Woran denken Sie zuerst, wenn vom Staat die Rede ist?« 44 Prozent der Westdeutschen dachten 1971 dabei an Regierung, 19 Prozent an Staatsgebiet, zwölf Prozent an Gesetze, sieben Prozent an Staatsbürger und vier Prozent an politische Institutionen.
In Frankreich dachten 24 Prozent zuerst an die Gemeinschaft der Bürger (L'ensemble des citoyens), 23 Prozent an die Regierung, vierzehn Prozent an Gesetze und elf Prozent an politische Institutionen.
Das sind aufschlußreiche Unterschiede. Wem bei »Staat« zuerst die Bürger einfallen, hält etwas von Volkssouveränität. Wer bei »Staat« dagegen zuerst an die Regierung denkt, offenbart ein eher autoritäres Politikverständnis. Wenn nach einem Vierteljahrhundert demokratischer Praxis nur sieben Prozent auf den Staatsbürger kommen, darf vermutet werden, daß ältere deutsche Traditionen immer noch durchschlagen -- die des Obrigkeitsstaats, mit der säuberlichen Trennung von Staat und Gesellschaft:
Nur der Staat hatte mit Politik zu tun und Politik zu treiben. Die Gesellschaft -- Wirtschaft und Wissenschaft, Verbände und Familie -- hatte sich zu enthalten. Selbst die Parteien gehörten im konstitutionellen Obrigkeitsstaat in den Bereich der Gesellschaft.
Der Obrigkeitsstaat, der sei neutral und allzeit nur dem Gemeinwohl verpflichtet. Das Beamtentum repräsentiere, gemeinnützig, Einheit, Ordnung und Stabilität, während Interessen Unruhe und Dynamik ins Spiel brächten. Die Lebenslüge, frei von Gruppeninteressen zu sein, wurde dem Obrigkeitsstaat lange abgenommen.
Absolute Gefolgschaft gegenüber staatlicher Autorität, politische Apathie, Nichteinmischung in Dinge, die nicht »seines Amtes« waren -- solche Tugenden machten im Obrigkeitsstaat den Untertanen aus. Dem Bürger wurde das Eingeständnis politischer Inkompetenz zugemutet. »Sachprobleme« hätten Regierung und Beamtentum zu bewältigen.
Obendrein wurde absolute Loyalität verlangt, und mehr: volle emotionale Identifikation. Der Obrigkeitsstaat wollte geliebt werden: als Herrscherhaus, Vaterland, Nation, in seinen Symbolen und Uniformen. (Das Gegenbild demokratischer »Obrigkeit« hat Bundespräsident Gustav Heinemann formuliert. Als ihn ein Reporter fragte, ob er den Staat liebe, gab er zur Antwort: »Ich liebe meine Frau.")
Der Staat aber blieb dem deutschen Bürger fern und in dieser Ferne gleichzeitig Gegenstand von Furcht und Verehrung. Die Klammer bildete eine Ethik von Pflicht und Gehorsam, die nach Gründen selten fragte.
Befragungen förderten zutage, daß auch den Westdeutschen Politik vielfach noch eine lästige Angelegenheit ist, der man, wenn unumgänglich, nachkommt, in Erfüllung einer staatlichen Pflicht. Beispielhaft dafür ist die in der Bundesrepublik sehr hohe und gleichzeitig sehr konstante Wahlbeteiligung (seit 1953 immer über 86 Prozent). Von dieser Tatsache aber auf eine stabile Demokratie oder stabile Demokraten zu schließen wäre voreilig: Die Bürger kommen ihrer Wahl"Pflicht« nach, wie sie ihrer Steuerpflicht, Impfpflicht oder Schulpflicht nachkommen.
Befragt nach den Tugenden eines Staatsbürgers, ordneten die Westdeutschen 1971 die vorgegebene Feststellung »beachtet die Gesetze und Vorschriften« an erster Stelle mit 95 Punkten ein, »geht regelmäßig zur Wahl« mit 85 Punkten, und die Meinung »ist Parteimitglied« erzielt gerade noch 14 Punkte. Nicht der Wille nach politischer Beeinflussung oder gar Teilnahme scheint das wichtigste Motiv dafür zu sein, daß der Bundesdeutsche zur Wahl geht, sondern ein Pflichtgefühl, das sich früher anderen politischen Forderungen gegenüber äußerte: nicht die Aussicht, an der politischen Willensbildung und Machtverteilung mitzuwirken.
Ähnliches gilt für den politischen Kenntnisstand, das Maß an politischen Informationen. Hier schnitten schon 1959 die Deutschen im Vergleich zu den USA, Großbritannien, Italien und Mexiko am besten ab. Aber auch hier scheint es sich wohl eher um eine Pflichtübung als um originäres politisches Interesse zu handeln. Man ist eben politisch »beschlagen«. Auf die Frage »Interessieren Sie sich für Politik?« antworteten im Februar 1977 nur 49 Prozent der Bevölkerung mit Ja (42 Prozent »nicht besonders«, neun Prozent »gar nicht"). Zwischen beiden Befunden, dem hohen Informationsgrad und dem geringen politischen Interesse, besteht eine Spannung.
Jeder zweite halt sich für politisch einflußlos.
Die Vermutung, solche Widersprüche gründeten in einer Langzeitwirkung alter obrigkeitsstaatlicher Einstellungen, wird von einem anderen Befragungsergehnis genährt. »Politik ist ein schmutziges Geschäft«, meinte 1977 immer noch über die Hälfte der Westdeutschen (24 Prozent »ja«, 29 Prozent »eher ja"). Dieses Urteil hat, wie man weiß, eine lange politische Tradition der Trennung von politischer Macht und moralisch-privater Innerlichkeit.
Wer den hohen Kenntnisstand und die hohe Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik ohne weiteres für ein Zeichen demokratischer Gesinnung nehmen wollte, muß sich noch mit anderen Ergebnissen herumschlagen, die diesem Urteil widersprechen. »In der Politik kann man sich nicht zurechtfinden, weil das meiste hinter den Kulissen passiert« -- dieser Meinung waren 1977 genau 61 Prozent (26 Prozent »ja«, 35 Prozent »eher ja") der westdeutschen Bevölkerung. Dieses Urteil erinnert eher an die geheime Kabinettspolitik eines absoluten Staates als an eine parlamentarische Vergangenheit.
Das gilt auch für die Ansicht »Die Politiker kümmern sich nicht viel darum, was der kleine Mann sagt und denkt«. Diese resignierende Einschätzung unterschreiben 65 Prozent der Westdeutschen. Auch wenn deutlicher nachgefragt wird, bleibt fast die Hälfte dabei: »Haben Sie das Gefühl, daß man als Bürger einen Einfluß auf die Entscheidungen der Bundesregierung hat, oder ist man da machtlos?« 47 Prozent der Bevölkerung meinten, man sei machtlos. Für die Deutschen der demokratischen Bundesrepublik ist der Staat offenbar noch sehr fern, für den »kleinen Mann« gar unerreichbar.
Diesem Urteil entspricht ein anderes, noch bedenklicheres. Es enthält mit Sicherheit die größere Fehleinschätzung, wenngleich es die Staatsferne nur in entgegengesetzter Richtung kennzeichnet. Die Frage lautete: »Wie groß ist der Einfluß des Staates auf Ihr persönliches Leben?« Die Antworten: 47 Prozent gering, 15 Prozent nicht vorhanden (1971).
Noch starke Zuge einer Untertanenkultur.
Diese Ergebnisse scheinen auch heute noch zu bestätigen, was die amerikanischen Sozialforscher Almond und Verba gegen Ende der fünfziger Jahre über die deutsche Politische Kultur herausfanden. Ein hoher politischer Informationsstand sei verbunden mit einem geringen Partizipationswillen und einem geringen Vertrauen in die eigene politische Einflußmöglichkeit. Das westdeutsche Politikverständnis trage noch starke Züge einer Untertanenkultur: Pflichtgefühl in der Erfüllung staatlicher Aufgaben (zu denen man in Demokratien halt die Wahl zählt); im übrigen aber das Gefühl, Politik sei nicht die eigene Sache und der Staat kümmere sich wenig um die Interessen der Bürger.
Vergleicht man die westdeutsche Situation mit den empirischen Befunden über das Politikverständnis in anderen westlichen Industrienationen, so heben sich diese spezifisch deutschen Zuge deutlich von den politischen Grundmustern angelsächsischer Demokratien ab. Und dies, obwohl in solchen Ländern Anzeichen einer gewissen »Privatisierung« festzustellen sind. Dies aber hat mit Entwicklungstendenzen moderner Industrienationen zu tun und ist nicht politikgeschichtlich zu erklären. Die Bundesbürger sind mit ihrer Demokratie zufrieden.
In der Bundesrepublik mischen sich vermutlich beide Strömungen: der immer noch kräftig fließende Strom unserer politikgeschichtlichen Herkunft und eine neue Strömung von Politikferne, die ganz andere Ursachen hat, zum Beispiel eine gewisse Resignation den großen Massenparteien gegenüber oder das Gefühl, technokratisch verwaltet zu werden.
Aber es gibt auch günstigere Aspekte, besonders in jüngerer Zeit. Was hier zählt, sind keine schlagartigen Wandlungen, die plötzlich einen revolutionär veränderten Richtungssinn aufwiesen. Die empirischen Ergebnisse, in absoluten Zahlen gemessen und verglichen, sind noch nicht sehr beeindruckend. Hoffnungsvoll aber stimmen die Trends. In dreierlei Hinsicht scheint die Bevölkerung sich von obrigkeitsstaatlichen Traditionen zu lösen und demokratischen Verhaltensweisen zuzuwenden:
* Die Bevölkerung zeigt insgesamt demokratischere Einstellungen als vor 20 Jahren.
* Die jungen Generationen weisen fast durchweg demokratischere Einstellungen auf.
* Die besser Ausgebildeten haben vergleichsweise demokratischere Einstellungen. Da das Ausbildungsniveau der ganzen Bevölkerung steigt, darf man für die Zukunft auch aus diesem Grunde ein zuverlässigeres Demokratiepotential vermuten.
Ein Beispiel: Auf die Frage, ob man etwas gegen einen ungerechten oder schädlichen Gesetzentwurf, der im Bundestag beraten wird, unternehmen würde, hatten 1959 nur 40 Prozent der Bevölkerung gemeint, das könne man. 1974 waren es dagegen 59 Prozent.
Solche Ergebnisse berechtigen zwar noch nicht zu einem übertriebenen Optimismus, zeigen aber, daß langfristig eine Änderung der politischen Einstellungen durchaus möglich ist. Obrigkeitliches Denken ist kein unaufgebbares Kennzeichen deutscher Politischer Kultur, und die Bürger der Bundesrepublik Deutschland sind mit ihrer Demokratie zufrieden, zufriedener als alle anderen Völker in der Europäischen Gemeinschaft. Sie verbinden mit ihr »Toleranz« und »Gerechtigkeit«. Die große Mehrheit hält die Demokratie für eine »effektive« und »moderne Staatsform«.
Elementare Demokratiemerkmale werden jedenfalls formal akzeptiert -- zum Beispiel Parteienpluralismus wie divergierende politische Meinungen. Je länger die Westdeutschen im Mehrparteiensystem leben, desto weniger wird noch die Meinung laut, das Schicksal des Volkes sei am besten bei nur einer Partei aufgehoben.
Eher stolz auf die Wirtschaft als auf den Staat.
89 Prozent der Bevölkerung (und 94 Prozent der Jugendlichen) wissen auch, daß eine »lebensfähige Demokratie« ohne »politische Opposition nicht denkbar« ist (Stand 1968). Etwa ebenso viele sind der Meinung: »Jede demokratische Partei sollte grundsätzlich die Chance haben, an die Regierung zu kommen.« Und fast alle (93 Prozent der Bevölkerung, 97 Prozent der Jugendlichen) teilen die Ansicht: »Jeder sollte das Recht haben, für seine Meinung einzutreten, auch wenn die Mehrheit anderer Meinung ist.«
Die formalen Spielregeln der Demokratie finden also in der Bundesrepublik heute allgemeinen Zuspruch. Damit ist allerdings über eine affektive Bindung an demokratische Verhaltensweisen noch nichts gesagt. Hier sind die Ergebnisse der Umfragen nicht so günstig.
»Stolz« waren Westdeutsche, wie eine Umfrage von Almond und Verba in den fünfziger Jahren ergab, vor allem auf das Wirtschaftssystem (33 Punkte), dann erst auf die politischen Institutionen. Bei Amerikanern und Engländern war es damals genau umgekehrt -- USA: Wirtschaftssystem 23, politische Institutionen 85 Punkte, Großbritannien 10:46 Punkte.
1978 waren die Bundesbürger auf ihre Wirtschaft immer noch stolzer als auf ihr politisches System (40 gegen 31 Prozent). Je jünger die Befragten sind, desto höher ist allerdings der Anteil derer, die auf das politische System stolz sind, bei den 18- bis 28jährigen genießt es sogar Vorrang vor der Wirtschaft (38 gegen 34 Prozent).
Wie sehr in der Bundesrepublik wirtschaftliche Stabilität 1969 noch zu Buche schlug, zeigt die Reaktion auf die These: »Wenn es wirtschaftlich aufwärts geht, sollte man nicht danach fragen, ob die Politiker auch alle Gesetze und Regeln einhalten.« 37 Prozent bekundeten Zustimmung, 56 Prozent lehnten das Patentrezept ab.
Der Zusammenhang von wirtschaftlicher Prosperität und demokratischer Staatsform ist uralt und vermutlich auch wohl konstitutiv. Die Demokratie ist eine Staatsform des Friedens, des Handels, wirtschaftlicher Blüte. Das zeigt ihre Geschichte vom antiken Griechenland über das Britische Empire, von den Vereinigten Staaten bis zur Bundesrepublik. Demokratische Tugenden hatten immer auch ihre handelspolitisch nützlichen Seiten: Toleranz gegenüber Glaubensfragen, sittlichen Ordnungen und Lebensgewohnheiten war wichtige Voraussetzung internationalen Warenaustausches. Politische Repression macht sich nicht bezahlt.
Die Aufgeschlossenheit -- Athen hatte keine Mauern -- der meist dem Meer zugewandten Länder und ihrer Häfen förderte den Pluralismus auch in anderen Bereichen. Das Mehrparteien- und Oppositionsprinzip diente raschem sozialen Wandel: Industrie und Handel müssen »die Nase vorn haben
Politische Repression machte sich buchstäblich nicht bezahlt, und umgekehrt: In Zeiten wirtschaftlicher Not, in Kriegen litt das demokratische Leben. Wenn nicht wirtschaftlicher Gewinn, sondern Mangel zu verteilen ist, kommt auch der demokratische Staat in Schwierigkeiten.
Je länger Wohlstand und Demokratie nebeneinander bestehen, desto stabiler ist auch das Vertrauen in die demokratischen Institutionen, es behauptet sich dann auch in wirtschaftlichen Krisen. Erst lang anhaltender wirtschaftlicher Niedergang, wenn Hoffnungslosigkeit überhandnimmt, schlägt auch politisch zu Buch.
»Es bleibt also richtig«, schrieb Helmut Schmidt, »daß wirtschaftliche Stabilität stets ein wichtiger Beitrag zur Stabilität der Demokratie ist.« Falsch wäre jedoch die Folgerung, Demokratie sei eine Funktion ökonomischen Wohlstands. Wäre es so, hätte sich in Deutschland Demokratie viel früher durchsetzen müssen.
Wie wenig wirtschaftlicher Wohlstand allein demokratische Wertsysteme und Verhaltensweisen ausbildet, läßt sich an einem Schwachpunkt westdeutschen Demokratie-Verständnisses demonstrieren -- der mangelnden Toleranz gegenüber Minderheiten. 43 Prozent der Bevölkerung wollen der in einer Abstimmung unterlegenen Gruppe nicht das Recht auf weitere oppositionelle Äußerung in dieser Sache einräumen. Jugendliche schneiden wie meist bei solchen Befragungen wieder etwas besser ab, liefern aber immer noch 33 Prozent.
Viele Bundesbürger halten sich gern ans Etablierte. Politische Wegweisung wird eher von denen erwartet, die schon an der Macht sind.
»Alles in allem kann man der Regierung Vertrauen und sicher sein, daß sie für uns das Richtige tun wird«, meinten 1969 drei Fünftel der Westdeutschen. Und fast die Hälfte war 1971 der Ansicht: »Es ist nicht gut, wenn alle mitreden wollen. Nur wenn einige befehlen, können wir unseren Staat in Ordnung halten.«
»Subjeet competence« gegenüber »citizen competence": Untertanen kennen andere politische Kompetenzen als Bürger. Deutsche fühlen sich offenbar weniger als Engländer oder Amerikaner berufen, bei Sachen mitzureden, die in den Entscheidungsbereich von Regierung oder Verwaltung und damit überhaupt in die Hände von Sachverständigen gehören. Diese Einstellung begünstigt eine Entwicklung, die inzwischen auch in den alten Demokratien beobachtet wird, den Glauben an eine neue Staatsform, die »Technokratie«. Technokratie, das heißt die Herrschaft von Fachleuten, steht nicht prinzipiell im Widerspruch zur Demokratie; es kommt allerdings darauf an, was man unter Demokratie versteht. Dem partizipatorischen Modell, das durch möglichst hohe Bürger-Beteiligung gekennzeichnet ist, steht hier das sogenannte elitetheoretische Modell gegenüber, dem zufolge sich der demokratische Prozeß im Kampf um Führungspositionen erschöpft. Technokratie fördert Befehlen und Gehorchen.
Sind die Regierenden einmal gewählt, gehorcht ihnen das Volk wie früher den Königen. Demokratisch daran ist der prinzipiell freie Zugang zu allen politischen Ämtern. Außerdem dürfen die demokratischen Eliten während ihrer Herrschaft die Grundrechte nicht verletzen oder einschränken, weil sonst die offene Konkurrenz um die Führungsposition gefährdet würde.
Dieses technokratische Elitemodell der Demokratie kommt alten politikgeschichtlichen Strömungen in Deutschland entgegen. Es fördert eine Politik des Befehlens und Gehorchens. Eine Elite, jetzt nicht mehr des Adels, sondern der Sachverständigen, herrscht über die Massen. Es gibt somit weiter ein zweigeteiltes Gesellschaftsmodell, obwohl die alte Standesgesellschaft mit dem Untergang Preußens unwiederbringlich dahin ist und der Adel längst keine politische Bedeutung mehr hat.
Eine zweite aus deutscher Politiktradition stammende Vorstellung läßt sich ebenfalls mit dem elitetheoretischen Demokratiemodell der Technokratie verbinden, die Meinung nämlich, die herrschende Elite sei neutral. Die Lehre von der Technokratie reduziert Politik auf eine bloße »Verwaltung von Sachen«.
In der Folge werden alte politische Tugenden wieder modern: das Vertrauen der Massen in die höhere Weisheit der politischen Führung; politische Apathie derer, die nichts von der Sache verstehen und folglich den Mund halten sollen; Staatsräson als eine Mischung von Einsicht in den eigenen Unverstand und Gehorsam gegenüber den Anweisungen der Kundigen. Die Technokratie ist die moderne Form des deutschen Konservatismus.
Technokratisches Denken findet sich übrigens nicht nur auf der Rechten des parteipolitischen Spektrums, sondern auch in der SPD. Bundeskanzler Schmidt werden technokratische Neigungen nachgesagt. Nicht wenige Sozialdemokraten, die hohe und höchste Parteiämter bekleiden, verwechseln Partizipation mit Meldungen an das Parteifußvolk darüber, »was auf uns zukommt« oder »wohin der Weg geht«. Diese Orientierung sei die Parteiführung den Massen schuldig. Das ist präzis die obrigkeitsstaatliche Form von »Mitwirkung« bei hohem Wissensstand: Kompetenz des Untertanen.
Selbst dort, wo in der Bundesrepublik bürgerliche Partizipation für geboten gilt und geübt wird, spielt sich solche »citizen competence« vornehmlich in politischen Bereichen ab, die in der deutschen Tradition immer schon für solche politische Mitwirkung freigegeben waren. Das sind vornehmlich die beiden Gebiete der Legislative und der kommunalen Selbstverwaltung. In den angelsächsischen Demokratien betrifft der politische Beeinflussungswille dagegen ebenso die Exekutive.
Hier schlägt wieder die deutsche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft durch. Das Parlament gehörte im konstitutionellen Ohrigkeitsstaat nicht zum Staat, sondern zusammen mit den Parteien zum Interessenpluralismus der Gesellschaft. Die Minister waren nicht dem Parlament, sondern dem König verantwortlich. Parlamentarier für seine politischen Ziele einzuspannen galt für legitim, »den Staat unter Druck zu setzen« für ein Verbrechen.
Heute zeigt sich dieser traditionelle Unterschied in der Bewertung von Bürgerinitiativen. Nach konservativer Politikauffassung sollen sie auf die Willensbildung in den Parlamenten wirken, sich aber jedes Druckes auf die Exekutive enthalten. Einmal erlassene Gesetze sollen nicht zu Angriffspunkten von Bürgerinitiativen werden, weil damit die Grenze zwischen interessenorientiertem Gesellschaftshandeln und dem Handeln des Staates überschritten wäre. Denn der Staat, so lehrt es die Lehre von der deutschen Obrigkeit, handelt frei von Interessen und nur dem Gemeinwohl verpflichtet. Die Deutschen wollen sich politisch informieren.
Eine Ausnahme von dieser Regel macht die kommunale Verwaltung. Der preußische Staat hat seinerzeit die Institution der Selbstverwaltung geschaffen, die dem Bürger nicht nur das Recht gibt, sondern in Einzelfällen auch zur Pflicht macht, bei der Planung und Durchführung kommunaler Aufgaben mitzuwirken. Da war der Staat nicht nur auf Initiativen, sondern auch auf Kritik vorbereitet, im Interesse einer von ihm selbstgewollten Partizipation. Moderne demokratische Entwicklungen leben hier noch von den preußischen Reformen und werden in diesem Fall also von der Tradition begünstigt.
Gegen Ende der fünfziger Jahre lagen die Westdeutschen bei allen Formen aktiver Partizipation hinter den USA und Großbritannien zurück (USA 51, Großbritannien 39, Bundesrepublik 22, Italien zehn Prozent). Die Ergebnisse bezogen sich auf kommunale Politik. Gleichzeitig lieferten die Bundesdeutschen aber den höchsten Prozentsatz für die Meinung, man müsse sich politisch informiert halten (Bundesrepublik 24, USA 21, Großbritannien elf, Italien sechs Prozent).
Gut informiert auf Befehle warten, das trifft für viele immer. noch zu -- aber nicht mehr für soviele wie vor anderthalb Jahrzehnten. Denn entsprechend dem wachsenden Vertrauen in Sinn und Erfolg politischer Partizipation steigt, in Grenzen, auch die Partizipationsbereitschaft.
Nimmt man als sehr groben Indikator für politische Partizipation die Mitgliedschaft in Parteien, so nehmen nur wenige Westdeutsche aktiv am politischen Leben teil. Man hat aber sehr viel feinere Instrumente zur Messung partizipativen Verhaltens entwickelt. Grundsätzlich unterscheidet man dabei zwei Formen: konventionelles und unkonventionelles politisches Verhalten:
Zum konventionellen Verhalten zählen die Lektüre von Zeitungen, Diskussionen mit Freunden, Teilnahme an politischen Versammlungen, Kontakte mit Beamten oder Politikern, Teilnahme an Wahlkämpfen.
Die Fünf-Länder-Studie der beiden Sozialwissenschaftler Barnes und Kaase aus dem Jahre 1974 hat ergeben, daß die Bürger der Bundesrepublik, was konventionelles politisches Verhalten angeht, nach den USA kommen, deren Bürger das intensivste Partizipationsverhalten zeigen. Die Werte für Österreich, Großbritannien und Holland liegen erstaunlich niedrig, so daß die Forscher sich fragten, wie dort überhaupt parlamentarische Demokratie funktionieren kann. Nur ein Drittel der Österreicher und ein Viertel der Briten waren je auf einer politischen Versammlung. Nur sieben Prozent der Briten haben sich je an einem Wahlkampf beteiligt -- gegenüber 22 Prozent der Westdeutschen und 29 Prozent der Amerikaner.
Normalerweise beteiligten sich Jugendliche wenig am politischen Leben. Die Partizipation steigt bei den Erwachsenen bis zum Alter von fünfzig Jahren kontinuierlich an, sinkt dann wieder ab. Interessant ist, daß die jungen Westdeutschen ("Jugend« reicht hier bis zu den 29jährigen) jedoch bereits einen Partizipationsgrad aufweisen, der dem der 50jährigen entspricht. Ginge diese Entwicklung weiter, würden westdeutsche Jugendliche, wenn sie selbst einmal 50 Jahre alt sind, sehr viel aktiver sein als die heute 50jährigen.
Unkonventionelles politisches Verhalten rangiert auf einer Skala von harmlosen bis zu kriminellen Aktivitäten: Petitionen, genehmigte Demonstrationen, Boykott, Streiks (auch »wilde"), Verkehrsbehinderungen, Wandaufschriften, Hausbesetzungen, Sachbeschädigung, Gewalt gegen Personen.
Hier steht Holland an der Spitze, sowohl was die Zustimmung zu solchen unkonventionellen Maßnahmen angeht wie auch im Blick auf Teilnahme. Für Petitionen, genehmigte Demonstrationen und Boykotts sprechen sich auch in der Bundesrepublik viele Bürger aus, prozentual etwa gleich viele wie in den Niederlanden, Großbritannien und den USA.
Barnes und Kaase haben aus den beiden Grundformen politischen Verhaltens, dem konventionellen und dem unkonventionellen, eine Typologie entwickelt, die fünf Muster politischen Verhaltens unterscheidet:
* Die Inaktiven: Sie lesen höchstens eine Zeitung oder unterschreiben einmal eine Petition. Man findet sie häufig unter Alten, Frauen und bei Bürgern mit schlechter Schulbildung.
* Die Konformisten: Sie erfüllen die Merkmale der Skala des konventionellen politischen Verhaltens bis zur Teilnahme am Wahlkampf. Dies ist der politische Stil von älteren Bürgern, die auf ihre Weise am politischen Leben teilnehmen.
* Die Reformisten: Sie erfüllen die Merkmale der gesamten Skala des konventionellen Verhaltens, dazu die legalen Formen des unkonventionellen Verhaltens (Demonstration, Boykott). Unter ihnen finden sich viele Männer mittleren Alters und Bürger besserer Schulbildung. 1> Die Aktivisten: Sie erfüllen die Merkmale beider Skalen des konventionellen und unkonventionellen Verhaltens einschließlich der illegalen Formen. Unter ihnen trifft man vornehmlich auf Jugendliche, Männer und Bürger besserer Schulbildung. Nur unter den Jüngsten sind Frauen nahezu gleich stark vertreten.
* Die Protestler: Sie erfüllen fast nur die Merkmale der unkonventionellen Skala, nicht der konventionellen. Ihre politische Aktivität wechselt stark, sie machen nur ab und zu einmal mit und haben in der Regel keinen Kontakt zu etablierten Politikern. Die Protestler rekrutieren sich vornehmlich aus jungen Menschen, dazu aus schlecht ausgebildeten Männern und Frauen.
Für die Bundesrepublik ergeben sich für diese Typologie folgende Werte: Inaktive 26,6 Prozent, Konformisten 13,5 Prozent, Reformisten 24,6 Prozent, Aktivisten acht Prozent, Protestler 27,3 Prozent. Im internationalen Vergleich hat die Bundesrepublik damit > weniger Inaktive als Großbritannien oder Österreich, aber deutlich mehr als die USA und Holland; > etwa gleich viele Konformisten wie die anderen Länder .- weniger Reformisten als die USA, die den ersten Platz einnehmen;
* deutlich weniger Aktivisten als die USA und Holland;
* etwas weniger Protestler als Holland, das den ersten Platz belegt, aber deutlich mehr als die USA und Österreich.
Diese Messungen des politischen Partizipationsverhaltens werden ergänzt durch Messungen des sogenannten Repressions-Potentials. Dabei wird ermittelt, in welchem Maße und mit welchen Mitteln die Bevölkerung unerwünschtes politisches Verhalten unterbinden will. Erst beide Aspekte zusammen, das Partizipations- und das Repressions-Potential, ergeben ein einigermaßen zuverlässiges Bild.
Beispiel: Vor zehn Jahren forderte die Hälfte der westdeutschen Bevölkerung: »Wenn die Teilnehmer einer Demonstration während der Hauptverkehrszeit den Verkehr lahmlegen, muß die Straße notfalls mit Prügeln und Schlägen geräumt werden.« Inzwischen sind es weniger. Das Repressions-Potential ist in den fünf verglichenen Ländern etwa gleich groß, mit der Ausnahme Hollands, dessen Bevölkerung für Repression nicht zu haben ist. In Bürgerinitiativen
dominiert die Mittelschicht.
Aufschlußreich ist auch ein Vergleich der von den Bevölkerungen bevorzugten Formen der Repression und der Altersstruktur derjenigen, die sich für Repressionen aussprachen. Vornehmlich Westdeutsche und Österreicher fordern rechtliche und gesetzliche Vorschriften. Sie halten viel vom Verbieten und wollen durch rechtzeitige Verbote verhindern, daß sich politische Spannungen in Konflikten entladen.
Die über 50jährigen Westdeutschen bilden die Spitze in bezug auf die Härte der empfohlenen Maßnahmen. Bei den unter 30jährigen ist in der Bundesrepublik harte Repression ebenso unerwünscht wie hei den jungen Amerikanern. Dadurch unterscheiden sie sich deutlich von den Jugendlichen in England und Österreich.
Die Umfrageergebnisse zeigen, daß allgemeine Aussagen von der Art, in der Jugend sei der Mensch revolutionärer, nichts taugen. Die Theorie des »Lebenskreislaufs« wird von den Befunden der Politischen Kulturforschung stark korrigiert. Die Holländer sind sämtlich, unerachtet ihres Alters, weniger repressiv als die Österreicher, von denen alle, auch die jungen Bürger, zu harten Repressionen neigen.
Demgegenüber kann der persönliche Lebenszyklus -- mit 18 Revolutionär, mit 30 Liberaler, mit 50 Konservativer -- für die Politische Kultur eines Landes durchaus eine Rolle spielen. Das Spektrum dieser Phasen kann sich bei Vergleichen zwischen verschiedenen Ländern aber so sehr verschieben, daß die politische Haltung eines 50jährigen hier der eines 18jährigen dort entspricht.
Gut die Hälfte der westdeutschen Bevölkerung war, wie eine Emnid-Umfrage 1976 ergab, bereit, in einer Bürgerinitiative mitzuarbeiten; bei den unter 30jährigen und den Bürgern mit höherer Schulbildung waren es sogar zwei Drittel. Die Meinung, Bürgerinitiativen erreichen »sehr oft« oder »ab und zu« etwas, wurde von der Hälfte der Befragten bejaht. Nur die über 50jährigen offenbarten negative Einstellungen gegenüber Bürgerinitiativen, von denen es in der Bundesrepublik nun schon über zweitausend gibt.
Die Beurteilung von Bürgerinitiativen fällt unter dem Gesichtspunkt der Politischen Kultur Westdeutschlands ambivalent aus -- als Ausdruck traditioneller Parteienfeindlichkeit und wieder zu beobachtender Parteienmüdigkeit, aber auch als Zeichen zunehmender Bereitschaft zu politischem Engagement. Die großen Volksparteien, Allerweltsparteien, erreichen und repräsentieren offenbar die Bevölkerung nicht mehr in dem Maße wie bisher; Parteiprogramme werden farblos. Hinzu kommt bei immer mehr Bürgern das Gefühl, politisch nicht gefragt zu sein, keine Rolle zu spielen.
Alle Untersuchungen ergaben, daß in Bürgerinitiativen vorwiegend die Mittelschicht den Ton angibt; die technische Intelligenz aus Wirtschaft und Verwaltung hält sich dabei etwas zurück. Diese Beobachtung entspricht dem allgemeinen Befund stärkerer politischer Aktivität bei höherem Bildungsstand.
Sebastian Haffner meint, die Grundstimmung in den Bürgerinitiativen sei nicht revolutionär, nicht einmal reformistisch, sondern konservativ. Ernest Jouhy hält sie für eine »Höherentwicklung der repräsentativen Demokratie«, andere kommen mit ihm zu dem Schluß, Bürgerinitiativen könnten das Demokratiepotential mobilisieren.
Und genau darauf käme es an. Mehr Bürgernähe ist dringend geboten. Das zeigt die Prozedur der Kandidatenaufstellung. Der West-Berliner Politologe Bodo Zeuner hat die Rechnung für den Bundestag aufgemacht und nachgewiesen, daß die Auswahl der Kandidaten bei nur 0,12 bis 0,15 Prozent aller Wahlberechtigten liegt. Bodo Zeuner unterscheidet dabei folgende, sich stets verengende Wahlgremien:
Bevor der erste Stimmzettel in die Urne geworfen wird, stehen 60 bis 70 Prozent der Bundestagsabgeordneten bereits fest: die in einem sicheren Wahlkreis oder auf sicheren Plätzen der von den Parteien aufgestellten Landeslisten.
Auch bei den restlichen 30 bis 40 Prozent der Abgeordneten ist die Auswahl durch den Wähler erheblich beschränkt; er kann die Reihenfolge auf den Listen nicht verändern. Aussicht auf ein Direktmandat haben nur Kandidaten der CDU/CSU und der SPD. Die Personalauswahl treffen folglich nur die Parteimitglieder -- das sind drei Prozent der Bevölkerung. Da aber nicht alle Parteimitglieder an dem Auswahlverfahren teilnehmen, verengt sich die Entscheidung weiter auf den Kreis der aktiven Parteimitglieder. Das sind im Schnitt nur 20 Prozent der Parteimitglieder.
Die Parteien stellen ihre Bundestagskandidaten aber selten in Mitgliederversammlungen, sondern meistens durch Delegiertengremien auf. Die Delegierten haben nur selten einen klaren Auftrag der Mitglieder und könnten sich ihm überdies leicht in der geheimen Abstimmung entziehen. Auf 20 bis 25 Parteimitglieder -- das heißt also auf vier bis fünf aktive Mitglieder -- kommt ein Delegierter.
Geht man von den Wahlkreisdelegierten als den eigentlichen »Wählern« für die Kandidatenaufstellung aus, so bedeutet dies eine Verengung der Personalentscheidung auf 20 bis 25 Prozent der aktiven Parteimitglieder oder auf vier bis fünf Prozent aller Parteimitglieder oder auf 0,12 bis 0,15 Prozent aller Wahlberechtigten.
»In Wirklichkeit geht die Verengung ... noch erheblich weiter«, meint Zeuner, »denn in den Wahlkreisen fällt die Entscheidung häufig in kleinen Vorstandsgremien, über die Landeslisten entscheiden ohnehin die Spitzengremien der Parteien auf Landesebene.«
Abhilfe wäre möglich, wie Regelungen in anderen Ländern zeigen. In Holland ist beispielsweise die Beteiligung aller Parteimitglieder an der Kandidatenaufstellung durch Briefwahl möglich. In den USA gibt es die Vorwahlen, hei denen die Anhänger einer Partei öffentlich über die Kandidaten ihrer Partei entscheiden. Durch direkte Einwirkung der Parteimitglieder -- oder gar der Wahlbürger würden taktische oder auch ganz und gar unsachliche Rücksichten der Parteiführung oder der Wahlkreise vermieden. Heraus käme wahrscheinlich ein Parlament, das seine Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive besser ausüben könnte.
Die seit zwei Jahren auftauchenden bunten Umweltschutz-Parteien weisen sämtlich die Ambivalenzen auf, die auch für Bürgerinitiativen gelten. Die Sorge, in ihnen schlage Althergebrachtes aus der deutschen Geschichte wieder durch, ist gewiß nicht unbegründet. In jedem Fall sind sie aber eine unbequeme Anfrage an die Funktionsfähigkeit des etablierten Parteiensystems. Dieser Meinung ist auch die Bevölkerung der Bundesrepublik. 45 Prozent (Jugend 53 Prozent) begrüßen, daß die Bunten »die Parteien wachrütteln«.
Eine der wichtigsten Institutionen der parlamentarischen Demokratie ist die Opposition. Ihre politische Rolle ist vielen Bürgern der Bundesrepublik in dem entscheidenden Punkt immer noch nicht klar, nämlich daß sie, als Kontrolle ("Kont-rolle") der Regierung, ihr im buchstäblichen Sinne ein Gegenspiel liefern, sie kritisieren, ihr auf die Finger sehen soll und Alternativprogramme entwickeln muß. Mehr als zwei Drittel der westdeutschen Bevölkerung waren noch 1968 der Meinung: »Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen.«
Die Verachtung des Kompromisses hat eine lange Tradition.
Die Abneigung gegen die Konfliktkomponente in der Demokratie ist auch heute noch ungebrochen. Die Vorstellung, Politik sei nicht dazu da, Streit auszutragen, sondern Streit zu vermeiden, geht quer durch alle Bereiche:
* »Das Wichtigste für eine Partei sind Einigkeit und Geschlossenheit« -- meinten 1977 noch 85 Prozent der Bundesbürger. 1973 waren es nur 65 Prozent. Vermutlich bestärkten die innenpolitischen Belastungen der letzten Jahre den Sinn für »Geschlossenheit«.
* »Gesprächen über Politik gehe ich gerne aus dem Weg, denn sie führen nur zu unliebsamen Streitereien« -- meinte 1977 knapp die Hälfte. Auch hier läßt sich im Vergleich zu 1973 (44 Prozent) eine Veränderung feststellen, die mit der innenpolitischen Entwicklung zu tun haben mag.
Die auffallende Konfliktscheu auch unter Jugendlichen wundert nicht mehr, wenn Ergebnisse von Untersuchungen über politische Einstellungen von Lehrern bekanntwerden. Da wird eine apolitische Mentalität sichtbar, die sich kaum von dem unkritischen Bewußtsein der Schüler unterscheidet. Die Umfragen ergaben diese Resultate: > Widerstand gegenüber Veränderungen und Reformen im Schulwesen;
* das Vorherrschen von Gemeinschafts- und Gemeinwohlvorstellungen; Konflikte und Machtkämpfe zwischen Interessengruppen sind ihnen vollkommen fremd.
Die Konfliktscheu Jugendlicher wird vollends plausibel auf dem Hintergrund der politisch bedeutsamen Einstellungen, die in den Familien vorherrschen. Ungehorsam ihrer Kinder duldeten noch 1968 Eltern am wenigsten. Der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis hat Deutschland als eine »Hochkultur des Parierens« bezeichnet. Wer aber als Kind nicht ermuntert wurde, seinen Eltern zu widersprechen, wird als Erwachsener ein guter Untertan sein. Ihm gilt die Familie dann als »Urzelle des (Obrigkeits-)Staates«.
Der Konfliktscheu der Deutschen entspricht die Geringschätzung des Kompromisses. »Es ist gefährlich, mit politischen Gegnern einen Kompromiß zu schließen, weil das gewöhnlich zum Verrat an der eigenen Sache führt.« Dieser Meinung stimmten 1969 immerhin 47 Prozent Jugendlicher zu, während 51 Prozent sie ablehnten. Ein schlimmes Ergebnis für eine Parteiendemokratie, deren wichtigste Funktionsvoraussetzung der Kompromiß ist.
Die Verachtung des Kompromisses als faul, Charakter- und Willensschwäche, als Zeichen von Unentschiedenheit hat in Deutschland eine lange Tradition. Sie entspricht der Tradition der Konfliktscheu: Entweder man macht eine Sache ganz so, wie man sie sich selbst vorstellt, oder man läßt die Finger davon. Knoten werden eher zerhauen als umsichtig entflochten. Die Politik des Entweder-Oder gilt als stark, die des Sowohl-Als-auch als schwach. Einsame Entschlüsse, nicht langwierige Verhandlungen und komplizierte Vereinbarungen mit dem Gegner, machen den großen Staatsmann aus. Überhaupt gilt die Tat mehr als das Argument. Wenn der Deutsche an Politik denkt, kommt ihm eher die »handelnde« Exekutive als das »redende« Parlament in den Sinn.
Der Sozialforscher Max Kaase kam 1971 zu dem Schluß, »daß die Bevölkerung der Bundesrepublik bisher in der Tat ein nennenswertes demokratisches Bewußtsein noch nicht entwickelt hat«. Als entscheidenden Grund dafür nahm er die Scheu vor Konflikten an, das absolute Bedürfnis nach Harmonie.
Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die traditionelle Konfliktscheu verstärkt vielmehr das traditionelle Verlangen nach Gemeinschaft und Einigkeit gegenwärtig in bedenklichem Maße. Krisenstimmung und Angst führen bei den Deutschen rasch zu überhöhtem Konsensbedarf. Dieser Konsens stellt sich desto leichter ein, je schneller ein Feindbild bei der Hand ist.
Der Feind zieht alle Ängste und Aggressionen auf sich, schafft Einmütigkeit, jedenfalls in der Abwehr alles Bedrohlichen. Politik bekommt auf diese Weise ein antagonistisches Gesicht, die Unterscheidung von Freund und Feind wird zur grundlegenden politischen Kategorie.
Politik als »Großer Krisenstab«. Mogadischu, der Ernstfall politischen Handelns. Die entschiedene Tat, die das Herz höher schlagen läßt und das Volk eint, im Kampf gegen einen ausgemachten Feind.
Eine solche Auffassung von Politik ist undemokratisch und entspricht dem Bedürfnis des Neandertalers. Im Unterschied zu ihm, der einen hohen Gruppenkonsens brauchte und sich keine Konflikte leisten konnte, mißt sich die Humanität in der Demokratie gerade an der Pluralität verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Wer die Gesellschaft formieren will, gefährdet die Humanität.
Ludwig Erhard hatte in seiner Düsseldorfer Rede 1965 gesagt, unsere Gesellschaft sei »keine Gesellschaft von kämpfenden Gruppen mehr. Sie ist im Begriff, Form zu gewinnen, das heißt, sich zu formieren«.
Wohin hat die Formierung geführt? Zur Ausschließung aller derjenigen Bürger und Gruppen aus dem Verfassungskonsens -- der Volksgemeinschaft -, die den Status quo nicht für der politischen Weisheit letzten Schluß halten.
Hierher gehört auch das CDU/CSU-Wahlkampfmotto »Freiheit statt/oder Sozialismus«. 65 Prozent der Bevölkerung gefiel im Mai 1976 der Slogan nicht; zwölf Prozent mochten ihn. Selbst die Mehrheit der CDU/CSU-Anhänger (63 Prozent) lehnte ihn ab.
Wie gefährlich solche Polarisierungsstrategien langfristig dennoch sind, zeigt ein gleichzeitiger Befund, den die Antworten auf eine leicht abgewandelte Frage lieferten: »Um noch einmal auf das Thema »Freiheit und Sozialismus« zurückzukommen: Sind Sie der Meinung, daß es bei uns in der Bundesrepublik auf lange Sicht um die Entscheidung zwischen Freiheit und Sozialismus geht, oder sind Sie nicht dieser Meinung?«
40 Prozent waren dieser Meinung -- während nur 23 Prozent meinten, bei der Bundestagswahl spielte diese Alternative keine Rolle. Die Zahl derer, die sie für irrelevant hielten, sank von 51 Prozent (im Blick auf die Bundestagswahl) auf 36 Prozent -- »auf lange Sicht«.
Polarisierung kann auch ohne Rückgriff auf sachliche Gegensätze erzeugt werden. Kein Wunder, daß dann das parteipolitische Spektrum optisch weiter auseinanderklafft, als es der Wirklichkeit entspricht. Im nächsten Heft
Familie, Schule, Beruf -- wie die Deutschen zu Demokraten erzogen werden