Die Strafsache, die »Euer Ehren« Superior Court Judge Richard E. Arnason, 50, am Montag vergangener Woche um 10.20 Uhr im Kriminalgericht von San Jose, Kalifornien, zur Hauptverhandlung aufrief, trägt die Nummer 52613. So tragen in aller Welt die bei Gericht anhängigen Strafsachen eine Nummer -- der Ordnung halber.
Doch selten hat ein Aktenzeichen so intensiv wie dieses daran erinnert, daß die Mühe um jene formale Ordnung des Strafverfahrens, die uns der Objektivität näherbringen soll, nicht mehr ist als der Dunstschleier über einem Ozean bewußter und unbewußter Leidenschaften, die sich im Strafprozeß durchzusetzen suchen: ein Dunstschleier aber auch über einem Meer erlittenen und fortdauernd zugefügten Unrechts.
»Das schwarze Volk hat nicht vergessen, daß einmal eine amerikanische Gerichtsentscheidung lautete: »Ein schwarzer Mann hat keine Rechte, an deren Respektierung ein weißer Mann gebunden ist.« 115 Jahre alt ist diese Entscheidung, die Angela Davis zitierte, als sie -- erfolgreich -- darum kämpfte, sich vor Gericht auch selbst vertreten zu dürfen. Doch es gehe niemand über diese 115 Jahre mit einem Achselzucken hinweg.
»Bye, Bye Heidi, Hello Angela« war in der »Washington Post« vom 31. Januar dieses Jahres eine Kolumne des amerikanischen Journalisten Nicholas von Hoffman überschrieben, die von zwei jungen amerikanischen Frauen handelt, von Angela Davis, 28, die schwarz, und von Heidi Ann Fletcher, 22, die weiß ist.
Heidi Ann Fletcher, damals 21, warf die Staatsanwaltschaft Mord, bewaffneten Raubüberfall, Raub und verbotenen Besitz gefährlicher Waffen vor. Sie hatte sich im Mai 1971 als Fahrerin des Fluchtwagens an einem Banküberfall in Washington (Beute 7900 Dollar) beteiligt, bei dem ein Polizeibeamter getötet wurde.
Im August vergangenen Jahres gewährte man Heidi Ann Fletcher -- ohne daß eine Kaution zu »steilen gewesen wäre -- Verschonung von der Untersuchungshaft. Und acht Tage bevor Heidi Ann Fletcher 22 Jahre alt wurde, erklärte sie sich in allen zehn Punkten der gegen sie vorgebrachten Anklage für schuldig. Hätte sie ihren zwei- undzwanzigsten Geburtstag abgewartet, so wäre sie -- ohnehin mit 21 ein heikler Grenzfall -- nicht mehr des Vorzugs teilhaftig geworden, nach dem Jugendstrafrecht beurteilt zu werden.
Nach der Praxis der amerikanischen Justiz hätte nicht einmal das Bekenntnis der Schuld dazu ausgereicht, die Frist des Geburtsdatums in Anspruch zu nehmen, denn üblicherweise folgen einer derartigen Schuldanerkenntnis wochenlange Untersuchungen und Beurteilungen des Delinquenten.
Nicht im Fall der Heidi Ann Fleteher: Noch am Tag ihres Bekenntnisses »schuldig« erhielt sie ihr Urteil. Es lautete auf eine Freiheitsstrafe von neun Jahren mit dem ausdrücklichen Zusatz, die Verurteilte könne auch schon zu jedem beliebigen früheren Zeitpunkt einer Bewährungsfrist teilhaftig werden.
Man kann, trotz der garantierten Gleichheit aller vor dem Gesetz, den Umgang mit verschiedenen Delinquenten nur schwer vergleichen, die angeklagten Tatbestände mögen sich noch so ähnlich sein. Im Fall der Heidi Ann Fletcher allerdings zwingt sich der Vergleich mit Angela Davis auf, der eine weitaus indirektere Beteiligung an der am 7. August 1970 blutig gescheiterten Gefangenenbefreiung in San Rafael vorgeworfen wird.
Ihre Strafe hat Heidi Ann Fletcher nicht im Frauengefängnis bei Washington, sondern in einer Strafanstalt bei Los Angeles zu verbüßen Es sei, »wie der Psychiater ja empfohlen habe, angezeigt, die Verurteilte in der Nähe ihrer Familie dem Strafvollzug zu überantworten.
Heidi Ann Fletchers Vater, Thomas W. Fietcher -- ist derzeit Verwaltungsdirektor der Stadt San Jose: Der Stadt, in der seit Montag vergangener Woche gegen Angela Davis verhandelt wird. »Sie müssen das verstehen«, erläuterte Nicholas von Hoffman in der »Washington Post": »Die Davis ist beides -- schwarz und rot.« Es ist eben ein Unterschied zwischen Angela Davis und Heidi Ann Fletcher, die Nicholas von Hoffman -- unübersetzbar -- »Miss American Pie« nennt. Und er vergißt auch den Oberleutnant Cailey nicht: »Calley und die Fleteher arbeiteten innerhalb der Spielregeln des Systems; der eine, indem er Befehle ausführte, die andere, indem sie für Geld tötete.«
Wird derart zu billig verglichen oder primitiv in Beziehung gesetzt? Muß es zuviel des Bösen sein, daß einer schwarz und rot ist? Die Mehrheit der Amerikaner ist sich ihres Urteils von Anfang an sicher gewesen. John Edgar Hoover, 77, seit fast 38 Jahren Direktor des FBI, der Mann, der mit jedem Jahr genauer darüber Bescheid wußte, wo die Feinde Amerikas zu suchen sind, hat schon 1970 erklärt, die Kommunisten hätten blitzschnell begriffen, daß der Fall Angela Davis alle Elemente eines weltweit politisch auszuschlachtenden Falles enthalte. »Miss Davis«, spottete er, »ist weiblichen Geschlechts, gehört einer Minorität an und ist eine Intellektuelle mit politischen Ansichten, die sich gegen die Etablierten wenden.«
Zu glatt geht aber auch denen der Appell für Angela Davis über die Lippen, die sie als eine »Jeanne d'Arc aus Birmingham« (Alabama) preisen. Denn wer sich in den kommenden Monaten anhand der Berichte aus San lose eine Meinung bilden und überhaupt begreifen will, warum mit dem Schicksal dieser Angela Davis mehr als ein beliebiges Schicksal vor Gericht steht -- der darf sich nicht mit der allzuoft erwähnten »Attraktivität« von Angela Davis begnügen. Ihre »Attraktivität« und ihre gleichfalls allzuoft »brillant« genannte Intelligenz sind nicht das Vehikel ihrer Wirkung, sondern eher ein Hindernis für den, der diese Wirkung begreifen will.
Sie ist vor allem anderen integer. Und sie ist das auf eine bestürzende Weise.
Wie macht sie das, fragt man sich, wenn man sie diskutierend in einer Gruppe von Menschen oder als Rednerin vor Tausenden erlebt. Man wehrt sich, ist skeptisch und darauf erpicht, den Trick zu erkennen, mit dem sie arbeitet: den Trick. der es einem erlaubt, sie zur Kenntnis zu nehmen und weiterzugehen. Doch da ist kein Trick zu finden. Sie ist keine Demagogin.
Sie kämpft darum, zu überzeugen. weil sie überzeugt ist. Das tun andere auch, und das kann Selbstbetrug und Betrug sein und nichts anderes. Doch ihre Überzeugung ist nicht das Ergebnis des Ringens einer geringen, bequemen oder eitlen Intelligenz, noch das Produkt einer Intelligenz, die sich die Macht oder auch nur einen Anteil an der Macht zum Ziel gesetzt hat. Sie will Freiheit: Tatsächlich, sie will Freiheit.
Wer in der Bundesrepublik lebt, mag das nicht fassen können. Er mag bestreiten, daß es hierzulande Freiheit gibt, ohne daß ihn dieses Bestreiten ruiniert. Vielleicht hat er auch sein Auskommen mit der Annahme, mehr Freiheit als unsere sei nun einmal unter Menschen nicht möglich. wenn Recht und Ordnung gewahrt bleiben sollen.
Die Freiheit, von der die Schwarzen in den Vereinigten Staaten sprechen, ist eine andere, eine unbehauene Freiheit. Das schwarze Amerika hat noch um die Freiheit zu kämpfen, die vor allem anderen dazusein hat und ohne die kein Gespräch darüber möglich ist, wie man in Freiheit miteinander leben kann.
Die Berichte kommen und ziehen vorüber, die von der Not des schwarzen Amerika handeln: von dem Teufelskreis, in dem man aus Armut nicht zu Bildung und Ausbildung und endlich in die Kriminalität gelangt, aus der man in eine nicht mehr zu behebende Armut an Bildung und Ausbildung zurückkehrt. um wieder an die Kriminalität zu geraten.
Hier liest man das, und es zieht vorüber. Allenfalls spottet man, daß Amerika es halt auch nicht mehr besser habe. Doch die jäheste Rassendiskriminierung, die blutigste Unterdrückung fand in unserer Zeit unter uns statt. Wir brauchten nicht einmal. daß die Auszurottenden eine andere Hautfarbe hatten als wir. Wir mußten uns des gelben Sterns bedienen, um zu brandmarken. Wir tun gut daran, nicht über die Grenze der Erkenntnis hinaus zu kommentieren, daß eine überlieferte Unterdrückung und Verfolgung schwerer aufzuheben ist als eine, die jählings über Menschen kam.
Das darf allerdings nicht daran hindern, das schwarze Amerika zu begreifen und seinen Schrei nach Freiheit zu hören. Angela Davis ist die Stimme, die für 80 Prozent der schwarzen Bevölkerung Amerikas den Schrei nach Freiheit artikuliert.
Die Verteidigung, die für Angela Davis seit ihrer Verhaftung vor 16 Monaten arbeitet, hat von Anfang an befürchtet, es werde nicht zu einem fairen Prozeß gegen ihre Mandantin kommen. Es ist einiges geschehen gegen diese Befürchtung. Richter Arnason, für den Fall Angela Davis seit Mai vergangenen Jahres zuständig, nachdem fünf andere Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ausgeschieden waren, hat der Angeklagten gestattet, sich auch selbst zu verteidigen.
Er verlegte die Sitzung in das Kriminalgericht in San Jose, um dem Wunsch der Verteidigung nach unvoreingenommenen Geschworenen entgegenzukommen. In San .Rafael, dem Ort, an dem im August 1970 der Versuch scheiterte. schwarze Häftlinge mit Gewalt zu befreien, wäre nicht einmal der Anschein einer unbefangenen Jury zu wahren gewesen. Doch im Bezirk San Jose beträgt der Anteil schwarzer Amerikaner unter den Bürgern nur zwei Prozent. Daß es der Verteidigung gelingt, eine Jury durchzusetzen, die halb schwarz,
* Beim Versuch, im August 1970 in San Rafael schwarze Gefangene zu befreien, wurde Richter Haley (r.) als Geisel erschossen. Polizei tötete drei Schwarze
halb weiß besetzt ist, gilt als unwahrscheinlich.
Kurz vor Beginn der Hauptverhandlung ist Angela Davis gegen eine Kaution von 102 500 Dollar von der Untersuchungshaft verschont worden (SPIEGEL 10/1972). Doch diese Entscheidung traf Richter Arnason gegen den Einspruch des Chefanklägers gegen Angela Davis, gegen Albert W. Harns jr., 41. Die Entscheidung des höchsten kalifornischen Gerichts gegen die Todesstrafe bot die -- offensichtlich auch von Richter Arnason -- seit langem erhoffte Chance, den Prozeß ohne besonderes Aufsehen von der unheilvollen Hypothek einer aus der Haft vorgeführten Angeklagten zu befreien. Doch der Chefankläger widersprach: Die Frist für einen Einspruch des Generalstaatsanwalts sei noch nicht abgelaufen, die Entscheidung gegen die Todesstrafe habe noch keine Rechtskraft. Die Anklage in San Jose trägt den Kopf hoch. Leidenschaftslosigkeit ist ihr nicht nachzusagen.
Die Auswahl der Jury-Mitglieder hat also in der vergangenen Woche unter ein wenig verbesserten Bedingungen, doch keineswegs so begonnen, daß ein sachlicher Verlauf des Prozesses vorauszusagen wäre. Es ist nicht abzusehen, wann zwölf Haupt- und sechs Ersatzgeschworene gewählt sein werden. Je 20 Kandidaten für die Jury können Anklage und Verteidigung ohne Begründung ablehnen. Es fehlte in der vergangenen Woche nicht an Kandidaten, die mitteilten, nach ihrer Überzeugung sei die Angeklagte schuldig. Und der weiße Farmer, der Land verpfändete. damit die Kaution für Angela Davis aufgebracht werden konnte, hat sich mit Frau und fünf Kindern ein Versteck suchen müssen. Von 100 Anrufern drohten ihm nur fünf nicht mit Mord.
Die Frage, ob Angela Davis die Waffen zur Verfügung stellte, die im August 1970 bei dem gescheiterten Befreiungsversuch in San Rafael gebraucht wurden, steht noch in weiter Ferne. An der Frage, ob die Gewalt nicht heraufbeschworen und erzwungen wird, wenn altes und neues Unrecht über die Dächer der Gerichte hinauswächst, wird man, wie auch immer, nicht vorüberkommen.
In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung hieß es am 4. Juli 1776: »Gewiß gebietet die Vorsicht, daß seit langem bestehende Regierungen nicht um unbedeutender und flüchtiger Ursachen willen geändert werden sollten ... Aber wenn eine lange Reihe von Mißbräuchen und Obergriffen, die stets das gleiche Ziel verfolgen, die Absicht erkennen läßt, sie (die Menschen) absolutem Despotismus zu unterwerfen, so ist es ihr Recht, ist es ihre Pflicht, eine solche Regierung zu beseitigen und sich um neue Bürgen für ihre zukünftige Sicherheit umzutun.«