DAS SPIEL IST AUS - ARTHUR NEBE
28. Fortsetzung
Der neue Unterschlupf, ein im Jugendstil erbautes Steinhaus, liegt romantisch unmittelbar am Motzensee, dem Dorfe Motzen gegenüber. Fast 100 Meter entfernt läuft die Töpchiner Chaussee vorüber. Zwischen der Gartenpforte und dem Haus erstreckt sich breit ein wildverwachsener Park mit hohen Bäumen und dichtem Buschwerk.
Nur ein Zimmer gibt es im Hause, von dem aus die Gartenpforte eingesehen werden kann, die Veranda am Hauseingang. An die eine Seite des Grundstückes grenzt der Motzener Dorffriedhof an, zur anderen dehnt sich eine große ungepflegte und unbebaute Parzelle.
Mit dem Einzug Arthur Nebes in das stille Motzener Landhaus wird die Veranda zum Beobachtungsplatz. Er wird von nun an ständig von Nebe selbst oder einem der Hausbewohner besetzt gehalten. Niemand kann sich dem Haus nähern, ohne daß rechtzeitig Alarm gegeben wird.
Zwei Tage lang wissen die Hausbewohner außer dem Ehepaar Frick nicht, was mit dem neuen Hausgast los ist. Zunächst munkeln sie, es handele sich um einen geflohenen Russen. Dann kommen die Fricks auf den Gedanken, Nebes Haar, das lang und wirr ist, tiefschwarz zu färben.
Nach dieser Prozedur könnte der SS-Gruppenführer in Räuberzivil mit seinem Schnurrbart und seinem werdenden Vollbart für einen Juden durchgehen. Als jüdischer Mischling wird er den Hausgenossen unter dem Namen Dr. Nolte bekannt gemacht.
Der Aenne Heß und der Lilo Walzer enthüllt man das Nebesche Inkognito schon am dritten Tage. Von beiden ist kaum Gefahr für Nebe zu erwarten, so scheint es.
Der erste Kriegsrat in Motzen erörtert den Plan, Nebes Spur endgültig zu verwischen. Die große blonde Aenne Heß, Jahrgang 1896, die seit Jahren von ihrem jüdischen Ehemann geschieden ist und die mit Lilo Walzer das Zimmer teilt, macht den entscheidenden Vorschlag: Der Selbstmord am Großen Wannsee wird in allen Einzelheiten geplant und vorbereitet. Arthur Nebe schreibt den Abschiedsbrief des verzweifelten und gehetzten Kripochefs an Werner im Salon des Frickschen Landhauses.
Früh am 5. August fahren Walter Frick und Aenne Heß nach Berlin. Ihre Fahrt in das Berliner Büro des Kaufmanns Frick in der Tempelherrenstraße geht über Wannsee.
Dort, nur einige hundert Meter vom Polizei-Erholungsheim entfernt, stellen sie Nebes Koffer mit seinen Ausweisen und Briefschaften auf einer Buhne im dichten Schilfdickicht ab und werfen den Brief an Werner in den nächsten Briefkasten.
Walter Frick trifft sich einige Tage später im dichten Menschengewühl am Bahnhof Zoo mit Heide Gobbin. Die Kriminalkommissarin ist aber schlecht informiert. »Sie haben deine Leiche vergebens gesucht. Alle Stationen der Wasser-Schutzpolizei haben Befehl, auf abgetriebene Leichen erhöhte Aufmerksamkeit zu richten«, meldet Frick dem Arthur.
Daß der Chef aller Kommissare einen entscheidenden Fehler beging, als er die gewählte Todesart allzu ausführlich schilderte, bleibt in Motzen verborgen. Eine unter Wasser zur Explosion gebrachte geballte Ladung müßte auch alles Wassergetier im weiten Umkreis durch Platzen der Schwimmblasen töten. Tote Fische hatte Wehner aber nirgends gefunden.
Der Wannsee-Selbstmord ließ die Ermittlungen in Stapo-Hände gleiten und ließ die bereits eingeschlafene Personenfahndung wieder aufleben. Lobbes Geständnis am 14. August machte aus dem Verschwinden Nebes den staatspolizeilichen Fall Nebe.
In Berlin-Weißensee sind die Ermittlungen nach Nebe weiterhin auf dem toten Punkt. Piffrader hat zwar den Ehrgeiz, Nebe zu fangen, aber er tut selber nichts dazu. Er überläßt alle Ermittlungen den Kripobeamten seiner Kommission. Weder Karlchen Schulz, noch Wehner, noch Zach, noch die übrigen Beamten des Reichskriminalpolizeiamtes zeigen aber Lust, ihren Chef ernsthaft zu finden.
Als Stapo-Müller Piffrader den Befehl gibt, eine neue Durchsuchungsaktion bei allen Intimen des Kripochefs durch Beamte des Gestapa durchzuführen, wehren die Kripo-Leute ab: Das sei eine Diffamierung der Beamten, aus denen die Piffradersche Kommission besteht.
Die Beamten der Piffrader-Kommission erschrecken, wenn Zeugen so tun, als könnten sie eine Spur aufzeigen. Karlchen Schulz spricht des öfteren mit Heide Gobbin. Im Kameradenkreis erörtert er das Landhaus in Motzen als möglichen Aufenthaltsort. Er schrickt zusammen, als eine Spur eingeht, die auf Walter Frick als einen Freund Nebes hinweist. Kriminalrat Zach fährt mit einem Beamten nach Motzen.
Es ist der Tag nach Lobbes' Festnahme, der 15. August. Um 19 Uhr ist die Veranda im Frickschen Landhaus nicht mehr besetzt. Walter Frick und Arthur Nebe jäten Unkraut. Sie sehen die beiden Zivilisten nicht, die an der Gartenpforte klingeln.
Else Frick ist in der Küche bei der Zubereitung des Abendessens. Als sie den langen Weg zur Gartenpforte entlanggeht, sieht sie die beiden Fremden. Instinktiv ahnt sie: Polizei.
»Wir möchten den Kaufmann Walter Frick sprechen.« Die Hausfrau hat den Schlüssel zur Pforte nicht bei sich. Laut ruft sie in den Garten: »Walter, hier wollen dich zwei Herren sprechen.«
»Aber Elschen, der Schlüssel hängt doch im Briefkasten«, ruft es zurück. Else Frick öffnet und läßt die beiden Herren ein. Arthur Nebe hat das Manöver sofort begriffen. Er springt über die Friedhofsmauer und versteckt sich hinter Grabsteinen.
Die Beamten sprechen erst mit Walter Frick, dann mit seiner Frau. Beide haben von ihrem Freund Nebe schon lange nichts mehr gehört.
Man solle sie verständigen, wenn Arthur Nebe in Motzen erscheine, geben sich die beiden Beamten, wie Else Frick heute zu berichten weiß, »erstaunlich schnell zufrieden.« Sie durchsuchen nicht, sie vernehmen die übrigen Hausbewohner nicht.
»Das war die Kripo. Die hat also nichts festgestellt. Den nächsten Besuch bekommen wir von der Stapo. Die wird gründlicher sein«, sagt Nebe. Er ist Hans Lobbes herzlich dankbar. Er weiß nicht, daß auch Lobbes längst eingesperrt ist.
Aber Zachs Besuch in Motzen ist für Nebe und alle übrigen Hausbewohner doch eine ernste Warnung, eine Vorwarnung für den nun unweigerlich kommenden Stapobesuch. Längst war Nebe sorgloser geworden, unheimlich sorglos sogar, wie Else Frick heute berichtet.
Nur mit Mühe läßt er sich davon zurückhalten, tagsüber im Garten zu arbeiten. »Sie sind hier längst nicht mehr sicher genug, Herr Nebe. Sie sind hier schon von allen möglichen Leuten gesehen worden. Sie müssen am Tage wieder verschwinden, dürfen nur noch in der Nacht zum Essen kommen. Wir müssen alle so tun, als ob sie hier wieder weg seien«, überredet ihn Aenne Heß.
Unter den geschickten Händen der aus Berlin evakuierten Kosmetikerin Daisy Windsor haben sich Nebes weißgraue Haare längst in ein gepflegtes tiefes Schwarz verwandelt, und der ebenfalls tiefschwarz gefärbte Spitzbart ist prächtig gediehen.
»Sie sehen direkt gemein aus«, hatte Aenne Heß gesagt, als sich Nebe in seiner neuartigen Aufmachung vorgestellt hat »Unmöglich«, hat auch Else Frick ihr Urteil gesprochen.
»Wenn dieser komische schwarze Bart bleibt, sprechen wir nicht mehr mit Ihnen«, drohen die Frauen. Arthur Nebe, dessen leicht entflammbares Herz unter so viel Fürsorge bereits wieder entflammt ist, nimmt den mühelos gezüchteten Bart ab.
Aber er beherzigt auch die Warnung. Else Frick hatte die Genehmigung des Dr. med. dent. Kuhfeld eingeholt, daß sich der Flüchtling auf dessen entfernter gelegenem Seegrundstück verbergen darf. In Fricks »Einer mit« rudert Nebe über den See und verbirgt sich im Bootsschuppen.
Zwölf Stunden später ist Arthur Nebe wieder im Frickschen Landhaus, völlig zerschlagen. »Das mache ich nie wieder, lieber stelle ich mich«, klagt er. Der Schuppen komme ihm schon wie eine Gefängniszelle vor.
Der halbe Tag allein jenseits des Sees hat Nebe so zermürbt, daß der Plan, ihn den ganzen Tag über versteckt zu halten, in seinem eigenen und aller Interesse aufgegeben werden muß. Alleingelassen, ist Nebe selbst die personifizierte Gefahr.
Von nun an sitzt er vom ersten Morgengrauen bis zur späten Dämmerung in der Veranda und beobachtet die Gartenpforte. Erst dann verläßt er seinen Posten und macht sich im Garten Arbeit oder hilft bei der Pflege der 200 Biber, die Else Frick züchtet.
Wieder wird Kriegsrat gehalten. Von allen Frauen im Frickschen Landhaus ist Aenne Heß jetzt die um Nebe Besorgteste.
Gegenüber dem Dienstboteneingang an der rechten Hausseite im Souterrain haben die Fricks zu Beginn des Krieges einen überdeckten Splittergraben gebaut. Jetzt gräbt Nebe dort an einem Unterstand. Er wird um Nachfahren der Gebrüder Saß.
Unter einer Treppenstufe, die in den Splittergraben führt, hebt er einen übermannshohen Trichter aus und stützt ihn nach allen Regeln der Kunst ab. Kunstvoll bastelt er eine unsichtbare Belüftung, so daß ein Mensch in dem Trichter hocken kann, auch wenn die obere Oeffnung durch die wiederaufgesetzte Treppenstufe vollständig geschlossen wird.
Nach wochenlanger Arbeit ist ein ausgezeichnetes Versteck für Nebe fertig. Lilo Walzer und Arthur Nebe probieren mitsammen aus, wie lange man in dem Loch aushalten kann. Lilo rindet es zwar unbequem, verschwindet aber für 24 Stunden vom Erdboden.
Arthur Nebe hält es nicht länger als zwei Stunden aus. Sobald der Deckel über ihm zugemacht ist, vergeht er vor Angst. »Ich kann das einfach nicht aushalten«, schreit er überreizt und muß wieder herausgelassen werden. Trotzdem, für den Ernstfall bleibt Nebe nichts anderes übrig, als in der Erdhöhle zu verschwinden. Sie wird verproviantiert.
Alle Versuche, Nebe zu sichern, scheitern an seiner Angst. Es war geplant, von dem Unterschlupf aus einen Stollen zu graben, der auf dem Friedhof enden sollte. Die Arbeit scheitert an Nebes »Ich kann das nicht aushalten«.
Der Kripochef ist kein Saß. Die Brüder kannten keine Angst. Nebe kriegt schon das Zittern, wenn er daran denkt, er müsse einige Stunden allein in einem Erdloch warten, bis eine Gefahr vorüber ist.
Unter den Frauen im Landhaus am Motzensee hat Arthur Nebe inzwischen seine Wahl getroffen. Er sitzt oft stundenlang mit Aenne Heß zusammen und findet in ihr eine Vertraute zur Ausführung aller möglichen Aufträge.
Der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof stellte später, am 23. März 1945 (Aktenzeichen OJ 15/45 gRs.), fest: »Zwischen Aenne Heß und Nebe bahnten sich alsbald intime Beziehungen an. Diese führten dann sehr schnell auch dazu, daß Nebe sie über den wahren Sachverhalt eingehend unterrichtete. Er offenbarte sich ihr gegenüber als ein unverhohlener Gegner des Nationalsozialismus, der mit den Folgen des Führerattentates und eines Regierungssturzes einverstanden gewesen sei. Die Heß entnahm daraus, daß Nebe irgendwie etwas mit den Ereignissen des 20. Juli 1944 zu tun habe. Dies hinderte sie nicht, ihre Freundschaft mit Nebe fortzusetzen.«
Daß Nebe der Aenne Heß oft von seinen Verbindungen mit dem Leiter der Londoner Kriminalpolizei erzählt, steht in der Anklage nicht. »In der Schweiz liegt schon Geld für mich«, sagt Nebe einmal, und dann: »Wenn meine Freunde in England wüßten, daß ich hier wäre, würden sie ein Wasserflugzeug schicken, um mich zu befreien.«
Ein Wasserflugzeug. Oder fünfzehn Panzer. Oder ein U-Boot. Eine ganze Kyffhäuser-Legende um Arthur Nebe sproß aus diesen vagen Gesprächsfetzen. Unabhängig voneinander berichteten englische und amerikanische Intelligence-Offiziere nach Kriegsende deutschen Freunden, einander widersprechend:
* Nebe habe während des Krieges in ständiger direkter Nachrichtenverbindung mit dem englischen Geheimdienst in London gestanden, einmal über einen direkten Telefondraht, dann über eine geheime Funkstation.
Das ist ein Märchen, ein technisch ganz unsinniges dazu.
* Nebe habe seinen Freunden in Scotland Yard davon Kenntnis gegeben, er befinde sich an einem mecklenburgischen See und warte auf Abholung. Als das englische Wasserflugzeug dann planmäßig erschienen sei, habe man von Nebe keine Spur mehr entdecken können.
Das ist eine amerikanische Erfindung made in Germany unter Verwechslung aller in Frage kommenden Lokalitäten.
* Nebe habe den Engländern bei Aachen durch Funk davon Nachricht gegeben, er befinde sich wenige Kilometer von der Front entfernt in einer Ortschaft und warte auf Entsatz. Fünfzehn englische Panzer brachen durch und nahmen den Ort, fanden aber kein menschliches Wesen mehr vor.
Das ist eine Legende, mit Wahrheit angereichert. Eines Tages erschien bei den Engländern die um den Hürtgen-Wald herum operierten, ein deutscher Ueberläufer. Er überbrachte einen Zettel, auf dem zu lesen stand:
I am here in ... (der Name der Ortschaft ist nicht mehr erhalten). The Nazi's are of my bloods. Come quickly, help me, pick me up.
(Ort)
Arthur Nebe
Daß wirklich Nebe diese Botschaft abgesandt hat, ist möglich, aber äußerst unwahrscheinlich. Immerhin, er war in Not, und unsinnige Ideen hatte er schon in vernünftigem Zustand. Jedenfalls wissen die Hausgenossen einschließlich der Aenne Heß nichts von derlei Botschaften.
Es kann sich also auch um eine Mystifikation oder um einen Irrtum handeln. Der Wisch wurde nämlich von dem Truppenführer, der ihn in die Hände bekam, nicht weiter beachtet. Er wußte nichts von Arthur Nebe und gab die Meldung nicht weiter.
Dabei war Nebe damals für die Engländer eine Figur, in der Wichtigkeit nur eine Kategorie unter Rudolf Heß. Das zeigte sich nach dem Krieg, als sie eigens eine Kommission zusammenstellten, um ihn zu finden. Es ging da überwiegend um das Verbrechen von Stalag Luft III.
Fest steht nunmehr:
* Nebe hat durch Aenne Heß Erkundigungen nach einem ihm befreundeten Flieger anstellen lassen, die Adresse aber nicht ausfindig machen können. Aenne Heß hat auf eigene Faust einen ihr befreundeten Luftwaffenmajor Blanck nach einer Fluchtmöglichkeit ins Ausland gefragt, ist aber abschlägig beschieden worden.
* Nebe hat dreimal Fluchtfühler über befreundete Kriminalpolizeien auch Schwedens (Söderman) nach England ausgestreckt, aber so vage und so wenig entschieden, daß es der traditionellen Sturheit Englands gegenüber prominenten deutschen Ueberläufern nicht bedurfte, die Fühler zu ignorieren.
Daß er »kurz nach dem 20. Juli« eine Botschaft in das Hauptquartier der Londoner Polizei gelangen ließ, stand in dem Bericht der englischen Nebe-Such-Kommission nach dem Krieg, ist aber unglaubhaft. Er hätte dies in den Tagen vom 21. bis zum 23. Juli tun müssen, und gerade da war es unmöglich.
Die dritte, angeblich noch spätere Botschaft ist ganz und gar obskur. Wie Nebe Fühler dieser Art ausgestreckt hat, zeigt das Zeugnis seines Adjutanten Maisch, der behauptet: Nebe habe mit ihm vor Beginn des Krieges über Fluchtpläne nach Holland gesprochen. Maisch habe schon Pässe gehabt, um Verbindungen zu Freundinnen seiner Frau in Holland aufzunehmen. Aber Nebe habe nur so weit mitgespielt, bis man hätte aktiv werden müssen. Dann sei er abgesprungen.
Dies mit allem Vorbehalt, aber so war Nebe. Er hielt sich gern ein Hintertürchen offen, solange er gewiß war, daß er nie dazu kommen werde, es zu benutzen. Wenn der Engländer mit einem Wasserflugzeug auf dem Motzensee niedergegangen wäre - man hätte nicht sicher sein können, daß Arthur Nebe eingestiegen wäre. Er hatte zu große Angst.
In Berlin ist Müller mit den Erfolgen der Piffrader-Kommission ganz unzufrieden. Sie hat komplett versagt. Nicht einen einzigen Anhaltspunkt hat sie gewonnen, der auf Nebes Aufenthalt hinzielen könnte.
Müller entzieht Piffrader die Nebe-Kommission und schiebt ihn als Kommandanten des Stabsquartiers der Geheimen Staatspolizei nach Wulkow ab. Dort befand sich die Ausweichstelle des schwer zerbombten Gestapa.
Oberregierungs- und Kriminalrat Lischka übernimmt die Bildung der fünften Nebe-Kommission. Es ist die erste reine Stapo-Kommission, die ihr Quartier in der Prinz-Albrecht-Straße hat. Karlchen Schulz und Wehner müssen sämtliche Unterlagen bei Müller und Lischka vorlegen und erläutern.
Doch bevor Müller die beiden Wernerschen Kriminalbeamten endgültig entläßt, hat er noch einen Sonderauftrag für sie.
»Denken Sie nicht, daß ich inzwischen untätig geblieben bin, um Freund Nebe zu finden«, sagt er grinsend zu Schulz und Wehner. »Nebe hat Verbindungen mit der Schweiz aufgenommen. Meine Männer haben festgestellt, daß er sich im Gutsschloß Wudicke verborgen hält.«
Der Gedanke lag via Gisevius nahe. In Wudicke bei Rathenow hatte sich die Schweizer Gesandtschaft etabliert, nachdem die alliierten Bombengeschwader über Berlin die exterritorialen Gesandtschaften nicht mehr zu respektieren vermochten.
Wehner erhält den Auftrag, die Müllerschen Feststellungen in Wudicke zu bestätigen. Er fragt: »Und was ist, wenn ich feststelle, daß sich Nebe tatsächlich in Wudicke aufhält?«
»Dann werde ich Ihren Chef mit einer Handvoll SS-Männern herausholen. Der Reichsführer ist einverstanden. Er will lediglich vorher eine absolut genaue Meldung darüber haben, daß sich Nebe tatsächlich im Gutsschloß Wudicke aufhält. Da meine Männer, die ich angesetzt habe, Nebe nicht so genau kennen wie einer von Ihnen, hat der Reichsführer zugestimmt, daß die Bestätigung von einem Beamten des Reichskriminalpolizeiamtes beigebracht wird.« Müller grinst immer noch.
»Verdammte Kiste«, sagt Wehner. Schulz: »Denen ist mittlerweile alles egal. Kurz vor Toresschluß wollen sie wahrscheinlich noch einen zum Gauleiter für die Schweiz ernennen. Aber fahre nur ruhig nach Rathenow und laß mich inzwischen hier machen.«
Zur Hinterlassenschaft der Piffrader-Kommission gehört aber noch der festgenommene Viktor Schulz. Er hatte stets gute Beziehungen in die Schweiz, wo sich seine Frau und seine Kinder regelmäßig aufhielten. »Vielleicht bietet sich eine Möglichkeit, Schulz auf diese Weise loszueisen.«
Das ist ein schwieriges Unterfangen. Wehner wollte Kopkow in der Prinz-Albrecht-Straße sprechen. Im Vorzimmer sitzt ein älterer Herr und wartet darauf, zu Kopkow geführt zu werden. Wehner sieht, daß der Mann Fußfesseln trägt. Wehner ist Mordspezialist und hat nie in seinem Leben Fußfesseln gesehen.
»Wer ist dieser Mann«, fragt Wehner die Vorzimmerdame. »Das ist Goerdeler«, flüstert sie. Im Zimmer ist keine Wache.
Und nun hat Wehner ein Gespräch, das die Rot-Front-Problematik des Putsches noch einmal erschreckend deutlich macht. Durch das Zimmertelefon versichert er sich des Einverständnisses von Kopkow, daß er sich mit Goerdeler unterhalten darf.
Eine Zigarette nimmt der mürbe Mann dankbar an, doch offensichtlich wittert er Gefahr. Wehner muß ihn beruhigen.
Nach einer Weile während sich die beiden Männer über Nebensächlichkeiten unterhalten, fragt Wehner, wie Goerdeler in der rückschauenden Betrachtung zu den Ereignissen des 20. Juli stehe.
Goerdeler gibt sehr bedächtig Auskunft:
»Das Ganze war ein Verzweiflungsakt. Verstehen Sie recht: Ich will nun, nachdem der Versuch eines aktiven Widerstandes zusammengebrochen ist, nichts beschönigen. Eine Exkulpation für mich wäre es ohnehin nicht.
»Aber für mich als Politiker war es natürlich ein Wahnsinn, dem Attentat meine Billigung zu geben. Letztlich habe ich mich dazu entschlossen, als mir Rommel erklärt hat, daß der Krieg für Deutschland mit Sicherheit in dem Augenblick verloren ist, wo es den Anglo-Amekanern gelingt, bei einer Invasion auf dem europäischen Festland Fuß zu fassen. Von dieser für mich authentischen Erklärung bin ich ausgegangen, als ich mich habe treiben lassen.«
Goerdeler ist fast zum Dozenten geworden
»Sehen Sie, ich hatte nur eine Wahl. Der Krieg war selbst für optimistische Heerführer wie Rommel endgültig und unwiderruflich mit dem Gelingen der Invasion verloren. Ein Sturz Hitlers konnte Deutschland mithin Vorteile bringen. Ich hätte sogar mit Sicherheit auf solche Vorteile getippt, wenn sich die Generale der Widerstandsbewegung einig gewesen wären. Daß sie es nicht waren und ich mich dennoch von ihnen habe treiben lassen, ist das Verbrechen, zu dem ich mich bekenne.«
»Wieso waren sich die Putsch-Generale nicht einig?« will Wehner wissen.
»Es gab keine Einigkeit über die Art, wie der Krieg weitergeführt werden sollte. Die einen erhofften sich den besseren Teil, wenn sie mit den Russen gegen die Westmächte weiterkämpfen würden, und die anderen glaubten Deutschlands Heil in umgekehrter Frontrichtung sehen zu müssen.
»Ueber die Herbeiführung eines sofortigen Kriegsschlusses für den Fall des Hitler-Sturzes hatte auch niemand Gewißheit oder auch nur Zusagen. Und darin lag der Verzweiflungsakt: Erst einmal Hitler und das Regime stürzen, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Das weitere hätte erst noch gesucht werden müssen.«
So sprach der Reichskanzler der Verschwörer. Stauffenberg aber, der Stabschef der Verschwörung, wußte, was er wollte. Er hatte den früheren Botschafter in Moskau, Grafen Schulenburg, als Außenminister in der Hinterhand, um »die im Osten gefallene Entscheidung zu respektieren.«
Wehner quartierte sich für einige Tage in Rathenow ein. Als er Verbindung mit den Müllerschen Sonderbeamten aufgenommen hatte, die unter dessen unmittelbarem Befehl die evakuierte Schweizer Gesandtschaft in Wudicke observierten, bekam er gleich gute Laune.
Hoch in den Bäumen hatten sie getarnte Beobachtungsstände errichtet und in dem dichten Strauchwerk entlang der Gutseinzäunung Trampelpfade geschaffen, um möglichst in jedes Zimmer des Schlosses mit ihren Zeiß-Gläsern Einblick zu bekommen. Es war eine romantische Angelegenheit.
Als Wehner mit zwei Stapobeamten die Straße entlanglief und ihnen ein Auto mit Schweizer Kennziffer entgegenkam, sprangen die Stapoleute wie vom Blitz getroffen in den Straßengraben und nahmen volle Deckung. Wehner: »Diese eine Dummheit genügt, um Ihre weitere Aufgabe hier illusorisch zu machen Jeder Schloßeinwohner weiß von jetzt an, daß die Schweizer Gesandtschaft unter Beobachtung steht. Selbst wenn Nebe sich hier aufhalten sollte, feststellen kann das niemand mehr.«
Wehner fand auch nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür daß sich Nebe in Wudicke aufhielt. Aber Müllers Drang, Nebe in seine Hände zu bekommen, war unwiderstehlich. Es blieb die Tatsache daß sich in Wudicke seit einiger Zeit ein Mann aufhielt, dessen äußere Erscheinung der Nebes glich. Am meisten hatten es Müller die grauen Breeches angetan, die dieser Mann tragen sollte Es mußte eine Person gefunden werden, die unverdächtig Zutritt zu den Wudicker-Schweizern finden konnte.
Diese Person hielt Kriminalrat Karlchen Schulz in Fabrikant Viktor Schulz bereit. Viktor Schulz soll auf diese Weise freikommen Müller ist jedes Mittel recht. Nebe zu fangen.
Viktor Schulz erhält unter dem Versprechen seiner Freilassung den Auftrag, das Gutsschloß Wudicke und das Vorwerk Trittsee nach Nebe zu durchsuchen.
Am 10. September ist Viktor Schulz in Wudicke. »Wissen Sie eigentlich, wo sich Nebe aufhält« fragt er den Gesandten ganz offen. Der ist ehrlich verblüfft. »Nebe? - Ich denke, der ist längst in der Schweiz.«
(Schluß folgt.)
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