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Artikel 43 / 89

Das schwierige Vaterland

aus DER SPIEGEL 4/1979

Unter der Herrschaft des Kaisers ist es Deutschland in diesem Jahrhundert »am besten gegangen«. Das fand fast die Hälfte der westdeutschen Bevölkerung (genau 45 Prozent), als Demoskopen sie, 1951, danach fragten. Zwei Fünftel gaben den Jahren 1933 bis 1938 den Vorzug; damals wurde aus der Republik eine Diktatur gemacht, die Arbeitslosigkeit verschwand, Autobahnen entstanden, und äußerlich herrschte noch Frieden. Im Vergleich zu Hitlers Reich schnitt die Weimarer Republik schlecht ab. Nur jeder vierzehnte meinte, unter ihr sei es Deutschland gutgegangen.

Die Bürger der (Bonner) Demokratie entschieden sich nahezu einhellig für eines der beiden autoritären Regime und hatten gar nicht so unrecht damit.

Gut ging es Deutschland als neuerstandener Nationalstaat, aufstrebende Industrie- und gefürchtete Militärmacht; gut auch als (scheinbar) wirtschaftlich gesunder und militärisch rasch erstarkender Führerstaat. Schlecht aber waren die Zeiten, als sich die Deutschen, zwischen Revolution und Machtergreifung, zum erstenmal mit der Demokratie abplagten. Prekär -- im Hinblick auf überkommene Tradition und neue Demokratie-Verläßlichkeit -- wird diese Hoch- und Geringschätzung vollends durch die Tatsache, daß keines der drei Systeme, die einander in kurzer Zeit ablösten, dem Bürger der Bundesrepublik politische Identifikation ermöglicht, und alle drei zusammen erst recht nicht. Jedes dieser Systeme, Monarchie, Republik, Diktatur, war der Todfeind des anderen und mobilisierte wesentliche Kräfte erst in und aus dem Kampf gegen den Vorgänger.

Das Bismarck-Reich gibt uns keinen historischen Halt.,, Heute, nach fast dreißig Jahren, wird man jedoch fragen müssen«, schreibt der Historiker Wolfgang J. Mommsen, »ob das Deutsche Reich bismarckischer Prägung als territoriale und staatsrechtlich politische Einheit, wie es durch Bismarck gegründet wurde, noch als Orientierungspunkt für eine deutsche Politik und für die Bestimmung dessen, was Deutsche sind oder sein wollen, zureicht. Diese Frage aufwerfen heißt, sie zumindest teilweise zu verneinen.«

Der deutsche Nationalstaat war Ergebnis eines siegreichen Krieges und Präsent preußischer Obrigkeit; er war ja nicht entstanden aus dem Ringen mündigen Bürgertums gegen feudale Herrschaft. So war denn auch von Demokratie und Parlament, in anderen europäischen Staaten Charakteristika aufkommender Nationalstaaten, in Deutschland kaum die Rede. Das Bürgertum akzeptierte vielmehr als Gegenleistung für wirtschaftliches und nationales Wachstum den Verzicht auf Demokratisierung.

Aber wollte es überhaupt Demokratie? Thomas Mann schrieb noch während des Ersten Weltkrieges: »Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und daß der vielverschriene »Obrigkeitsstaat' die dem deutschen Volk angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt.«

Das Demokratie-Defizit macht Bismarcks Nationalstaat als Fixpunkt historisch-politischer Orientierung untauglich. Die Neigung jedoch, ein politisches Regime vornehmlich nach Maßgabe seiner wirtschaftlichen Effektivität zu messen, ist unter Deutschen bis heute weit verbreitet. Sätze, die der berühmte Nationalökonom Gustav Schmoller um die Jahrhundertwende schrieb, könnten unter dem Gesichtspunkt »Wirtschaftswunder« dann doch der »Traditionspflege« dienen: »Vor hundert Jahren ein armes Volk von Bauern und Handwerkern, von Denkern und Dichtern in einigen hundert machtlosen Mittel-, Klein- und Duodezstaaten. Heute ein großes, einiges, mächtiges Reich, dessen Wohlstand, Großindustrie und Technik, dessen Heer und Beamtentum, dessen Verfassung und freie Selbstverwaltung, dessen Macht und Stärke weit über seine Grenzen hinaus gepriesen werden.«

Das Kaiserreich von 1871 hatte keine eigene Staatsidee. Es war ein erweitertes Preußen, das auf diese Weise wertvolle Stücke seines eigenen Wesens der Großmachtidee zum Opfer gebracht hatte. Was herauskam, war weithin unechte Fassade, großsprecherische Aufgeblasenheit und Traditionslosigkeit.

Traditionsverpflichteter Rückgriff auf das Bismarck-Reich ist problematisch auch wegen der tiefen Kluft, die damals die politische Linke vom Staat trennte. Narben zeigen sich noch heute, und das Thema Sozialdemokratie und Nation liefert immer noch Wahlkampfmunition für die politische Rechte.

Dem deutschen Proletariat blieb durch die enge Verbindung konservativen Bürgertums mit dem Nationalstaat obrigkeitlicher Prägung demokratisches Nationalbewußtsein verschlossen; Proletariat und Nation gerieten in Spannung zueinander: Der Kampf der auf Demokratie drängenden Linken gegen Bürgertum und Obrigkeit richtete sich zwangsläufig auch gegen den Nationalstaat. Die internationale Solidarität der Arbeiterklasse bot Zuflucht, und die brachte die Sozialdemokraten wiederum in den Verdacht, vaterlandslose Gesellen zu sein. Aus nationaler Not

eine europäische Tugend?

Die deutsche Staatsgesellschaft wies noch in der Weimarer Republik nur ein Homogenitätsmedium auf: das nationale, eingefärbt mit feudal-militärischen und bildungsbürgerlichen Elementen. Wer Reserveoffizier und Korpsstudent war, galt als »nationaler Mann«, und der Gleichschritt uniformierter Kolonnen wurde zum Cantus firmus der deutschen Gesellschaft. Sozialismus stand für antikaiserlich, antinational und antivölkisch.

Als der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, wollte der Kaiser plötzlich keine Parteien mehr kennen, sondern nur noch Deutsche. Die SPD ging auf den »Burgfrieden« ein und bewilligte am 4. August 1914 im Deutschen Reichstag die verlangten Kriegskredite, Sozialdemokraten gingen für die nationale Sache ins Feld. Aber auch dieser Integrationsversuch führte nicht zur Versöhnung. In der Weimarer Republik galt die deutsche Sozialdemokratie in bürgerlichen Kreisen als »Dolchstoß«-Partei, die im November 1918 der »im Felde ungeschlagenen« Truppe in den Rücken gefallen sei, als Partei der nationalen Schande -- wegen der Unterschrift des Sozialdemokraten Hermann Müller unter den Friedens-Vertrag von Versailles, als Partei territorialer Verzichte und nationalen Ausverkaufs.

Bis heute ist die Sozialdemokratie den Verdacht nationaler Unzuverlässigkeit nicht losgeworden. Die SPD-Ostpolitik wurde als Verzichtspolitik diffamiert, Adenauers Bereitschaft, auf das Saarland zu verzichten, dagegen als Versöhnungspolitik mit Frankreich gelobt. In der Sicherheitspolitik muß die SPD den Vorwurf des Ausverkaufs nationaler Interessen ebenso fürchten wie in der Staatsschutzpolitik den Verdacht der Nachgiebigkeit gegenüber dem internationalen Kommunismus. Begreiflich, daß die SPD angesichts solcher Vorwürfe (oder auch nur in Erwartung solcher Angriffe) sich immer wieder als besonders staatstragend geriert und dadurch mit dem eigenen Selbstverständnis in Konflikt gerät und Erwartungen enttäuscht.

Die Weimarer Republik ist bis heute bei uns mit eher negativen Vorstellun-

* Erster Dampfstielhammer der Firma Krupp. 1861 eingeführt.

gen verbunden. Obwohl viele Straßen und Plätze, politische Bildungsstätten und Vereine die Namen von Weimarer Politikern tragen, ist die erste deutsche Republik unpopulär geblieben. Nur in Schulbüchern finden sich noch Hinweise darauf, daß dieser Staat große Männer, auch große politische Ideen hervorgebracht hat und die Weimarer Verfassung als Vorlage des Bonner Grundgesetzes diente. Statt stabiler Bestandteil deutscher Politiktradition zu werden, dient die Weimarer Republik noch heute als Abschreckung.

Bezeichnend, daß dabei nicht in erster Linie auf die antidemokratischen Züge der Weimarer Republik abgestellt wird; wilhelminische Staats- und Gesellschaftstraditionen wurden ja durchaus konserviert. Statt dessen denkt man bei »Weimar« an demokratische Parteienvielfalt. Ideologische Zerrissenheit und institutionelle Unsicherheit wurden der demokratischen Staatsform als solcher angelastet. Der Weimarer Staat gilt somit vielen heute als das, was er in den Augen der meisten Deutschen damals war: ein Staat politischer Ohnmacht und nationaler Schmach.

Der deutsche Nachfolgestaat hat es schwer mit seiner Geschichte. Zu vielfältig sind die Traditionsströme, zu problematisch die Verknüpfungen mit gegenwärtigen politischen Aufgaben.

»Kein anderes Land ist von seiner Geschichte vor 1945 so abgeschnitten, ist so weitgehend konditioniert durch das letzte Vierteljahrhundert«, urteilt der französische Politologe Alfred Grosser. Besonders im Vergleich zu Frankreich zeigt sich, daß »Geschichtsverlust« genannt wird, was in Wahrheit aber nichts anderes als die Schwervereinbarkeit einander ausschließender Traditionen ist.

»Vercingetorix, Jeanne d'Arc und Napoleon sind in der französischen

* Mit Reichskanzler Wirth beim Verlassen des Reichstagsgebäudes.

Vorstellungswelt lebendig, während Otto der Große, Friedrich der Große und der Eiserne Kanzler im deutschen öffentlichen Bewußtsein keine wirkliche Rolle mehr spielen«, so Grosser weiter. »Der Bruch mit der Vergangenheit ist in Deutschland sehr viel spürbarer als in den anderen Industrieländern.«

Nach dem Kriege schien sich für die Bundesrepublik ein Weg zu öffnen, der aus den Schwierigkeiten mit dem deutschen Nationalstaat herausführen könnte: Europa. War die Zeit der Nationalstaaten nicht ohnehin vorbei? War Deutschland nicht prädestiniert, Wege in übernationale Gemeinschaften zu weisen? Ließ sich aus nationaler Not nicht eine europäische Tugend machen?

Der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann meinte das, als er sagte, ein guter Deutscher könne nur ein Europäer sein.

Karl Jaspers ging noch weiter: »Die Geschichte des deutschen Nationalstaats ist zu Ende, nicht die Geschichte der Deutschen«, schrieb er. »Was wir als große Nation uns und der Welt leisten können, ist die Einsicht in die Weltsituation heute: daß der Nationalstaatsgedanke heute das Unheil Europas und nun auch aller Kontinente ist. Während der Nationalstaatsgedanke die heute übermächtig zerstörende Kraft der Erde ist, können wir beginnen, ihn in der Wurzel zu durchschauen und aufzuheben.«

Sollte jetzt am deutschen Wesen zwar nicht die Welt, so doch Europa genesen? Jedenfalls erwachte im Vergleich zu anderen europäischen Ländern in Westdeutschland ein besonderer Sinn für übernationale Solidarität. Doch dann konfrontierte die Formel von dem »Europa der Vaterländer« auch die Westdeutschen wieder der Frage nach der eigenen Identität, dem Problem, welches Geschichtsbewußtsein zu wecken, zu pflegen und zu tradieren sei.

Die Geschichtslehrer in den Schulen sind weithin ratlos. Manche meinen, es könnten nur Identifikations-»Angebote« gemacht werden, »Multiperspektivität« müsse möglich sein, andere wollen Geschichte nach Maßgabe des Möglichen gegen den Strich bürsten. Gewarnt wird vor »affirmativem Geschichtsunterricht«, gefragt ist »kritische Aufarbeitung«.

Stärker als im Geschichtsunterricht anderer Nationen schlägt in der Bundesrepublik die politische Position des einzelnen Lehrers durch. Jeder bedient sich deutscher Geschichte als eines Reservoirs, dessen er politisch bedarf. »Die Verlockung,

tabula rasa zu machen.«

Für den einen sind die Bauernkriege, für die anderen die Staufer erinnerungswürdig. Entdecken die einen Sozialgeschichte als längst fälligen Kontrapunkt zu den Männern, die Geschichte machen, beschwören andere Deutschlands Größe gerade in Gestalten wie Bismarck, von dem Johannes Gross sagt: »Bismarck einigte die Deutschen zwar, aber bis heute sind sie nicht einig über ihn. Aus lauter Antithesen läßt sich kein Geschichtsbild malen, die Deutschen haben keines oder mehrere, was auf dasselbe hinausläuft.«

Von rechts gesehen erscheint die deutsche Geschichtslosigkeit als Ergebnis eines unverzeihlichen Eskapismus. »Zugestanden: Das geschichtliche Erbe, das die deutsche Jugend heute vorfindet, nimmt sich auf den ersten Blick nicht erfreulich aus«, meint der Publizist Armin Mohler, »darum ist die Verlockung groß, kurzerhand alles über einen Kamm zu scheren und tabula rasa zu machen. Stempelt man die Generationen der Väter zu Verbrechern (oder, im Extremfall, alle vorausgehenden Generationen bis zu Arminius zurück), so glaubt man, die Verantwortung für dieses Erbe los zu sein.«

Von links wird der »Urlaub von der Geschichte« den Etablierten angelastet, den Mächtigen, denen der politische Immobilismus gut zupaß komme. »Eine wahrhaft diabolische Verzahnung von historischen und psychologischen Umständen hat es zuwege gebracht«, vermutet Carl Amery, »daß die Herrschaft in Westdeutschland einer Schicht zugefallen ist, die bereits seit geraumer Zeit mit der Abwehr der Geschichte zu tun hat.« Und scharfsinnig warnte der US-Historiker Fritz Stern: »Der geradezu gewollte Verlust der Geschichte ist besonders beunruhigend in diesem Land, wo die Vergangenheit die Gegenwart in einem außergewöhnlichen Grade beherrscht, wo die Vergangenheit sozusagen unauslöschbar ist.«

Die Verlockung, sich deutscher Geschichte anzunehmen, scheint in der Jugend tatsächlich gering. Drei Würzburger Gymnasiasten, die vor Jahren zum zweitenmal den Bundesschülerpreis für Geschichte gewonnen hatten, antworteten auf die Frage, ob sie nun auch Geschichte studierten, allesamt, Geschichte, wie sie an den Universitäten betrieben würde, sei ihnen zu langweilig. Sie wollten sich an etwas Greifbares halten; sie studieren Naturwissenschaften.

Fast alle europäischen Staaten kennen in ihrer jüngsten Geschichte Phasen, deren genaue Beschreibung sich in Geschichtsbüchern schlecht ausnehmen würde. Doch keines ist in seiner Identität so nachhaltig beschädigt wie das deutsche Volk: Der Nationalsozialismus war für die Geschichte der deutschen Nation von 1945 bis in die Gegenwart »konstitutiv« und bleibt es vermutlich noch lange.

Beide deutschen Staaten verdanken ihre Entstehung dem Zusammenbruch des Dritten Reichs. Das NS-Regime gibt auf diese Weise bis heute eine Art definitorischen Gegner für unser politisches Selbstverständnis ab. Der Nationalsozialismus ist weiter Thema, das läßt sich schon im Bonner Grundgesetz ablesen. Die Formulierung des Gleichheitssatzes, beispielsweise, findet in keiner anderen Verfassung der Welt eine Parallele: »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.«

Dreißig Jahre früher, bei der Gründung des ersten deutschen demokratischen Staates, gab das feudal-obrigkeitliche Regime den »definitorischen Gegner« ab, ebenfalls am Gleichheitssatz erkennbar: »Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben. Adelsbezeichnungen gelten nur als Teil des Namens und dürfen nicht mehr verliehen werden. Titel dürfen nur verliehen werden, wenn sie ein Amt oder einen Beruf bezeichnen; akademische Grade sind hierdurch nicht betroffen. Orden und Ehrenzeichen dürfen vom Staat nicht verliehen werden. Kein Deutscher darf von einer ausländischen Regierung Titel oder Orden annehmen.«

In der Bundesrepublik müssen ganze Rechtsinstitute als Antwort auf das Dritte Reich verstanden werden. Dazu gehört das Bundesverfassungsgericht, aber auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. In anderen Verfassungen der Erde ist es gesetzlich geregelt, bei uns hat es Verfassungsrang. Im Klassischen Grundrechtskatalog taucht im Zusammenhang mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit auf diese Weise das rechtssystematische Kuriosum eines »antragsbedürftigen« Grundrechtes auf.

Als konstitutiv erweist sich der Nationalsozialismus auch in der öffentlichen Erregung, wenn große politische und gesellschaftspolitische Entscheidungen anstehen. Die Aufrüstung der Bundesrepublik, die Regelung des Ausnahmezustandes, der Radikalenerlaß, das Abtreibungsgesetz wurden stets im Rückgriff auf nationalsozialistische Ideologien und Praktiken diskutiert.

Die Radikalität der Protestbewegung in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren muß trotz ihrer Verbindung mit ähnlichen Vorgängen in anderen Ländern auch als eine späte Reaktion auf das NS-Regime gewertet werden. Die Studenten meinten, die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches versäumte »Stunde Null« nachholen und ernstlich mit der demokratischen Erneuerung Deutschlands beginnen zu müssen. Gewisse Züge des westdeutschen Terrorismus sind ohne diese verspätete Front gegenüber dem Dritten Reich nicht zu verstehen.

In dem Romanessay »Die Reise« von Bernward Vesper (dem Sohn des NS-Schriftstellers Will Vesper) findet sich folgende Beschreibung der »konstitutiven« Rolle Hitlers für die Protestgeneration: »Ja, ich wußte genau, daß ich Hitler war, bis zum Gürtel, daß ich da nicht herauskommen würde, daß es ein Kampf auf Leben und Tod ist, der mein Leben verseucht, seine gottverdammte Existenz hat sich an meine geklebt wie Napalm, und wenn ich auch eigentlich ganz andre Sachen vorhabe ... ich muß versuchen, die brennende Flamme zu löschen, aber es ist gar nicht Hitler, ist mein Vater, ist meine Kindheit, meine Erfahrung, bin ich ...«

Im biographischen Sinne konstitutiv war der Nationalsozialismus für mindestens drei Generationen: diejenigen, die in der Weimarer Republik aufwuchsen, dem NS-Regime als Männer oder junge Männer dienten und nach dem Krieg den Wiederaufbau unternahmen, die Bundesrepublik gründeten und sie zu einem der mächtigsten Staaten der Erde machten; die Generation derer, die im Dritten Reich, in seinen Organisationen und seiner Armee ihre Jugend erlebten; und schließlich die Generation derer, die zwar erst nach dem Kriege geboren wurden, für die das Thema Nationalsozialismus aber bis heute aktuell blieb. Erst jetzt wächst eine Generation heran, der dieses Thema allmählich entrückt.

Eine nicht zu unterschätzende Wirkung hat der Nationalsozialismus bis heute auf das Parteiensystem der Bundesrepublik. Unmittelbar nach dem Kriege waren es besonders die Rechtsparteien, die den Vorwurf nationalsozialistischer Gesinnung fürchten mußten. Die Sozialistische Reichspartei (SRP) wurde als verfassungsfeindlich aufgelöst. Später errang die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) auf der Höhe ihrer Erfolge in den Landtagen bis zu zehn Prozent. Sie wurde nicht verboten, wird aber bis heute vor den Hintergrund der nationalsozialistischen Ideologie plaziert.

Selbst das Wort »konservativ« war zunächst geächtet. Als der ehemalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier in den fünfziger Jahren auf einem Parteitag die CDU eine konservative Partei nannte, gab es deutlichen Widerspruch. Der deutsche Konservatismus hatte Hitler zwar nicht in jedem Falle unterstützt, aber doch auch nicht wirksam bekämpft und ihm schließlich politisch den Weg freigegeben.

Die rechten Flügel der großen bürgerlichen Parteien CDU und CSU werden zuweilen mit dem Vorwurf faschistischer Gesinnung belegt. Dieser Verdacht, der auch in anderen Ländern gegenüber den rechten Rändern konservativer Parteien gehegt wird, wiegt in Deutschland schwerer. In Frankreich hat weder die Dreyfuss-Affäre noch die Action francaise, noch das Vichy-Regime oder der Algerienkrieg die französische Rechte in ein solches moralisches Dilemma gebracht wie der Nationalsozialismus die politische Rechte in Deutschland.

Der politische Rechtsextremismus wird in Deutschland unter dem Gesichtspunkt der Gefahr einer Wiederkehr nationalsozialistischer Brutalität gesehen. Das Umstürzen von Grabsteinen auf jüdischen Friedhöfen, an Wände gemalte Hakenkreuze oder Nazilieder, im trunkenen Zustand von Soldaten gesungen, genügen, um Bonner Bundesministerien besorgte Recherchen anstellen zu lassen. So verständlich das Urteil des SPD-Bundesgeschäftsführers Egon Bahr ist, die Bundesrepublik sei im Blick auf das geringe Ausmaß an Rechtsextremismus im Vergleich zu anderen Staaten »stinknormal«, so verständlich ist eben auch die Sorge von 26 500 Juden in der Bundesrepublik, ein Flugblatt mit der Drohung »Wir kommen wieder« kündige den Beginn neuer Leiden an.

Nicht nur die Beurteilung des Rechtsextremismus, sondern auch die politische Bewertung des Linksextremismus wird durch die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus bestimmt. Die Gleichung »rot gleich braun« wurde begünstigt durch eine Theorie, die selber eine Folge des Nationalsozialismus ist: die Totalitarismustheorie.

Diese Lehre, von deutschen Emigranten in Amerika entwickelt, behauptet, Kommunismus und Faschismus seien wesensverwandt. Für den Beweis prinzipieller Gleichheit hebt sie auf ähnliche Erscheinungsformen und Methoden einer Politik ab, die eine Staatsgesellschaft in den Gleichschritt uniformierter Kolonnen zwingt.

Niemand kann leugnen, daß es einem von Rechtsunsicherheit, Verfolgung und Mord Bedrohten einerlei ist, ob die Schergen, die ihn in früher Morgenstunde abholen, auf ihren Uniformen Hakenkreuze oder Sowjetsterne tragen. Dennoch gibt es Unterschiede, die nicht nur von theoretischem Interesse sind, etwa den zwischen der NS-Rassenideologie und der marxistischen Klassentheorie.

Der Glaube an die Überlegenheit einer Rasse ist eine biologistische Ideologie. Der marxistische Klassenbegriff ist dagegen ein soziologischer Begriff von erheblicher Erkenntniskraft. Ziel der marxistischen Theorie ist die klassenlose Gesellschaft. Ziel des Nationalsozialismus war die Herrschaft einer Rasse über »Untermenschen«, die es entweder auszutilgen oder für alle Zeit als Sklaven zu unterwerfen galt.

Solche Unterschiede wurden schon in den fünfziger Jahren an deutschen Schulen nicht mehr gelehrt. Später besiegelte ein Beschluß der Ständigen Konferenz der Kultusminister die inzwischen fest eingeschliffene Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus. In diesem Beschluß heißt es: »Die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus gehört zu den wesentlichen Aufgaben der politischen Bildung unserer Jugend. Die Lehrer aller Schularten sind daher verpflichtet, die Schüler mit den Merkmalen des Totalitarismus und den Hauptzügen des Bolschewismus und des Nationalsozialismus als den wichtigsten totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts vertraut zu machen.«

Die Totalitarismustheorie wurde besonders von unbelehrbaren Nationalsozialisten geschätzt. Sie gab ihnen die Möglichkeit, im Kommunismus einen Feind zu bekämpfen, den Hitler schon als Weltfeind Nr. 1 bezeichnet hatte. Die Totalitarismustheorie erwies sich damit als die wirksamste politische Entlastung. Den auf die eigene Verantwortung zielenden Pfeil lenkte sie in die Front gegen den gefährlicheren, weil noch unbesiegten Vertreter des Totalitarismus ab. Auf diese Weise entstand ein Bollwerk, dessen demokratische Qualität zumindest fragwürdig war: Alte Nationalsozialisten kämpften zusammen mit neuen Demokraten gegen den Kommunismus.

Die Totalitarismustheorie hat in der Bundesrepublik inzwischen zu einer handfesten Rechtspraxis geführt, welche die in ihr schlummernde Gefahr der Einäugigkeit nicht immer vermeidet, nach dem Motto eines Titels in der »Deutschen Zeitung": »Der braune Popanz und die rote Gefahr«.

Die Tabuisierung der Marktwirtschaft hat für viele heute schon Verfassungsrang. Sie wird häufig mit dem Hinweis auf die Planwirtschaft des Dritten Reiches begründet. Ob dieser Bezug in sich selbst stimmig ist oder nicht, die Argumentation als solche bewährt sich bis in die Gegenwart als probates Mittel gegen unerwünschte Formen staatlicher Einschränkung von Unternehmerfreiheit. Wer die »Freiheit der Wirtschaft« antastet, will Planwirtschaft, wer Planwirtschaft will, ist ein Nazi -- oder ein Kommunist,., Der Weg zur Knechtschaft« verbindet beide.

Die vom Nationalsozialismus erzwungene ideologische Konformität führte nach dem Kriege zu einer Forderung und Vorstellung völliger Ideologiefreiheit, wie sie in anderen Ländern unbekannt ist. Diese »Ideologie der Ideologielosigkeit"' wie sie besonders von den Kirchen, aber auch von den politischen Parteien vertreten wurde, hat den Weg in die Demokratie erschwert.

Ob wünschbar, brauchbar oder leider unvermeidlich, Ideologien gehören zur Politik hinzu. Und im Falle der pluralistischen Demokratie gehört Ideologie in den Plural gesetzt: Der Kampf um politischen Einfluß spielt sich unter anderem als Kampf verschiedener politischer Ideologien ab. Wer sich selbst und seine politische Position für ideologiefrei, den Gegner aber für einer Ideologie verhaftet hält, ist schwerlich Demokrat,

Kaum wiedergutzumachenden Schaden hat das NS-Regime für die Tradition deutscher Wissenschaft und Kunst angerichtet. Nie je wurde kulturelle Überlieferung in Deutschland so stark gestört, so tief unterbrochen wie durch diese zwölf Jahre der »Ausmerzung« und der Ausweisung, des Verbots und der Gleichschaltung.

Der Nationalsozialismus -- ein »Stoß in die Modernität«.

Noch so begierige Aufnahme der Emigrantenliteratur, der »entarteten Kunst« nach dem Kriege konnte den ungeheuren Traditionsbruch nicht heilen, die Leere nicht füllen, die dieses Regime hinterließ, das sich selbst vorgenommen hatte, buchstäblich »barbarisch« zu sein. Die Stillosigkeit der fünfziger Jahre ist ein bis heute sichtbares Indiz für den Erfolg des Nationalsozialismus im »Ausradieren«.

Im wissenschaftlichen Bereich waren es besonders die Kultur- und Sozialwissenschaften, die nach dem Kriege den Anschluß an den internationalen Standard nur schwer wiederfanden. Viele deutsche Namen amerikanischer Soziologen, Psychologen und Politologen zeigen den großen Verlust durch erzwungene Emigration an. Erst unter erheblichen Anstrengungen ist es der westdeutschen Sozialwissenschaft inzwischen gelungen, sich aus dem drohenden Provinzialismus zu befreien.

Handelte es sich bei den bisherigen Punkten sämtlich um »dysfunktionale« Ergebnisse nationalsozialistischer Politik, so öffnet folgender Gesichtspunkt Perspektiven, die teilweise vom Dritten Reich selber gewollt waren. Das jedenfalls ist der Kern der sogenannten Modernisierungsthese: Der Nationalsozialismus habe für die deutsche Gesellschaft einen »Stoß in die Modernität« bedeutet, in Grenzen auch eine soziale Revolution. Dieser Tatsache verdanke die Bundesrepublik, daß sie eine moderne und nicht mehr die wilhelminische Gesellschaft sei.

»So, wie die Herren der neuen Länder in unserer Zeit die Stammesloyalitäten der Menschen zerbrechen müssen, um ihre Herrschaft zu etablieren, so mußten die Nationalsozialisten die überlieferten -- und in ihrer Wirkung antiliberalen -- Loyalitäten zu Region und Religion, Familie und Korporation zerbrechen, um ihren totalen Machtanspruch durchzusetzen«, meint Ralf Dahrendorf, ein Hauptvertreter dieser These. Sein Resümee: »Hitler brauchte die Modernität, so wenig er sie mochte.« Der Volksgenosse habe die Wiederkehr des wilhelminischen Untertans verhindert.

Schon 1933 hatte übrigens Thomas Mann die Ambivalenz von nationalsozialistischer Ideologie und Politik bemerkt, als er über Hitlers erste Taten notierte: »Der widerlich modernistische Schmiß, das psychologisch Zeitgemäße darin, in Anbetracht der kulturellen, geistigen und moralischen Rückbildung. Das keß Moderne, Tempogemäße, Futuristische im Dienste der zukunftsfeindlichen Ideenlosigkeit, Mammutreklame für nichts. Schauderhaft und miserabel.«

Dahrendorfs These blieb nicht unbestritten: »Ist es wahr, daß die Hindernisse totalitärer Herrschaft auch die der Demokratie sind, der totalitäre Herrschaftsanspruch also zum Wegbereiter liberaler Demokratie wird?« Der Historiker Peter Graf Kielmansegg verneint diese Frage und meint, der Nationalsozialismus sei »schwerlich eine angemessene Vorbereitung der Bürger auf die heute geforderte Staatsbürgerrolle« gewesen. Wilhelminische Unmündigkeit sei nur durch eine andere Unmündigkeit abgelöst worden: durch moderne Manipulation.

Kielmansegg sieht eher in Krieg und Zusammenbruch den (also wieder unfreiwilligen) Grund für eine gewisse Modernisierung. Der verlorene Krieg habe den Untergang der alten Eliten und den notwendigen Wandel des politischen Bewußtseins gebracht. Jetzt erst sei der politische Umsturz von 1918 sozial eingelöst worden. Deutschland habe sich nicht wie andere Völker durch soziale Revolutionen, sondern durch kriegerische Akte der Selbstzerstörung von seiner Vergangenheit getrennt.

Kielmansegg vermutet, der Kontinuitätsbruch sei auf diese Weise gründlicher ausgefallen, als dies in Revolutionen geschähe. Das trifft im Blick auf die Kontinuität der Eliten teilweise zu. Aber die Frage bleibt, ob militärische Niederlagen als solche schon einen Wandel zum demokratischen Bewußtsein bewirken oder ob es noch anderer Beweggründe dafür bedarf. Im nächsten Heft

Die Bundesdeutschen und ihr Staat: Bürger oder Untertan?

Sylvia Greiffenhagen
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