkes zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, und es ist die Sorge um die Erhaltung des Friedens der Welt an der Stelle, an der unserer Kirche die Verkündigung des Evangelium aufgetragen ist.

Es ist auffällig, aber wohl nicht ganz zufällig, daß der Teil der Denkschrift, der sich mit der Lage der Vertriebenen in Gesellschaft und Kirche befaßt, von den Kritikern im Lager der Vertriebenenverbände kaum eines Wortes gewürdigt worden ist. Sind sie in ihrem Verbandsdenken so erstarrt, daß sie auch das als Einmischung betrachten, oder sind sie so auf ihre politischen Zielsetzungen fixiert, daß sie Gefahr laufen, darüber die Menschen, um die es geht, aus den Augen zu verlieren?

Ich will nicht anklagen, sondern nur mit Nachdruck aussprechen, daß die Kirche jedenfalls sich solchem Denken widersetzen muß und nicht ablassen darf, auch selbstkritisch zu fragen, was in dem notwendigen gesellschaftlichen und kirchlichen Einschmelzungsprozeß versäumt worden ist ...

Nun wird uns von Kritikern innerhalb der Kirche ... gesagt: Hätte die Denkschrift sich auf dieses Thema beschränkt, so hätten wir ihr freudig zugestimmt und noch vieles beigetragen. Aber es war unnötig, verkehrt und lieblos, den Vertriebenen im Vordersatz zu bestätigen, was an ihnen versäumt worden ist, und ihnen im Nachsatz die Hoffnung auf Wiederherstellung des Rechts und auf Rückkehr in die Heimat zu nehmen, von der sie doch leben.

Dieser Vorwurf der Lieblosigkeit ist

nach meinem Empfinden der schwerste, der uns treffen konnte. Aber mit seiner Abwehr geraten wir auch an den Angelpunkt der Denkschrift; das Verständnis des Ganzen hängt daran, daß Sie die notwendige Verknüpfung von Vordersatz und Nachsatz verstehen.

Lieblos-hätte die Kirche vielleicht gehandelt, wenn sie .. . nur vor außenpolitischen Illusionen gewarnt hätte, ohne zugleich nach der Lage der Vertriebenen im Inneren zu fragen. Andererseits kann recht verstandene Liebe zu denen, die unter uns um den Verlust ihrer Heimat Leid tragen, nach unserer Überzeugung nicht darin bestehen, sie mit politischen, juristischen und theologischen Argumenten immer weiter in der Vorstellung zu bestärken, es sei nur kommunistisches Teufelswerk, was sie am Rückgewinn der Heimat hindere. Es mag sein, daß christliche Barmherzigkeit fordert, einem Sterbenden zu verschweigen, daß die Ärzte ihn aufgegeben haben. Das deutsche Volk aber will und soll leben, und es soll nicht im Wunschdenken und in der Selbstgerechtigkeit, sondern in der Wahrheit leben! Nur so kann auch die notwendige und heilende Verschmelzung gelingen, während alles. Reden über unverzichtbare Rechtsansprüche die Wunden immer neu aufreißt ...

Von der dritten Sorge, der um den Frieden, zu sprechen, erscheint manchen unserer Kritiker müßig, da doch Vertriebenentagungen und Bundesregierung mehrfach feierlich erklärt haben, die Wiederherstellung der Grenzen von 1937 werde nur mit friedlichen Mitteln angestrebt, und doch offen am Tage liege, daß die Bedrohung des Friedens von der kommunistischen Seite ausgehe.

Es kam uns nicht in den Sinn, mit der Presse des Ostblocks den Ernst jener Erklärungen zu bezweifeln; wir wissen besser als man drüben zu wissen vorgibt, daß das deutsche Volk nicht auf kriegerische Revanche sinnt. Aber wir meinen, daß nach allem, was in diesem Raum geschehen Ist, die Aufrechterhaltung - oder sagen wir genauer: die Herstellung eines in die Zukunft hinein haltbaren Friedenszustandes mit unseren östlichen Nachbarn größere Anstrengungen und Opfer von uns fordert, als jene nur auf Wiederherstellung gerichteten Erklärungen erkennen lassen. Daher ist es Recht und Pflicht der Kirche, von Versöhnung zu sprechen, auch in den Herrschaftsbereich des Kommunismus hinein.

Wir wissen, daß das Echo nicht rasch kommen und in unseren Ohren zunächst nicht angenehm klingen wird. Aber jedenfalls die Evangelische Kirche in Deutschland sollte in den letzten 20 Jahren gelernt haben, nicht so undifferenziert und mit herabgelassenem Visier von den Gefahren des Weltkommunismus zu sprechen; die Ausdauer und Zuversicht in der Auseinandersetzung mit dieser Welt, die wir von unseren Brüdern in der Deutschen Demokratischen Republik erwarten, sollten wir auch selbst aufbringen ...

Im Blätterwald unserer Presse und mehr noch in Hunderten von Zuschriften von wunden, verbitterten, verkrampften und manchmal mit erschrekkendem Haß erfüllten Menschen sieht es oft so aus, als habe die EKD der Bundesregierung empfohlen, schleunigst und ohne Rücksicht auf eindeutige Rechtsansprüche, nur um der Gewalt zu weichen, auf die Ostgebiete zu verzichten. Sie wissen, daß das nicht wahr ist. Die Denkschrift predigt nicht Verzicht aus Schwachheit, sondern fordert dazu auf, der Wahrheit über unsere Lage mit mehr Mut gegenüberzutreten, als Wir uns das bisher zugetraut haben. Sie predigt Vernunft und Einsicht in die

vielfältige Verschlungenheit der völkerrechtlichen, theologischen und ethischen Problematik. Sie denkt nicht daran, das Unrecht der Vertreibung und einseitigen Gebietsabtrennung zu verschweigen oder zu verharmlosen, aber sie muß zugleich um der Wahrheit willen an das unseren Nachbarvölkern angetane Unrecht erinnern, dessen Folgen wir uns nicht entziehen können. Sie achtet die Bindung des Menschen an seine Heimat und den Schmerz der Vertriebenen um den Verlust dieses Wurzelbodens wahrhaftig nicht gering, aber sie warnt vor einer theologischen Verabsolutierung des Werts dieser Güter und stellt ihnen das höhere, freilich auch schwerer zu erringende Gut der Versöhnungsbereitschaft und des Friedens gegenüber.

Mit alledem will sie keinen Zwang auf Regierung und Parlament ausüben oder deren Entscheidung vorwegnehmen, sondern nur in Kopf und Herz des deutschen Volkes den Weg für eine konstruktive Friedenspolitik frei machen. Keine andere »Vorleistung« wird dem deutschen Volk angesonnen als die, sich zur Versöhnung, auch unter Opfern, bereit zu machen.

Im Chorus derer, die sich für Realpolitiker und Hüter unseres nationalen Erbes halten, gilt das alles als bloße Schwärmerei, als ein »Fehltritt der Kirche« oder im Jargon der Deutschen National-Zeitung geradezu und brutal als Landesverrat.

Mit denen, die »Verrat« schreien, brauche ich nicht zu reden. Allen anderen Kritikern aber, und vor allem den ehrlich besorgten Patrioten unter uns kann ich sagen, daß wir nicht so leichtfertig und schwärmerisch geredet haben, wie man uns schildern möchte. Die Kammer besteht aus sehr nüchternen und sehr gewissenhaften Männern und Frauen, die den Lauf der Welt ganz gut kennen und denen auch das politische Geschäft nicht fremd ist. Hier steht nicht vermeintlich christliche Gefühlsduselei, Naivität oder Flagellantentum gegen politischen Realitätssinn, sondern es geht um die Frage, welches die Realitäten sind, die unsere politische Lage bestimmen, und ob es erlaubt und gar geboten ist, sie beim Namen zu nennen, auch wenn sie uns unbequem sind. In der so verstandenen Frage nach der Wahrheit sollten wir uns begegnen.

Eine nicht nur beim einfachen Mann, sondern bis in die Reihen unserer Abgeordneten hinein verbreitete Vorstellung von Außenpolitik setzt sie dem Skatspiel gleich, wo der Spieler schon halb verloren hat, der den anderen die Lücken in seinen Trümpfen sehen läßt. Darum hören wir so oft hinter der vorgehaltenen Hand: Ihr habt ja ganz recht, aber das sagt man doch als guter Deutscher nicht öffentlich. Als ob nicht die politische Welt rings um Deutschland herum unsere Karten sehr genau kennte und sich ihre eigenen Gedanken über die Aussichten unseres Spieles machte.

Was uns in dieser Lage nottut, ist nicht der aussichtslose Versuch zu bluffen, sondern das Werben um gute Freunde. Mit dem Beharren auf einer einseitigen Rechtsposition wird uns das nicht gelingen. Es muß daher auch als schlechte Realpolitik gelten...

Mit Vertuschen und Verschweigen, mit offizieller Sprachregelung und Einschüchterung Andersdenkender ist es nicht mehr getan. Den Ernst und die Offenheit der Auseinandersetzung sind wir einander in dieser Frage als evangelische Christen schuldig; es ist zugleich ein wichtiger Dienst, den die evangelische Kirche in dieser Sache unserem Volk leisten kann.

Das öffentliche Echo auf die Denkschrift, die unzähligen Briefe aus allen Kreisen der Bevölkerung, die Gespräche darüber mit Politikern und anderen verantwortlich denkenden Menschen, auch mit solchen, die der Kirche fernstehen, bringen uns ja nicht nur Proteste, Warnungen und Drohungen ins Haus. Vielmehr gibt es viele Anzeichen dafür, daß dieser Dienst der Kirche richtig verstanden wird, als Anstoß zu neuer politischer Besinnung, als Hilfe zur Heilung einer kranken Stelle in unserem politischen Bewußtsein, als ein Schritt auf dem Wege zum Frieden.

Denkschrift-Autor Raiser

»Mehr Mut zur Wahrheit«

Polen in Breslau: Nichts

vertuschen, nichts verschweigen

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